Eine Stadt frisst sich selbst
Über das gelbe Meer von Dalian in der Mandschurei kommend, erreicht meine Fähre nach zwei Tagen mit Schauern und Stürmen die Stadt. Seit Tagen fällt auch in Shanghai monsunartiger Regen. Die Kanalisation kann das ganze Wasser nicht aufnehmen. Während meiner ersten Schritte am Hafen sehe ich Ratten und Müll in den Pfützen schwimmen. Es stinkt nach Rost, Öl und Pisse. Die Wahrnehmung des Stadtgewirrs wird weichgezeichnet. Der Regen lässt Shanghai kleiner erscheinen, die sichtbare Stadt endet zwei Straßen weiter. Ich marschiere unter einer Regenglocke in eine unbekannte Welt.
Nach dem Regen wache ich mit anderer Musik, anderen Gerüchen, anderen Geräuschen auf. Die eindrucksvollen Erzählungen vom »Paris des Ostens« aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts scheinen mir einen Moment lang Wirklichkeit zu sein. Am Bund, dem Ufer des Huangpu-Flusses, recken sich die alten, fast schon mythisch anmutenden Bank- und Handelshäuser in die Höhe. Ihre Silhouetten lassen kaum vermuten, dass Shanghai 50 Jahre im Dornröschenschlaf verbrachte. Und doch hat der Bund seine alte Bedeutung verloren. Zwar steht das Ensemble unter Denkmalschutz, Investoren und ehemals ansässige Handelshäuser zeigen aber kein Interesse, die alte Bundmeile wieder zu nutzen.
Shanghai - Pudong
Mit seinen 14 Millionen Einwohnern erstreckt sich Shanghai über die Altstadt und die ehemaligen ausländischen Konzessionen westlich des Huangpu. Auf der anderen Seite des Flusses liegt Pudong, das bis zum Gelben Meer reicht und teilweise noch in der Planung ist. Hinter dem glanzlosen Namen verbirgt sich Shanghais ehrgeiziger Gegenentwurf zur Kolonialzeit, ein Symbol der Erneuerung Chinas. Wie in anderen Metropolen Asiens sucht man die Möglichkeit der Ausdehnung nicht mehr nur in der Fläche sondern vor allem in der Höhe. Die Forderung nach maximaler Konzentration auf möglichst kleinem Grund strukturiert ganz Shanghai völlig neu.
Die rund 6 400 Quadratkilometer große Stadt wurde in einer sumpfigen Ebene im Delta des Jangtse gebaut. Hier gab es vor 150 Jahren kaum mehr als ein paar Fischerdörfer, in denen damals etwa 2 400 Menschen lebten.
Heute stehe ich staunend vor einigen der höchsten Gebäude der Welt in einer Stadt, die mehr als 3 000 Hochhäuser zählt. Wenn schon 1929 der Ruf, am Bund das höchste Gebäude außerhalb Nordamerikas zu besitzen, der Stadt schmeichelte, wirken die Zahlen, die Shanghai heute bietet, ebenso rekordverdächtig. Shanghais neues Wachstum ist das Ergebnis einer Entwicklung der letzten zehn Jahre.
Die alten Pläne
Der Wunsch, das auf der anderen Flussseite brach liegende Pudong zu einer Wirtschaftszone zu machen, entstand in den achtziger Jahren. Dabei orientierten sich die Planer an einer Idee aus den zwanziger Jahren. Damals wollten nach Autonomie strebende chinesische Intellektuelle das koloniale Shanghai mit einer ökonomisch selbständigen Stadt auf der anderen Seite des Flusses konfrontieren. Ursprünglich war Shanghai eine Schöpfung der Kolonialmächte Frankreich, England und der USA. Nach dem Ersten Weltkrieg wuchs Shanghai rasch zur größten kulturellen und wirtschaftlichen Metropole in Asien heran. Der Glanz der Architektur am Bund prägte das mythische Bild von Shanghai im Westen. Am Ufer des Huangpu entstand eine eigenwillige Mischung der damaligen europäischen und nordamerikanischen Baustile, die durch eigenständige Ansätze moderner chinesischer Architektur ergänzt wurde.
