Repressalien gegen minderjährige Flüchtlinge in Hamburg

Ich sage dir, wie alt du bist

In Hamburg versucht die Ausländerbehörde, die Aufwendungen für minderjährige Flüchtlinge zu reduzieren.

Ene, mene, miste, es rappelt in der Kiste. Ene, mene, meck und du bist weg. Weg bist du noch lange nicht, sag' mir erst, wie alt du bist!« Ein blödes Spiel: Während deutsche Jugendliche bis zu ihrem 18. Lebensjahr als minderjährig gelten, erreichen ihre Asyl suchenden Altersgenossen per Gesetz bereits mit 16 Jahren das Erwachsenenalter.

Das widerspricht zwar der Uno-Kinderrechtskonvention, doch deren uneingeschränkter Ratifizierung schreckt die Bundesregierung ohnehin seit Jahren zurück. Doch damit nicht genug. Der deutsche Jugendliche darf nämlich nicht nur einige Jahre länger pubertieren bis zur Volljährigkeit, auch bei der Betreuung soll er es besser haben als die jugendlichen Flüchtlinge.

So sehen es jedenfalls die Macher im Hamburger Amt für Jugend vor, die kurz vor Ostern beschließen wollten, die intensive Betreuung hilfsbedürftiger Jugendlicher, zumal Minderjähriger, die ohne ihre Eltern nach Deutschland geflüchtet sind, zu streichen. Allerdings sprengten zwei Dutzend Betreuer minderjähriger Flüchtlinge in der vergangenen Woche die Sitzung im Amt für Jugend. Sie trugen die fachlichen Einwände gegen die geplante Verschlechterung vor und hatten Erfolg. Das Vorhaben wurde auf Eis gelegt - vorerst. Jetzt sollen lediglich rund 100 freie Plätze in den Jugendunterkünften abgebaut werden, ohne die Hilfe für die einzelnen jungen Flüchtlinge zu verschlechtern.

Die Sozialbehörde will nach der Aussage ihres Sprechers, Stefan Marks, mit der Streichung der Intensivbetreuung 1,2 Millionen Euro pro Jahr einsparen. Da weniger Minderjährige nach Hamburg kämen als noch vor einem halben Jahr, müssten auch die Aufnahmekapazitäten verkleinert werden. Warum die Abschaffung von Unterkunftsplätzen damit einhergehen sollte, einzelnen Jugendlichen weniger Unterstützung zukommen zu lassen, das konnte das Amt für Jugend nicht erklären.

Seit Jahren jammern die Stadtoberen, dass das arme Hamburg von überproportional vielen jugendlichen Flüchtlingen heimgesucht werde, und fordern einen finanziellen Ausgleich von anderen Bundesländern. Gleichzeitig setzen die Behörden viel daran, die Jugendlichen aus der Stadt zu bekommen. Zum Beispiel durch Umverteilung in andere Bundesländer, was allerdings nur bei Asyl suchenden Jugendlichen über 16 Jahren möglich ist. Doch seit dem Regierungswechsel im vergangenen Jahr schrumpfte die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge auf wundersame Weise um die Hälfte. Inzwischen sind die Jugendhilfe- und Erstversorgungseinrichtungen nicht mehr ausgelastet.

Das liegt allerdings nicht daran, dass plötzlich weniger Jugendliche vor Krieg und Armut nach Deutschland fliehen. Jeden Tag melden sich junge Flüchtlinge in der Ausländerbehörde, die keine Papiere besitzen. Im Oktober 2001 hat sich, kurz nach dem Antritt der neuen Regierung aus CDU, FDP und der Schill-Partei, die »Projektgruppe Altersfeststellung« gebildet. Hier arbeitet die Ausländerbehörde mit der Polizei, dem Landeskriminalamt, dem Amt für Jugend, dem Institut für Rechtsmedizin und den Justizbehörden zusammen. Ihr Ziel ist es, die Altersfestsetzungen zu verschärfen.

