Gedenken an Massaker

Spektakel des Vergessens

Im März vor 20 Jahren fand die Massakerpolitik der guatemaltekischen Militärs ihren Höhepunkt. Wie eine fragmentierte Gesellschaft mit der Vergangenheit umgeht.

Um Punkt 14 Uhr soll es losgehen, denn die Fahrt in die Provinzhauptstadt Rabinal im gebirgigen Department Baja Verapaz dauert mindestens vier Stunden, und man will vor Einbruch der Dunkelheit ankommen.

Rabinal gehört zu den rund 20 Provinzen in Guatemala, in denen dieses Jahr der 20. Jahrestag einer Serie von Massakern begangen wird. Zwischen Februar und Oktober 1982 überzogen die damaligen Militärregierungen von Lucas Garcia und Rios Montt im Zuge ihres antikommunistischen Aufstandsbekämpfungsprogramms die ländlichen Gegenden nördlich der Hauptstadt mit einer Reihe von Massenmorden. Zehntausende starben.

In den Anklageschriften gegen Lucas Garcia und Rios Montt, die das guatemaltekische Menschenrechtszentrum Caldh bei guatemaltekischen Gerichten einreichten, heißt es, dass in den Departments Huehuetenango, Quiche, Alta Verapaz und Baja Verapaz Ende des Jahres 1982 insgesamt 1,3 Millionen Menschen vertrieben worden sind. Die Vereinten Nationen stufen in ihrem im Februar 1999 veröffentlichten Bericht der Kommission zur historischen Aufklärung (Ceh) diese Politik der verbrannten Erde als rassistisch motivierten Genozid ein und machen die Militärs für 626 Massaker verantwortlich.

Heute leben in Rabinal viele Menschen, die Zeugen der damaligen Massentötungen geworden sind und gegen die damaligen Befehlshaber aussagen sollen. Mit dem einzigen Off-Kulturprojekt in ganz Guatemala fahren wir in das Provinznest mit der mörderischen Geschichte. Das Projekt arbeitet mit Jugendlichen aus den Armenvierteln der Hauptstadt, die immer mal wieder von der Polizei von den Straßen geschossen oder eingeknastet werden, weil sie Tätowierungen und lange Haare haben und als Störenfriede gelten.

Die Idee der Bewohner von Rabinal und der Kulturarbeiter aus der Hauptstadt ist es, mit den Hauptstadtkids in die ehemaligen Massakergebiete zu fahren, um sie mit der Vergangenheit des Landes zu konfrontieren. Ausgesprochen feierlich soll es nach dem Willen der Initiatoren nicht zugehen, statt katholischer Messen und Trauerrituale gibt es Performances und Workshops.

Dass das Thema, um das es geht, zwanzig Jahre später keine Brisanz mehr hat, kann nicht behauptet werden. Gerade in diesen Tagen mehren sich wieder die Drohungen und Repressionen gegen Menschenrechtsorganisationen und Zeugen sowie gegen Staatsanwälte, die gegen die beiden Militärdiktatoren ermitteln. Die Prozesse schleppen sich dahin, was kein Wunder ist, denn einer der beiden Hauptverantwortlichen für die großen Massaker ist heute Präsident des Kongresses. Einige der Bedrohten sind bereits ins Exil gegangen, andere sind ermordet aufgefunden worden. So liefert Guatemala in diesen Tagen auch ein Beispiel für die gelungene Verdrängung der jüngsten Geschichte und für die Kontinuität einer Kultur der Angst und der Gewalt.

Comparsa und Sozialarbeit

Es ist schon nach halb zwei. Wir sind spät dran und nehmen ein Taxi zum Treffpunkt vor dem imposanten Gebäude im Kolonialstil, das nach der Privatisierung der guatemaltekischen Post jahrelang fast völlig leerstand. Vor etwas mehr als einem Jahr konnte eine Gruppe junger Künstler der Hauptstadtverwaltung mehrere Räume abtrotzen, in denen nun Workshops für Jugendliche aus den Armenvierteln am Rande der ständig anwachsenden Trikont-Metropole Guatemala-Stadt stattfinden. So entstand das bisher einzige Off-Kulturprojekt für Jugendliche in Guatemala, die Caja Ludica.