Mit den Bildern vom eindrucksvollen und amüsanten Shanghai war auch das Elend in den rasch wachsenden chinesischen Stadtgebieten verbunden. Den Ausländern galten die Chinesen als billige Arbeitskräfte. Prostitution und Opiumhandel beherrschten die Straßen, Amerikaner und Europäer vergnügten sich in Shanghai. Als »Babylon Asiens« wurde Shanghai schnell zum Symbol für Rausch und Geld, für Sex and Crime. Diese Situation war zwar militärisch gut abgesichert, aber nur kolonialrechtlich legitimiert, und so wuchs der Widerstand der patriotischen und nationalistisch gesinnten chinesischen Intellektuellen. Sie entwickelten die Idee, in Pudong eine ausschließlich chinesische Wirtschaftszone aufzubauen.
Doch dazu kam es nicht. 1937 besetzten japanische Truppen die chinesischen Gebiete, 1941 brachten sie die ausländischen Konzessionen unter ihre Kontrolle. Schließlich endete mit der Revolution und nach der Einnahme der Stadt durch die Volksbefreiungsarmee 1949 die wirtschaftliche Aufschwungphase. Shanghai fiel ökonomisch zurück.
Nach der Revolution
Mao Zedong hatte in Shanghai den Inbegriff des Kolonialsystems und der Konterrevolution ausgemacht. Wie folgenreich diese Anschauung für die Stadt war, kann man an ihrer Entwicklung nach 1949 ablesen. Kaum ein nennenswertes Bauvorhaben wurde realisiert, man scheute Investitionen und die Steuern wurden nicht in die Stadtkasse sondern nach Peking transferiert. Die Stadt verarmte. Die ehemalige Industrie- und Handelsmetropole wurde von Städten wie Hongkong, Singapur oder Bangkok ökonomisch schnell überholt.
Als China in den achtziger Jahren in verschiedenen Städten Sonderwirtschaftszonen einrichtete, in denen marktwirtschaftsähnliche Verhältnisse herrschten, waren diese erfolgreicher als die einstige Weltmetropole. In Shanghai wurde die so genannte sozialistische Marktwirtschaft ab 1990 zugelassen. Man hatte Pudong als geeigneten Ort ausgewählt. Eine fast völlige Befreiung von Steuern und Abgaben, niedrige Löhne und die Möglichkeit zum Pachterwerb boten auch hier beste Bedingungen für ausländische Investoren.
Pudong New Area
Mit einer Fährfahrt für umgerechnet sechs Cent gelange ich in die Sonderwirtschaftszone. Inzwischen verbinden auch Tunnel für Autos und U-Bahnen und zwei riesige Brücken die Stadtteile miteinander. Pudong New Area auf der östlichen Seite des Huangpu umfasst mit dem 17 Quadratkilometer großen Shanghai World Financial Center mittlerweile 520 Quadratkilometer und ist zu einer eigenen Stadt geworden.
1992 wurden renommierte Architekten wie Massimiliano Fuksas, Toyo Ito, Dominique Perrault und Richard Rogers zu einem Wettbewerb eingeladen, um Konzepte für das Shanghai World Financial Center zu entwickeln. Ihre Vorschläge wurden zwar prämiert, doch die Auftraggeber bevorzugten einen eigenen Entwurf, der nur vereinzelte ausländische Planungen vorsieht. Drei über 400 Meter hohe Türme sollen das Bild prägen, gesäumt von Dutzenden kleinerer Türme von 50 bis 250 Meter Höhe. Der vom Chikagoer Büro SOM gebaute Jin Mao Tower (420 Meter) wurde 1998 fertiggestellt. Mitte der neunziger Jahre entstand der Oriental Pearl Tower, Shanghais Fernsehturm, mit 468 Metern das höchste Bauwerk Asiens. Seine futuristisch anmutende Gestalt gilt als Symbol eines neuen China.
Außerhalb des speziell abgeschirmten World Financial Center in Pudong vermischen sich Geschäfts- und Wohnbereiche, es gibt einen Hi-Tech-Park, eine Freihandelszone und den neuen Pudong International Airport. In diesem Teil Shanghais leben nun über drei Millionen Menschen. Noch ist Pudong ein Gemisch aus Baustelle und Glitzerfassade. Ein Hauch von Einsamkeit umgibt schon jetzt allabendlich die Gegend. Dieses Gefühl erinnert an La Defense in Paris, und nicht von ungefähr orientierten sich die Planer von Pudong an dieser westlichen Geschäftsstadt.
