Wiederveröffentlichungen: Musik des jüdischen Kulturbundes

Total Recall

Erstmals liegen die von jüdischen Künstlern während des Nationalsozialismus eingespielten Schallplattenaufnahmen nahezu vollständig vor.

Untersuchungen von Einzelphänomenen, die im Gesamtzusammenhang des Dritten Reiches auftreten, bergen die Gefahr der Geschichtsfälschung, solange sie nicht mit den historischen Zentralvorgängen, insbesondere der Vernichtung der europäischen Juden, in Beziehung gesetzt werden.

Die Tinte der Kapitulationsurkunde war kaum trocken, da erklang erstmals der Ruf nach dem »Schlussstrich« unter die deutsche Vergangenheit. Auch wenn sie nicht dezidiert darauf zielte, die »Leistungen« des Nazi-Regimes, etwa auf ökonomischem Gebiet, hervorzuheben, hat die von den Verbrechen losgelöste Detailforschung Generationen von Historikern bei ihrer Mission gedient, die Deutschen der Legitimität ihres Wunsches nach »Historisierung« und »Differenzierung« des Nationalsozialismus zu versichern. Denn was in die Gesamtheit der deutschen Geschichte eingeordnet und in unschädliche Dosen von Einzelvorgängen zerlegbar ist, kann das nationale Selbstbewusstsein nicht länger erschüttern und steht der nationalen Restauration nicht länger im Wege.

Aber selbst wenn das »Schicksal« der deutschen Juden direkt angesprochen wurde, konnte es noch egozentrisch umgedeutet und für deutschen Weltschmerz produktiv gemacht werden. Eigentliches Opfer des Holocaust, hinter den lapidar konzedierten sechs Millionen ermordeten Juden, war die Kulturnation Deutschland. Von der »Selbstenthauptung des deutschen Geistes« (so der rechte Publizist Hans-Jürgen Eitner) war und ist die Rede. Betrauert wurde die »Entehrung« des deutschen Namens und der Verlust an kreativen Ressourcen für den Kulturstandort. Nicht zuletzt dieses Umlenken des Gedankens an ermordete Menschen in narzisstische Kulturtrauer belegt die Kontinuität jenes antihumanistischen Idealismusí der sich in der musikalisch begleiteten Produktion von Leichenbergen manifestiert hatte.

Der Kulturbund

Im einleitenden Text zu seinem gemeinsam mit Henryk M. Broder herausgegebenen Buch »Premiere und Pogrom« hat Eike Geisel auf das Gefühl der »Frivolität« hingewiesen, das bei der Darstellung jüdischer Kultur im Dritten Reich aufkommen müsse, und die Mindestanforderungen für Detailforschung zum Nationalsozialismus im Allgemeinen und zur jüdischen Kultur im Besonderen in gültige Worte gefasst:

»Wäre, wenn man von der organisierten Vernichtung sprechen muss, von Kunst und Künstlern nicht zuallerletzt zu reden? Denn nicht die Kultur, wie es die feuilletonistische Sicht auf Auschwitz will, wurde ermordet, sondern deren lebendige Voraussetzung. Juden wurden nicht als Künstler, sondern Künstler wurden als Juden drangsaliert und deportiert. Und nicht deren individuelles Schicksal, sondern der anonyme Verwaltungsakt, nicht die abenteuerliche Flucht, sondern der immer gleiche Abtransport gehören zur Wahrheit des Nationalsozialismus.«

»Premiere und Pogrom« hatte die Geschichte des Jüdischen Kulturbundes zum Gegenstand, der von 1933 bis 1941 in Deutschland existierte. In dieser und ausschließlich in dieser Organisation konnte zumindest ein Teil der bald nach der »Machtergreifung« aus den kulturellen Berufen ausgeschlossenen jüdischen »Kulturschaffenden« seiner Profession weiter nachgehen. Jüdische Schauspieler, Musiker, Bühnenbildner, Kostümschneider, Dirigenten, Regisseure und Intendanten wirkten für ein ausschließlich jüdisches Publikum, das ebenfalls vom deutschen Kulturbetrieb ausgeperrt worden war.

Bei ihren Forschungen haben Broder und Geisel in der ganzen Welt recherchiert, zahlreiche Interviews mit überlebenden Mitgliedern des Kulturbundes geführt und historisch wertvolle Relikte wie Programmhefte, Briefe und Fotos zusammengetragen, die später auch in einer Ausstellung der Berliner Akademie der Künste zu sehen waren. Zu diesen Relikten gehörten auch einzelne Schallplatten der Marke Lukraphon, die von Kulturbund-Mitgliedern eingespielt worden waren. Laut Aussage des Musikers Shabtai Petrushka war Lukraphon die Hausmarke des Kulturbundes. Broder musste in »Premiere und Pogrom« jedoch zu seinem Bedauern feststellen, dass es nicht gelungen war, weitere Platten oder Firmendokumente des Labels ausfindig zu machen.

