Prozess um die Pogrome von Rostock-Lichtenhagen

Gedächtnislücken gefüllt

Im Prozess um die Pogrome in Rostock-Lichtenhagen wurde ein Angeklagter schwer belastet. Eine Aufklärung der Ereignisse ist dennoch nicht zu erwarten.

Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Das weiß ich nicht mehr.« Mit diesen oder ähnlichen Sätzen begannen bislang die meisten Zeugenaussagen. Seit rund zwei Monaten läuft vor dem Schweriner Langericht der Prozess gegen drei Rechte, die an der rassistischen Brandnacht in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 beteiligt gewesen sein sollen. Sie sind des versuchten Mordes und schwerer Brandstiftung angeklagt.

Nichtwissen und Erinnerungslücken - bisher schien es, als ob die Angeklagten noch einmal davonkommen würden. Doch in der vergangenen Woche bestätigte eine Hauptbelastungszeugin einen wesentlichen Teil der Vorwürfe gegen einen der drei Angeklagten.

Die heute 26jährige Yvonne F. erklärte, sie könne sich daran erinnern, dass Andre B. Brandflaschen auf das Sonnenblumenhaus geworfen habe, in dem sich zu dieser Zeit rund 150 Vietnamesen, ein Kamerateam des ZDF, eine Handvoll Unterstützer und der Rostocker Ausländerbeauftragte Wolfgang Richter aufhielten.

Sie bestätigte damit im Kern die Aussagen, die sie während ihrer ersten polizeilichen Vernehmung im September 1992 gemacht hatte und derentwegen die Ermittlungen gegen die drei Angeklagten und weitere Schweriner Rechte überhaupt erst aufgenommen wurden.

An Andre B.s Taten könne sie sich vor allem deshalb erinnern, weil ihr damals ein Video gezeigt worden sei, auf dem sie ihn erkannt habe. Von den beiden anderen Angeklagten, Ronny S. und Enrico P., könne sie jedoch nicht mehr mit Sicherheit sagen, ob sie auch Brandflaschen geworfen hätten. Sicher sei sie sich jedoch, dass alle Beteiligten gewusst hätten, dass sich in dem Plattenbau noch Menschen aufhielten.

Während die Nebenkläger Wolfgang Richter und Nguyen Do Thinh, aber auch die Staatsanwaltschaft eine »Wende« in dem Verfahren sehen, meldeten die Verteidiger Zweifel am Wahrheitsgehalt der Aussagen an. Denn Yvonne F., die damals als 16jährige gemeinsam mit den Rechten am 24. August nach Rostock gefahren war, hatte schon zweimal im Dezember in dem Prozess ausgesagt und dabei behauptet, sich nicht mehr an die Taten der Angeklagten und an ihre früheren Aussagen erinnern zu können. Allerdings hatte sie auch von Einschüchterungsversuchen aus der Umgebung der drei Angeklagten berichtet. So sei sie nach ihren Aussagen von der Polizei mehrfach angegriffen worden.

Yvonne F.s jüngste Aussage machte erneut ein wesentliches Problem des Prozesses deutlich. Dem Gericht liegen nicht alle Filmaufnahmen vor, die während der Brandnacht gemacht wurden. Insbesondere fehlen Videoaufzeichnungen, die das LKA den Zeugen und Verdächtigen 1992 während der ersten Vernehmungen zeigte. Bislang ist es weder dem Vorsitzenden Richter Horst Heydorn noch den anderen Prozessbeteiligten gelungen, den Verbleib dieses Beweismaterials zu klären.

In dieser Frage trug auch die Vernehmung von Jürgen Deckert, der während der dreitägigen rassistischen Angriffe auf die Zentrale Aufnahmestelle für AsylbewerberInnen (Zast) und das Wohnheim der Vietnamesen den Polizeieinsatz geleitet hatte, nichts zur Aufkärung bei.

Stattdessen wiederholte Deckert einmal mehr, er sei als stellvertretender Chef der Polizeidirektion Rostock von seinen Vorgesetzten und den politisch Verantwortlichen des Landes im Stich gelassen worden. Die Polizei und die Sicherheitsbehörden hätten vor den Angriffen keinerlei Informationen über eventuelle Ausschreitungen gehabt, behauptete er.

Deshalb habe er an dem fraglichen Wochenende seinem Stellvertreter lediglich einen ersten Einsatzbefehl hinterlassen und sei dann nach Bremen gefahren. Erst am 23. August, also einen Tag nachdem die Angriffe begonnen hatten, habe er die Einsatzleitung übernommen, allerdings ohne eine Nachbesprechung der schweren Übergriffe, bei denen Steine und auch schon Brandflaschen gegen den Plattenbau geworfen wurden.

Trotz wiederholter Nachfragen konnte Deckert nicht erklären, warum er in den entscheidenden Stunden der Brandnacht vom 24. zum 25. August den Rückzug zweier Hundertschaften der Polizei angeordnet hatte. Ungestört setzten die Angreifer das Sonnenblumenhaus in Brand und hinderten die Feuerwehr am Löschen, während die im Haus eingeschlossenen Menschen sich in letzter Minute über eine Dachluke in ein Nebengebäude retten konnten.

Deckert, der heute an der Polizeifachschule Mecklenburg-Vorpommern den uniformierten Nachwuchs unterrichtet, behauptete zudem, dass die Einsatzleitung zwar von einer Gefährdung der Zast ausgegangen sei, eine Gefährdung der Vietnamesen habe man indes nicht gesehen, da diese »ja in Rostock integriert waren«. Dagegen hat ein anderer Zeuge berichtet, dass am Nachmittag des 24. August unter den Jugendlichen vor dem Sonnenblumenhaus die Parole kursiert habe: »Heute abend machen wir die Fidschis platt.«

Ungeklärt blieb nach Deckerts Aussage auch das Aufklärungsverhalten der Polizei während des Pogroms. Er habe einen »Aufklärungstrupp« von acht Beamten eingesetzt und das sei »ausreichend gewesen«. Zwei Beamte hätten sich während der Angriffe in einem leeren Zimmer in der Zast aufgehalten, musste Deckert einräumen. Während der Brandstunden hätten sich die »zivilen Aufklärer dann einfach davongemacht«. Gründe hierfür könne er nicht nennen, auch habe er bis heute nicht erfahren, was die Beamten von ihrem Beobachtungsposten aus gesehen hätten. Eine Frage, die das Gericht eventuell noch beschäftigen wird, denn die Vertreter der Nebenklage haben nun die Vorladung dieser Polizisten beantragt.

Ein Ende des Prozesses ist frühestens im Februar zu erwarten. Der Nebenkläger Nguyen Do Thinh fürchtet jedoch schon jetzt, dass die ungeklärten Sachverhalte rings um den katastrophalen Polizeieinsatz und das Verhalten der verantwortlichen Polizeibeamten und Politiker wohl nicht mehr aufgeklärt werden. Eine umfassende Aufklärung scheint auch nicht im Sinne von Richter Heydorn zu sein. Er bügelte die Nachfragen der Nebenklägervertreter während der Vernehmung Deckerts brüsk ab: »Wir sind hier kein Untersuchungsausschuss.«