Das Taxi kriecht durch die völlig verstopften Straßen der chaotischen und versmogten Stadt, schließlich kommen wir aber doch pünktlich vor der alten Post an. Der für die Fahrt nach Rabinal angemietete Chicken-Bus ist schon da, der Motor läuft, und auf dem Dach stapeln sich bereits riesige Blechtrommeln, selbstgebastelte Stelzen und überdimensionierte Schmetterlingsflügel aus Draht, Tüll und Pailletten. Die etwa 30 Jugendlichen der Caja Ludica, die an diesem Wochenende mit nach Rabinal fahren, kleiden sich im Stil von schwäbischen Vorort-HipHop-Bands. Mit von der Partie ist ein untersetzter Mann in den Vierzigern mit einem beeindruckenden Vokuhila, der mit seinem Handy gegen Funklöcher kämpft. Er ist ein Mayapriester. Über Telefon kontaktiert er die Kunden, die seine spirituellen Dienstleistungen in Anspruch nehmen wollen. Der Busfahrer lässt sich in aller Ruhe auf der Straße vor der alten Post die Schuhe putzen.

So bleibt uns Zeit, mit Julia Escobar zu sprechen, einer der Koordinatorinnen der Caja Ludica. Bevor sie nach Guatemala kam, trat sie in Kolumbien mit einem Straßentheater auf. »Die Situation dort ist der in Guatemala sehr ähnlich«, sagt sie. »Die jahrzehntelangen internen bewaffneten Konflikte haben zur Militarisierung der Gesellschaft geführt und eine Kultur des Schweigens, der Angst, des Misstrauens, der Gewalt und des Vergessens geschaffen. Unsere Vision besteht darin, den öffentlichen Raum mit kreativen Ideen wieder zu erobern und neue Formen der öffentlichen Kommunikation und der Kollektivkunst zu schaffen.«

Zunächst sind sie in die marginalisierten Zonen der Hauptstadt gegangen und haben für die Jugendlichen Workshops angeboten, Oral History, Straßentheater oder Comparsa. Die Comparsa gehört zur lateinamerikanischen Variante des Karnevals und enthält Elemente der sozialkritischen Parodie, des Spektakels und der Akrobatik.

»Die Situation der Kinder und Jugendlichen in den Armutsvierteln ist von sozialer Exklusion, Repression und Perspektivlosigkeit geprägt«, sagt Julia. Eine der vielen sozialen Folgen des 36 Jahre währenden Bürgerkrieges, der im Dezember 1996 offiziell beendet wurde, sei das Entstehen einer sozialen Parallelstruktur gewesen. Damit sind die so genannten Maras gemeint, Banden, die eine Art Jugendmafia bilden. »Sie haben eigene Codes wie Tatoos und Handzeichen, sie gründen eigene Sicherungssyteme für sich und ihr Viertel, nicht nur, um Überfälle zu koordinieren, sondern vor allem auch, um sich vor den Übergriffen der Polizei zu schützen, die regelmäßig soziale Säuberungen gegen sie durchführt«, erklärt José Osorio, der ebenfalls im Caja Ludica arbeitet.

»Allerdings«, schränkt Julia ein, »geht es bei den Maras aus der 18. Zone und der aus El Salvador stammenden Salvatrucha auch um die Sicherung ihrer Territorien. Das sind gewalttätige Machtkämpfe untereinander. Wir versuchen, ihnen andere Perspektiven anzubieten.« Derzeit gibt es vierzig Jugendliche, die regelmäßig in die alte Post kommen und selbst Workshops leiten. »Jetzt sind wir in einer Phase«, erzählt Julia, »wo wir mit den Jugendlichen aus der Hauptstadt in die ländlichen Gegenden des Landes fahren wollen, damit sie die Situation dort kennen lernen, die ebenfalls überwiegend von Armut geprägt ist.«

Die Fahrt nach Rabinal bietet dazu die Gelegenheit. Angefragt, ob sich die Caja Ludica mit ihrem Comparsa-Programm an den Gedenkfeiern in Rabinal beteiligen wolle, hatte die für Rabinal zuständige Ermittlerin des Menschenrechtszentrums Caldh und die lokale Menschenrechtsgruppe Adivima. »Die Jugendlichen waren plötzlich ganz still, als eine Mitarbeiterin von Caldh vor ein paar Tagen zu uns kam, um ihnen etwas über die Geschichte der Gewalt in Rabinal zu erzählen. Die meisten wussten gar nichts«, sagt Julia. Und José meint, dass die Verdrängung der jüngsten Geschichte in diesem Land Programm ist. »In meiner Schule endete der Geschichtsunterricht mit dem Jahr 1944, dem Sturz des Diktators und Hitler-Freundes, Jorge Ubico.«