Bei der Berliner Ausstellung über den Kulturbund hatte Broder mit dem international renommierten Spezialisten für historische Schallaufnahmen, Rainer E. Lotz, zusammen gearbeitet. Lotz nahm sich der Sache an und startete ein Forschungsprojekt, um die verschollenen Schallplattenaufnahmen des Jüdischen Kulturbundes zusammenzutragen und zu dokumentieren. Er arbeitete dabei mit seinem langjährigen Partner Horst J. P. Bergmeier zusammen, einem Spezialisten für die Rekonstruktion biografischer Informationen, mit dem er bereits zahlreiche Studien zur Musik- und Schallplattengeschichte veröffentlicht hatte, u. a. »Hitler's Airwaves« zur nationalsozialistischen Rundfunkpropaganda. Dritter im Stab war der israelische Historiker Ejal Jakob Eisler.

Das Ergebnis der Forschungarbeiten wurde vor kurzem der Öffentlichkeit präsentiert: Beim Hambergener Label Bear Family, weltbekannt für seine historische Musikdokumentationen, erschien die Edition »Vorbei ...« / »Beyond Recall«. Darin werden auf elf CDs die von jüdischen Künstlern im nationalsozialistischen Deutschland eingespielten Schallplattenaufnahmen nahezu vollständig dokumentiert. Ein über 500seitiges Begleitbuch schildert die Geschichte der Labels und ihre Produktionsbedingungen, liefert für jedes Stück die Biografie jedes daran beteiligten Künstlers, zeichnet die Geschichte des Jüdischen Kulturbundes und seines politischen Umfeldes in aller Ausführlichkeit nach und informiert nicht zuletzt über die Charakteristika der jüdischen Lithurgie und des jüdischen Betens. Schließlich enthält die Box eine DVD mit einem ebenfalls verloren geglaubten zionistischen Propagandafilm, der aus einem unsortierten Haufen von Outtakes rekonstruiert werden konnte.

In nur drei Jahren haben Lotz und seine Mitarbeiter dieses eigentlich unmögliche Projekt verwirklicht. Die Lagerbestände der jüdischen Plattenfirmen wurden nach deren Schließung eingestampft, ebenso die von Immigranten in aller Regel zurückgelassenen Exemplare, vom Eigentum der Deportierten ganz zu schweigen. Die Schallplatten galten somit größtenteils als verschollen, und die Fahndung nach ihnen nahm teilweise abenteuerliche Formen an. Während seines Wehrdienstes konnte Ejal Eisler in buchstäblich letzter Minute einen Schwung Platten aus einem Abrisshaus retten, bevor die Bulldozer es dem Erdboden gleich machten. Unter diesen Platten befanden sich einige, die nun auf der »Vorbei«-Edition zu hören sind, und die Originale sind bis heute die einzigen bekannten Exemplare ihrer Art. Viele der Unikate waren überdies in miserablem Zustand oder lagen nur noch in Form von Scherben vor. Die Aufnahmen mussten mit aufwändigen technischen Verfahren restauriert werden.

Das Geschäft mit diesen Platten wurde während des Dritten Reiches von drei Kleinunternehmen betrieben, von denen zwei in Deutschland ansässig waren, eines in Palästina: das Spezial-Radio-Haus Lukra mit ihrer Marke Lukraphon und die Hebräische Buchhandlung Hirsch Lewin mit seiner Marke Semer, beide in Berlin, sowie die Firma Achwah in Tel Aviv mit ihren Marken Achwa und Bema.

Obwohl alle Marken sich an ein jüdisches Publikum wandten, gab es erhebliche Unterschiede hinsichtlich Repertoire und Zielgruppe. Der Lukraphon-Katalog war universell ausgerichtet und bot ein breites Stilspektrum, das von jiddischen und zionistischen Stücken über europäische Klassik bis zu Chansons und Tanzmusik reichte. Nicht offiziell, aber faktisch war Lukraphon die Marke des Jüdischen Kulturbundes. Auf Semer dagegen, dem Ableger einer religiösen Buchhandlung, erschienen ausschließlich volkstümliche hebräische und jiddische Lieder sowie kantorale Gesänge. Die Platten der Firma Achwah schließlich wurden für den palästinensischen Markt und die jüdische Diaspora produziert, somit bestand das Repertoire vorwiegend aus zionistischen Liedern.

