Fußball-Groundhopper

Her mit der Currywurst!

Ein Tag im Leben eines Fußball-Groundhoppers.

Stefan Hondorf ist abfahrbereit: Turnschuhe, Trainingshose, dazu das rote Trikot des englischen Erstligisten FC Sunderland. Das ist seine Standardkleidung. Zumindest am Wochenende, wenn der 27jährige im kleinen blauen Fiat Punto von der grauen Reihenhaussiedlung in Köln-Deutz zu seinen Fahrten in die Fußballwelt Europas aufbricht. Wenn aus dem verlässlichen Krankenpfleger ein wahnwitziger Fußballreisender wird.

Stefan Hondorf ist Groundhopper, was wörtlich übersetzt so viel wie Stadionspringer heißt. Er fährt in seiner Freizeit kreuz und quer durch Europa, um so viele Fußballspiele wie möglich zu sehen. Pro Jahr kommt Stefan Hondorf auf rund 50 000 Kilometer.

Heute geht's in die Niederlande. BV Emmen gegen BV Veendam heißt die Partie der zweiten Liga, die er sich ausgesucht hat. »Da darf man nicht zu viel erwarten«, erzählt er, als er auf die Autobahn einbiegt. »Hollands zweite Liga bedeutet: niedriges Niveau, aber erstklassige Unterhaltung.«

Stefan Hondorfs Karriere begann am 27. September 1980. Als Sechsjähriger durfte er seinen zwölf Jahre älteren Bruder nach langem Flehen begleiten. Aus dem elterlichen Dorf nahe Altenkirchen im Westerwald ging's per Bahn ins Müngersdorfer Stadion nach Köln. Der 1. FC spielte zwar nur 2:2 gegen Nürnberg, doch Stefan Hondorfs Liebe zu diesem Verein war entbrannt.

Seither hat er kaum ein Spiel des 1. FC verpasst. Zu den Partien fuhr er anfangs häufig mit dem Zug, später ausschließlich mit dem Auto. Aus Unbehagen an der normalen Fanszene, wie er erzählt: »Im Zug triffst du die besoffenen, randalierenden Fußballhalbstarken. Deshalb fahre ich lieber mit dem Wagen, da habe ich meine Ruhe.«

Nach knapp drei Stunden lenkt Stefan seinen Punto auf den Parkplatz 200 Meter vor dem Emmener Stadion. Es ist noch früh, eineinhalb Stunden bis zum Anpfiff sind zu überbrücken. Und der Reporter lernt, dass es nicht schlimm ist, jeglichen Proviant vergessen zu haben. »Eine Holland-Fahrt bedeutet auch: Besuch bei einer meist erstklassigen Frittenbude«, sagt Stefan. »Eine Groundhopper-Faustregel lautet: Je kleiner der Verein, desto besser das Fressangebot.«

So steuert er erst einmal den Imbissstand an, wir nehmen Frikandel Spezial mit Fritten und Majo. »Standard in Holland«, schwärmt Stefan. Sein schönstes kulinarisches Erlebnis hatte er in Deutschland: »Bei Adler Osterfeld, das ist ein Stadtteil von Oberhausen, hab' ich mal 'ne Riesenportion Currywurst mit Fritten und Majo für 2,50 Mark gekriegt. Frag ich mich noch heute, wie die das gemacht haben.«

Zum Groundhopping kam Stefan, weil er die Spiele des 1. FC Köln nicht mehr ertragen konnte. »Wenn ich den FC gucke, ist das für mich purer Stress. Ich rege mich über die Spieler, über den Schiedsrichter auf, bei Niederlagen bricht's mir fast das Herz.« Als ihm das vor Jahren bewusst wurde, begann er »fremdzugehen«. »Ich dachte, es ist nicht gut, wenn ich jedes Mal total fertig aus dem Stadion komme. Also habe ich begonnen, Spiele ohne FC-Beteiligung anzuschauen. Und siehe da: Ich konnte Fußball wieder genießen.«

120 Spiele sieht er jährlich. Vornehmlich in Deutschland und in den Niederlanden, gelegentlich aber auch in Dänemark, Frankreich oder England. Das Hobby nimmt die komplette Freizeit in Anspruch und dazu jede Menge Geld. Seine Frau Stephanie, mit der er seit 1998 verheiratet ist, erträgt's, sagt er: »Sie hätte es schlechter treffen können. Andere rauchen, saufen, gehen in die Kneipe, ich fahre zum Fußball.« Stephanie muss ein Mensch voller Langmut sein, denn Stefan bekennt, dass sogar während der Hochzeitsreise fünf Stadionbesuche auf dem Programm standen: »Schon auf der Hinfahrt ins Allgäu haben wir Halt gemacht und VfR Mannheim gegen SC Weismain angeguckt. Der VfR Mannheim fehlte mir damals noch als einziger in der Regionalliga Süd, die ich damit komplett hatte.«