Das Alter der Flüchtlinge wird in der Ausländerbehörde durch »Inaugenscheinnahme« geschätzt. Meist verpassen die Sachbearbeiter und Beamten des Landeskriminalamtes den Jungen und Mädchen ein neues, fiktives Geburtsdatum, das besagt, sie seien älter als 16 Jahre. Die Mitarbeiter der Behörde meinen zu wissen, wie tief die Stimme eines 14jährigen klingt und wie stark der Bart eines 15jährigen wächst. Die Begutachtung, bei der zuweilen auch das Gebiss der Jugendlichen inspiziert wird, dauert selten länger als eine Minute. Die auf diese Weise älter gemachten Mädchen und Jungen werden rigoros in andere Bundesländer umverteilt.

Die Behörde für Inneres hat inzwischen vier neue Posten für eine »Zentralstelle Altersfeststellung« ausgeschrieben. Hier sollen die einschlägigen Vorgänge beschleunigt und die Maßnahmen aller beteiligten Stellen koordiniert werden. Geplant ist ein rechtlich heikler Zugriff auf umfangreiche Daten über die einzelnen jugendlichen Flüchtlinge. Nur seine Pläne, Röntgenuntersuchungen zur Altersfeststellung einzuführen, konnte Innensenator Ronald Schill in der »Projektgruppe Altersfeststellung« bisher nicht durchsetzen.

Die Beweislast wird umgekehrt. Nicht die Behörden müssen nachweisen, dass das angegebene Alter unwahr ist, sondern die Jugendlichen werden gezwungen, das Alter, das auf dem Amt mit fadenscheinigen Kriterien festgesetzt wurde, zu widerlegen. Innerhalb von zehn Tagen nach der »Inaugenscheinnahme« können sie eine ärztliche Schätzung einholen. Seit November gibt es de facto keine freie Arztwahl mehr, denn die älter gemachten Jugendlichen werden ausschließlich in das Institut für Rechtsmedizin geschickt. Dessen Leiter ist Klaus Püschel, der bekannt wurde, weil er mutmaßlichen Dealern Brechmittel verabreicht.

Im Institut soll belegt werden, was sich nicht eindeutig beweisen lässt: das Alter der jeweiligen Person. Es lässt sich nur mit einem Fehlerspielraum von zwei bis drei Jahren angeben, wobei noch größere Abweichungen möglich sind. Auch die Feststellung des Alters durch Röntgenaufnahmen des Kiefers oder der linken Hand - Methoden, die Ärzte nur auf richterliche Anordnung anwenden dürfen - werten viele Mediziner als ungenau.

Nicht zuletzt die Unzuverlässigkeit der medizinischen Altersschätzung war vor zwei Jahren Anlass für einige Rechtsmediziner, Radiologen, Zahnärzte und Anthropologen, die »Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik« zu gründen. Ihr Vorsitzender ist Gunther Geserick, der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Charité in Berlin. Mitglieder sind auch Klaus Püschel und Ute Lockemann vom Institut für Rechtsmedizin in Hamburg.

Die Ärzte wollen »eine Qualitätssicherung der Gutachten erreichen«. Insbesondere soll der »ethnische« Einfluss auf die Skelettreife berücksichtigt werden. Die Auswirkungen von Armut und Krieg spielen dabei keine Rolle. Deshalb verwundert es kaum, dass sich die Literaturrecherche der Arbeitsgemeinschaft zur Skelettreifung auf die »vier ethnischen Hauptgruppen« bezieht. Früher sprach man von Rassen.

Mit einer pseudowissenschaftlichen Argumentation will Hamburg die jugendlichen Flüchlinge loswerden. Sie werden nicht gefragt, wie es das deutsche Kinder- und Jugendhilfegesetz vorsieht, welche Hilfe sie brauchen. Ihre weitere Behandlung richtet sich allein nach ihrem von Behörden festgelegten Lebensalter.