Typisch Guatemala

Der Busfahrer hupt und lässt den Motor aufheulen. Alle bewegen sich in Richtung Bus. Die meisten Jugendlichen hatten bisher nur selten Gelegenheit, die Hauptstadt mal zu verlassen. Der 18jährige Juan Carlos beispielsweise lebt in einer Siedlung mit dem euphemistischen Namen Paraiso 2 in der berüchtigten 18. Zone. »Es ist überhaupt erst das dritte Mal, dass ich aus Guatemala-Stadt heraus komme«, erzählt er. »Bevor ich mit meinen Eltern vor ein paar Jahren in die 18. Zone gezogen bin, weil mein Vater arbeitslos wurde, haben wir auf dem Land gelebt. Er hat auf einer Kaffeeplantage gearbeitet, und ich musste oft mitgehen. Ansonsten bin ich noch nirgends gewesen.« Von der Geschichte Rabinals hat auch er erst vor ein paar Tagen erfahren. Als wir die Straße nach Rabinal entlangfahren, ist es längst dunkel.

Der nächste Tag ist ein Sonntag, Markttag in Rabinal. Auf dem Platz vor der obligatorischen weiß gekalkten katholischen Kirche im Kolonialstil wimmelt es von Menschen, Gemüseständen, Garküchen und Nutztieren. Vor dem Gemeindezentrum, in dem heute vormittag der Comparsa-Workshop der Caja Ludica für die Kinder und Jugendlichen aus Rabinal stattfinden soll, hat sich bereits die ebenfalls obligatorische Marimba-Combo aufgebaut, fünf Männer mit Cowboyhüten, die auf mehreren Xylophonen spielen. Neben der Kirche und über dem Eingang zum Gemeindezentrum sind Transparente aufgespannt. »Ehre dem Leben und dem Frieden« steht darauf. Dieser Sonntag ist der Auftakt für eine ganze Woche von Veranstaltungen, Messen und Gedenkfeiern zum 20. Jahrestag der Massaker.

Es ist acht Uhr morgens, und wir sind noch etwas verschlafen, als wir das Gemeindezentrum betreten, werden aber sofort wach, denn etwa 200 Kinder und Jugendliche scharen sich bereits um Julia, die ihnen die Grundlagen des lateinamerikanischen Karnevals beibringt. Der gesamte Saal kommt in Bewegung, es ist unglaublich laut. Ein paar Bewohner des Ortes stehen mit skeptischen Gesichtern am Eingang zum Gemeindezentrum und sehen zu, wie sich Kinder in bizarre Schmetterlinge und stelzenlaufende Monster verwandeln. Uns beschleicht ein etwas peinliches Gefühl: Ob dies die geeignete Form ist, den Jahrestag eines Massakers zu begehen? Als sich alle in ihren Kostümen zu einem Zug durch den Ort formieren, leert sich der Markt und die Leute drängen zum Straßenrand, um dem Spektakel zuzusehen oder sich anzuschließen. Der Minikarneval endet dort, wo er begann, vor dem Gemeindezentrum. José ist begeistert: »Dass so viele Leute an so etwas Bizarrem wie der Comparsa teilnehmen, ist für Guatemala völlig untypisch.« Wir schauen ihn verständnislos an.

Am Nachmittag verstehen wir, was das Besondere an der karnevalesken Aktion war. Denn nun beginnen die von den Bewohnern aus Rabinal organisierten kulturellen Aktivitäten, die für Guatemala typisch sind. Das Programm findet auf dem Platz neben der Kirche statt und hat 18 Programmpunkte. Eine junge Frau kündigt sie mit monotoner Stimme an. Als erstes betritt ein etwa 15jähriges Mädchen in weißer Bluse und geblümten Rock die Bühne. Sie ist offenbar die erklärte Dorfschönheit, wie den Reaktionen des Publikums, das auf weißen Plastikstühlen vor der Bühne Platz genommen hat, zu entnehmen ist. Sie singt mit theatralischer Stimme ein seichtes Lied auf »unser Rabinal«. Zum Höhepunkt des Nachmittags gehört die Nachstellung der Massaker von Rio Negro, bei dem allerdings sowohl die Schauspieler als auch das Publikum dauernd laut auflachen. Nur wenige Zuschauer zeigen unbewegte Gesichter. Abgesehen von dieser Darbietung weisen nur die moderierenden Worte eines Lehrers aus Rabinal, der das Ende der fortgesetzten Straffreiheit der Militärs und Entschädigungszahlungen für die Angehörigen der Opfer fordert, auf den traurigen Grund für die Feierlichkeiten an diesem Tag hin.