Die Geschichte dieser Schallplattenlabels ist untrennbar verknüpft mit der des Jüdischen Kulturbundes, denn die Musiker, die diese Platten einspielten, mussten Mitglieder dieser Vereinigung sein, um ihren Beruf ausüben zu können.

Ein Künstlerghetto entsteht

Der Jüdische Kulturbund war ein Kulturghetto, ein Zwangsbetrieb zur Identitätsbildung der Juden in Deutschland. Jüdische »Kulturschaffende« boten einem rein jüdischen Publikum, dem der Besuch der etablierten Häuser nicht mehr gestattet war, ein zunehmend von jüdischen Autoren bestimmtes Programm - all dies unter dem Schutz und mit der Förderung der NS-Kulturpolitik. Dieser diente die Zwangsvereinigung in mehrfacher Weise: Zumindest ein Teil der Entlassenen blieb beschäftigt und fiel der Wohlfahrt nicht zur Last; dem Ausland konnte ein florierendes jüdisches Kulturleben präsentiert werden; die von Terror und Zwangsmaßnahmen betroffenen Juden fanden ein geistiges und emotionales Refugium. Darüber hinaus aber sollte der Kulturbund dem Zweck dienen, deutsche und jüdische Kultur voneinander zu separieren. Da es keine jüdischen Deutschen oder deutsche Juden mehr geben sollte, sondern nur noch Juden und Deutsche, sollten sich die Juden auf ihre »arteigene« Identität besinnen. Und zur Identität eines »Volkes« gehört Kultur bekanntlich in besonderem Maße.

Eine spezifisch jüdische Kultur gab es in Deutschland aufgrund der jahrhundertelangen Assimilation jedoch nur mehr in traditionellen Restbeständen. So bot der Kulturbund nach seiner Gründung im Sommer 1933 zunächst ein bürgerlich-deutsches Programm. Lessing und Beethoven wurden in ausverkauften Häusern aufgeführt; Darbietungen religiösen oder folkloristischen Inhalts stießen dagegen beim Publikum auf Desinteresse. Die nationalsozialistischen Zensoren, von denen jede Veranstaltung, jeder Text genehmigt werden musste, begannen jedoch bald nach Inkrafttreten der »Rassegesetze«, das Repertoire von »arischen« Bestandteilen zu säubern. Die Juden sollten Jüdisches aufführen. »Es ist nicht der Zweck der Übung, inhaltlich deutsche Kulturbünde mit jüdischen Mitgliedern aufzuziehen. Vielmehr soll dem Judentum Gelegenheit zur Entfaltung in den eigenen geistigen und schöpferischen Grenzen gegeben werden. Sollte diese Entfaltung dem Juden zu dürftig sein, dann wird er es besser verstehen, warum wir ihn nicht als Herrn und Meister über unser Kulturleben haben wollen«, schrieb Hans Hinkel, der die Organisation nach Art eines feudalistischen Lehnsherrn beaufsichtigte, in der Frankfurter Zeitung.

Wie in solchen Aussagen deutlich wird, verschleierten auch die mit dem Kulturbund in direktem Kontakt stehenden NS-Funktionäre kaum, dass sie die Objekte ihrer »Betreuung« gerade auch kulturell als »Artfremde«, »Volksschädlinge« und »rassisch Minderwertige« ansahen. Zur Erniedrigung, die die Einrichtung des Kulturghettos ohnehin bedeutete, kamen Zensur und Überwachung, kamen Herablassung und Verhöhnung aus dem Büro Hinkel.

Angesichts dieser Situation wirkt es rückblickend grotesk, wenn die Leitung des Kulturbundes den Zwang zum jüdischen Repertoire offenbar nicht nur als Demütigung begriff, sondern in der Zusammendrängung die Chance sah, die verlorene jüdische Identität wiederzugewinnen. Eike Geisel schreibt: »Das Nebeneinander von Kultur und Kontrolle nährte bei vielen leitenden Mitarbeitern die Illusion, es wäre auf Dauer eine Koexistenz der Nazis und der von diesen entrechteten Menschen möglich, ein Gedanke, der am schärfsten ausgeprägt war in der Vorstellung vom 'Jüdischen Staatstheater im Dritten Reich'; dieses wiederum sollte die Anstalt sein, in welcher jüdische im Gegensatz zur deutschen Kultur nicht nur gepflegt, sondern überhaupt erst erschaffen werden musste. In diesem bizarren Schlussstadium der deutsch-jüdischen Symbiose versuchten die jüdischen Kulturfunktionäre, aus jeder Not eine Tugend zu machen.«