Groundhopping ist wie so vieles, was mit Fußball zu tun hat, in England entstanden. Ausgehend von Fans, die ihren Lieblingsverein zu Auswärtsfahrten begleiteten, bildete sich vor 30 Jahren eine Szene, die - unabhängig vom jeweiligen Lieblingsverein - Fußballspiele im ganzen Land abklapperte. Ein Verband wurde gegründet, Regeln und Satzungen beschlossen, der legendäre »92-Club« entstand. Dort kann jeder Mitglied werden, der in allen Stadien der 92 englischen Profiteams eine Partie besucht hat.

Für Stefan Hondorf wäre diese Mitgliedschaft die Erfüllung eines schon lange gehegten Traums. Als Fan des englischen Fußballs fährt er ein- bis zweimal im Jahr für mehrere Tage auf die Insel. »Mehr lässt mein Job leider nicht zu«, bedauert er. Bei 30 Urlaubstagen im Jahr will jede Reise genau geplant sein.

Jetzt aber erst einmal Emmen. Stefan kauft für 25 Gulden ein Ticket für die Haupttribüne. Danach geht's direkt ins Stadion, denn er will die Atmosphäre genießen: »Viele Groundhopper interessieren sich gar nicht für das Fußballspiel. Die rasen zum Stadion, gucken ein bisschen, haken das Stadion ab und hetzen zum nächsten Spiel.« Hondorf nimmt sich für jede Partie Zeit: »Ich habe mich vor der Fahrt im Internet über das heutige Spiel informiert. Hab' in der Vereinsgeschichte des BV Emmen gelesen, mir die aktuelle Tabellensituation angesehen. Ich will das Spiel, das ich sehe, auch einordnen können.« Heute empfängt der Tabellendritte Emmen den Tabellenfünften Veendam. Ein Derby, denn die Orte liegen nur 40 Kilometer auseinander. »Ich erwarte mindestens 5 000 Zuschauer.«

Für Hondorf ist jeder Stadionbesuch ein Schritt in eine andere Welt. »Das Stadion, die Mannschaften, die Fans, die Gesänge, ja sogar die Parkplatzordner, das alles ist in meinen Augen ein eigener Mikrokosmos.« Dem man sich nur mit Muße nähern kann: »Ich bin mindestens eine Stunde vor Anpfiff da und bleibe bis zum Schluss. Vor dem Abpfiff zu gehen, das käme für mich nie in Frage.«

30 Minuten vor dem Spielbeginn ist außer den Ordnern kaum jemand da. »Ist normal für Holland. Die kommen immer alle erst ganz kurz vor dem Spiel«, klärt Stefan auf. Tatsächlich drängt sich wenige Minuten vor dem Anpfiff alles durch die Eingangstore, bei Spielbeginn ist das Stadion beinahe voll. Es sind mehr als 7 000 Fans gekommen.

Die Zuschauer feuern die Heimmannschaft an und lassen sich auch von einem 0:2-Rückstand nach nur einer Viertelstunde nicht beirren. Was ihnen in Stefans Wahrnehmung Pluspunkte einbringt: »Das mag ich so am holländischen Fußball. Die Fans pfeifen ihr Team auch nach diesem miesen Beginn nicht aus. Das wäre in Deutschland ganz anders.« In der zweiten Halbzeit hat sich der Optimismus gelohnt. Die Emmener gleichen nicht nur aus, sondern schießen acht Minuten vor Schluss sogar noch den 3:2-Siegtreffer.

Ganz Emmen ist froh, Stefan auch. In den während der Partie fast regungslos ausharrenden Groundhopper kommt mit dem Schlusspfiff Bewegung: »Lass uns jetzt schnell zum Auto gehen.« Er drängt zum Ausgang. Den Autobahnzubringer hat er schnell erreicht. Er zieht eine Tagesbilanz: »Ich bin zufrieden. Schönes Spiel, Eintrittskarte und Wimpel in der Tasche, ich freu mich richtig auf die Rückfahrt.«