Auf dem Jin Mao Tower
Ich will es mir nicht nehmen lassen, einen Blick vom dritthöchsten Gebäude der Welt auf die Stadt zu werfen. Vielleicht, so hoffe ich, begreift man aus solch einer Höhe die Relationen dieser Stadt etwas besser. Im Fahrstuhl des Jin Mao Tower erläutert die Begleitung, dass der Besucher in nur 30 Sekunden zum 28. Stock befördert wird. Mit einem leichten Druck auf den Ohren verlasse ich die Kanzel und schaue nun aus etwa 400 Metern Höhe auf das Panorama der Stadt. An 250 Tagen im Jahr herrscht in Shanghai schlechte Sicht. Ich kann nur zwei oder drei Meilen weit schauen. Wer sich wegen der dunstigen Aussicht langweilt, kann auf den Infotafeln die Flugzeit einer Ente nach Los Angeles erfahren, Postkarten schreiben und in den Briefkasten werfen oder einen Spielzeugwolkenkratzer kaufen.
Beim Blick auf den seit 70 Jahren unveränderten Bund begreife ich seine Funktion als Kristallisationspunkt. Von seinem Mythos, seiner Größe und einstigen Bedeutung geht der Anstoß aus, diese Stadt so vollständig umzuformen, um ihre einstige Bedeutung zurückzuerobern. Der Blick vom Riesenturm hinab auf die winzig erscheinende Spur des alten Shanghai entlang des Flusses lässt ahnen, wie hoch die Protagonisten des neuen China die heutige Stadt gemessen haben wollen. Dieser Turm hat mehr Bruttogeschossfläche als alle alten Handelshäuser am Bund zusammen.
Diese Symbolik zeigt aber auch, wie bewusst die Stadt ihr Gedächtnis auslöscht. So wie aus dieser Höhe die chinesische Altstadt kaum noch zu erkennen ist, verschwinden täglich ihre Viertel. Das ist der Preis, den Shanghai bereitwillig für seine Erneuerung zahlt. Man kann von hier oben bereits die Leerstellen erkennen. Großflächige Schuttareale auf dem Gebiet der ehemaligen Altstadt werden für die Bebauung mit neuen Türmen und Shoppingmalls vorbereitet.
Recycling in der Altstadt
Auf der Nanjing Road, einer der wichtigsten Einkaufsstraßen Shanghais, schieben drei Wanderarbeiter einen vielleicht zehn Meter langen Betonmast auf einem alten Karren. Die drei schwitzen und rücken sich immer wieder die gelben Helme aus dem Gesicht. Busse und Taxen fahren hupend an ihnen vorbei, und sie haben Mühe, ihr Gefährt zu manövrieren. An jeder Kreuzung warten sie, es ist ein Balanceakt. Die drei Männer schieben den tonnenschweren Mast wohl noch bis zum Stadtrand, um ihn dort auf irgendeinem Schuttplatz in seine Einzelteile zu zerlegen. Oder sie werden ihn verkaufen. Material oder Baureste transportierende Arbeiter sind ein gewöhnliches Bild. Ebenso die weitläufigen Schuttareale, auf denen vorher Wohnsiedlungen standen. Der anfallende Schutt wird zumeist von Hand getrennt, brauchbares Material wird recycelt und der Rest entsorgt.
Wenn die alten Siedlungen entvölkert sind, werden die Häuser abgerissen. Die entstandenen Brachflächen werden mit Mauern abgesperrt. Wenig später ragen neue Wohnblöcke oder Bürohäuser in die Höhe. Unzählige Altstadtbezirke mit den traditionellen Lilonghäuser wurden so abgerissen. Millionen traditioneller Bauten verschwanden allein in den neunziger Jahren.
In den vierziger Jahren lebten ungefähr 80 Prozent der vier Millionen Einwohner in Lilonghäusern. In den achtziger Jahren, als Shanghai sechs Millionen Einwohner hatte, war es noch die Hälfte der Bevölkerung. Heute sind es etwa acht bis zehn Prozent.
Die Lilonghäuser
Die Lilonghäuser kann man sich als Gebäudekomplexe mit kleinen Wegen im Inneren vorstellen. Die größten bestehen aus über 20 Seitengassen mit vier bis fünf Hauptwegen. Lilong sind autonome Wohngebiete, die mit Ladenzeilen oder höheren Mauern umgeben sind. Sie wurden in mehreren Typen entwickelt und zumeist von Investoren errichtet. So baute die britische Regierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Lilongsiedlungen, um die wachsende Bevölkerung und die Immigranten aufzunehmen.