Aufklärung und Terror

Wir machen uns auf die Suche nach der örtlichen Caldh-Mitarbeiterin, Maria Dolores. Sie führt in der Provinz die Interviews mit den Zeugen der Massaker, die in den gegen die Militärdiktatoren Lucas Garcia und Rios Montt angestrengten Prozessen aussagen sollen. Zwei Stunden später, es ist schon dunkel, und endlich kommt auch der Maya-Priester mit den Handyproblemen auf dem Platz vor der Kirche mit seiner Zeremonie zum Einsatz, findet sie Zeit für uns. Sie erzählt, mit welchen Schwierigkeiten es verbunden war, überhaupt Gedenkfeiern in Rabinal zu organisieren. »Die Leute aus den Dörfern, wie Rio Negro, die direkt von der Politik der verbrannten Erde betroffen waren, gedenken seit Jahren der Massaker, machen Öffentlichkeitsarbeit und kämpfen für Gerechtigkeit und Entschädigung. Aber die Mehrheit der Bewohner der Provinzhauptstädte, wie Rabinal, hat kein Bewusstsein darüber, was hier vor 20 Jahren passierte. Sie sind sehr passiv«, erzählt sie.

Aus diesem Grund habe sie gemeinsam mit der Menschenrechtsgruppe Adivima überlegt, was man dieses Jahr tun könne, um auch die Bewohner in Rabinal einzubinden und die Ereignisse von 1982 ins kollektive Gedächtnis zu bringen. »So sind wir auf die Idee gekommen, die Caja Ludica einzuladen, damit die Leute auf die Straße gehen und wir ihre Aufmerksamkeit bekommen können. Solche Aktionen sind für uns ein Medium, um im öffentlichen Raum vor relativ vielen Menschen von der Vergangenheit sprechen zu können, wie es unser Moderator heute Nachmittag versucht hat. So sieht unsere mühselige Arbeit an der Erinnerung hier aus«, erzählt sie.

Ein anderes Problem sei auch, fährt Maria fort, dass der Bürgermeister von Rabinal, Salvador Sanchez, nicht nur ehemaliger Kommandierender einer paramilitärischen Einheit aus der Gegend, sondern auch Mitglied der regierenden ultrarechten Partei Republikanische Front Guatemala (FRG) ist. Die FRG ist die Partei von Rios Montt, der seit Januar 2000 auch dem guatemaltekischen Kongress vorsitzt. »Die Provinzverwaltung hier hat deshalb natürlich kein Interesse an der Aufklärung der Vergangenheit«, kritisiert sie. »Es gibt im ganzen Land auch keine politische Debatte über die Ereignisse vor 20 Jahren oder eine Kultur des Umgangs mit der Vergangenheit. Gedenkstätten sind äußerst selten.«

In den letzten Wochen hat sich die Politik der Verdrängung vor allem in einer Serie von Todesdrohungen gegen Menschenrechtsorganisationen gezeigt. Am vierten März trat Fredy Peccerelli, der Direktor der anthropologisch-forensischen Stiftung Guatemalas (Fafc) an die Öffentlichkeit. In einer Presseerklärung heißt es, dass elf seiner Mitarbeiter, die seit Jahren an den Exhumierungen ehemals geheimer Massengräber beteiligt sind, schriftliche Todesdrohungen erhalten hätten. Von den bedrohten Personen arbeiten zwei ebenfalls für das anthropologisch-forensische Zentrum Guatemalas (Cafca). Zwei Tage später wurden die beiden Mitarbeiter von Cafca morgens auf dem Weg zur Arbeit von zwei unbekannten vermummten Personen mit Waffen bedroht. Einem der beiden Wissenschaftler wurde das Handy abgenommen. Einen Tag darauf erhielten fünf der elf bedrohten Fafc-Mitarbeiter erneut Todeswarnungen.

Maria Dolores wertet dies als klare Botschaft gegen alle, die an der Aufklärung der Vergangenheit mitarbeiten. »Die unabhängigen forensischen Institute hier in Guatemala arbeiten schon seit zehn Jahren an den Exhumierungen, aber ihre wissenschaftlichen Mitarbeiter sind noch nie mit dem Tode bedroht worden.« Den Grund für die aktuelle Repression gegen Anthropologen und Forensiker sieht Maria darin, dass die Ermittlungen gegen die beiden Militärdiktatoren sehr weit fortgeschritten seien und einer Eröffnung der Prozesse in juristischer Hinsicht eigentlich nicht mehr viel im Wege stehe. Während die Caja Ludica mit einem nächtlichen Auftritt auf dem Platz vor der Kirche beginnt, sagt Maria: »Aber die Situation hier ist zurzeit mehr als beunruhigend.«