Selbstverständlich gab es auch Stimmen, die sich von Anfang an gegen die Ghettoisierung wendeten. Mit Verachtung verfolgte Kurt Tucholsky aus dem Exil das Wirken des Kulturbundes: »Sie spielen in streng geschlossenen Theatern, isoliert wie Leprakranke, und ich höre bis hierher: 'Jetzt werden wir ihnen mal zeigen, dass wir das bessere Theater haben!' Sie hören nichts. Sie sehen nichts. Sie merken nichts.«

So klingt die Erinnerung

Mit dieser Organisation also waren die Interpreten verbunden, die jetzt in der Edition zu hören sind: Männer des Glaubens wie der Oberkantor Boas Bischofswerder, sehr weltliche Chanteusen wie Dora Gerson, der Startenor Richard Tauber oder ein Multitalent wie der Orchesterleiter und Jazztrompeter Shabtai Petrushka. Die Rettung der Aufnahmen des Jüdischen Kulturbundes bedeutete auch, die Geschichte einiger bedeutender Musiker vor dem Vergessen zu bewahren. Im Fall des Violinisten Andreas Weißgerber war dieses Vergessen bereits eingetreten. Bereits im Kindesalter als Wundergeiger um die Welt gereist, hatte Weißgerber in den zwanziger Jahren zahlreiche Schallplatten aufgenommen und galt als internationaler Star. Im Frühjahr 1935 nahm der Virtuose vier Titel für Lukraphon auf, bevor er ein Jahr später nach Palästina emigrierte. Dort konnte er jedoch nicht an seine Erfolge anknüpfen, er starb 1941. Trotz seines einstigen Weltruhms taucht der Name Andreas Weißgerber heute in keinem Künstlerlexikon oder Fachbuch auf, seine biografischen Daten waren bislang nicht bekannt.

Stilistisch dominieren auf »Vorbei« die kantoralen Gesänge, deren teilweise ungeheure Intensität auch den in der jüdischen Lithurgie Unbedarften beeindrucken sowie die teils hebräisch teils jiddisch gesungenen folkloristischen Lieder. Moderne Musik ist deutlich seltener zu hören, Schlager, Couplets und Foxtrotts waren nur bei Lukraphon und auch dort keineswegs führend vertreten. Und so bekommt der Popmusikfreund doppelt lange Ohren, wenn in »Doda«, dem ersten hebräischen Swing-Foxtrott, die heiße Trompete Shabtai Petrushkas erklingt.

Wegen der Judaisierung ihres Repertoires und der sinkenden Kaufkraft der Kunden versandete der Markt für jüdische Schallplatten in Deutschland relativ bald nach dem Erlass der Nürnberger »Rassegesetze«. Die Einstellung der Labels Lukraphon, Semer und Bema erfolgte 1936 bzw. 1937, Achwa war bereits 1934 gescheitert.

Die Pogrome vom 9. November 1938 waren auch für den Jüdischen Kulturbund der Anfang vom Ende. Absurd war der Umstand, dass eine SS-Wache das Berliner Kulturbund-Theater auf Anordnung des Propagandaministeriums vor der Zerstörung durch marodierende SA-Trupps beschützte. Als einzige jüdische Einrichtung musste das Theater tags darauf seinen Spielbetrieb wieder aufnehmen, um einen Anflug jüdischer Kontinuität zu suggerieren. Gegeben wurde der Studentenschwank »Regen und Wind«. Danach flüchteten die meisten Kulturbund-Mitglieder, darunter die Leiter und Stars, ins Ausland - und fielen nach der deutschen Besetzung ihrer Fluchtländer oftmals ihren Verfolgern in die Hände. Ein Rumpfensemble setzte den Betrieb fort, bis der Jüdische Kulturbund am 11.9.1941 verboten wurde. Vier Wochen später begannen die Deportationen.

Die CD-Edition »Vorbei ...« ist eine durch beispiellose Akribie und Sorgfalt, durch überbordende Material- und Informationsfülle imponierende dokumentarische Arbeit. Fast noch verdienstvoller ist jedoch, dass hier eine mit aller Detailversessenheit betriebene historische Einzelforschung deutlich und in aller Ausführlichkeit in den Zusammenhang der NS-Politik gestellt wird. Einer Loslösung vom historischen Zentralvorgang des Holocaust wurde in dieser Arbeit in vieler Hinsicht entgegengewirkt.

»Vorbei... - Dokumentation jüdischen Musiklebens in Berlin 1933 - 1938« / «Beyond Recall - A Record of Jewish musical life in Nazi Berlin 1933 - 1938«. Elf CDs, eine DVD, Begleitbuch. Bear Family Records