Dabei haben diese traditionellen Häuser trotz ihrer Enge organisch gewachsene Nachbarschaftsverhältnisse hervorgebracht. Hinter den Toren öffnen sich Gassen, die mehrere Wohnhäuser verbinden. Hier wird alles öffentlich: die Wäsche, das Kochen, die Unterhaltung.
Die traditionellen Lilonghäuser waren ursprünglich für einzelne Familien gedacht. Gewöhnlich wird im Erdgeschoss gearbeitet, es gibt eine Aufteilung in Laden oder Büro und einen Schlafverschlag für Angestellte. Oft führt nur eine Leiter in den ersten Stock, wo die Familie lebt. Je nach der Bauart gibt es manchmal ein zweites Geschoss.
Unter Mao Zedong wurde der Wohnraum verstaatlicht und verbilligt. Die niedrigen Mieten galten als Erfolg im Kampf um den Wohlstand für alle. Als Folge davon konnten die Verwaltungen aber kaum Einkünfte verzeichnen, sodass Reparaturen immer seltener wurden und die Häuser verfielen. Gleichzeitig wuchs aber die Bevölkerung so rapide, dass die wenigen Wohnungsbauprogramme den Zuwachs nicht auffangen konnten. Die Folge war, dass Lilonghäuser, die in den vierziger Jahren noch eine einzige Familie beherbergten, in den letzten Jahren mitunter 20 Personen aufnehmen mussten.
Reste sammeln
Seit der Modernisierung in den neunziger Jahren wurden mehr als zwei Quadratkilometer Lilongsiedlungen abgerissen. Der Abriss und die Umsiedlung ist - entgegen den offiziellen Verlautbarungen - nicht ausschließlich im Sinne der ehemaligen Bewohner.
Ihnen werden Ersatzwohnungen in manchmal 30 Kilometern Entfernung angeboten. So zerfällt das soziale Gefüge, weil die Leute von ihren bisherigen Bindungen abgeschnitten werden. Sie können ein Leben in einer Eigentumswohnung wählen, mit Waschmaschine, Warmwasser und Fernseher. Wenn sie bleiben, wie die Ärmsten, die ich hier treffe, werden sie irgendwann entschädigungslos vertrieben.
Die den Sprung in eine der Neubauwohnungen nicht geschafft haben, leben in ärmlichen Hütten auf den alten Plätzen und sammeln jeden Tag Material. Sie vermitteln mir das Gefühl, dass sie das sammeln, was von den alten Häusern übrig geblieben ist. Es ist ihre letzte Aufgabe und ihr Unterhalt. Ich begegne drei Männern, die in der Mittagshitze auf alten Feldbetten ausruhen, tagsüber Schuttberge sortieren, und einer Frau mit Kind, die ihnen Reis kocht. Sie sind die kleinsten Rädchen im Getriebe der Materialumverteilung. Wenn Mauern die alten Wohnbezirke für immer abtrennen, werden sie gegangen sein.
Fazhan shi ying daoli
Die weitläufigen Schuttflächen ehemaliger Lilongsiedlungen sind überall zu finden. Von ihnen aus sind die Türme der Zukunft auf Pudong gut sichtbar. Man sieht sie von jedem Winkel der Stadt, so wie die Kirchen in mittelalterlichen Städten omnipräsent waren. Sie zeigen den Wandel an, der sozial allerdings völlig unterschiedlich verläuft. Reiche Chinesen wohnen längst in anspruchsvollen Enklaven, die Mittelschichten in den Peripheriesiedlungen. Ärmere wandern und pendeln, und sie werden aus Shanghai verschwinden.
Der Jin Mao Turm verspricht einen gesellschaftlichen Umbau, bei dem aber nicht alle Bevölkerungsschichten gleiche Chancen haben. Das ist, wenn man ihn von den Schuttflächen aus betrachtet, seine tägliche Botschaft.
Ich treffe einen ehemaligen Lilongbewohner, der Fahrrad und Handy als seine persönlichen Statussymbole stolz vorweist. Am Revers steckt das Parteiabzeichen. Ich weiß nicht, welcher Arbeit er nachgeht und was er verdient. Aber offensichtlich hat er den Turm und seine Symbolik ganz gut verstanden: »Entwicklung ist ein positives Prinzip« (»Fazhan shi ying daoli«, Deng Tsiao Ping). Dies ist eine der vielen neuen Wahrheiten in China, die auch ihn überzeugt haben müssen.