Gescheiterter Putschversuch

Das Intermezzo der Putschisten

Die venezolanischen Militärs sind an der Entmachtung des Präsidenten Hugo Chávez vorläufig gescheitert. Nach 48 Stunden wurde der Interimspräsident Carmona wieder abgesetzt.

Präsident Hugo Chávez habe sein Amt niedergelegt, verkündete am Freitag um drei Uhr in der Frühe General Lucas Rincón, der oberste Kommandeur der venezolanischen Streitkräfte. Unter dem Eindruck der Ausschreitungen während einer Großdemonstration gegen die linkspopulistische Regierung Chávez, an der am Donnerstag zwischen 100 000 und 500 000 Menschen teilgenommen haben sollen, und eines dreitägigen Generalstreiks forderten zehn Generäle den Vorsitzenden des Unternehmerverbandes Fedecámaras, Pedro Carmona, zur Machtübernahme auf - ein klassischer militärischer Staatsstreich. Am Freitagnachmittag wurde Carmona als Interimspräsident vereidigt. Kurz darauf löste er das Parlament auf, anullierte die unter Chávez verabschiedete Verfassung und kündigte Neuwahlen innerhalb von 365 Tagen an.

Er sollte keine 48 Stunden an der Macht bleiben. Bereits am Samstagabend füllten Menschenmassen nahezu alle Hauptverkehrsadern in Caracas und anderen Städten Venezuelas, um gegen den Sturz Chávez' zu demonstrieren, wobei es zu erneuten Ausschreitungen kam. Daraufhin forderten die putschenden Militärs den Interimspräsidenten auf, die blitzschnell erlassenen anti-chávistischen Dekrete zu modifizieren. Carmona setzte das Parlament wieder ein, doch noch in der Nacht zum Sonntag trat er zurück.

Chávez, der von den Militärs festgehalten wurde, kam kurz darauf frei. Nach Angaben der venezolanischen Botschaft in Kuba gegenüber BBC-World hatten ihm ergebene Militärs ein Ultimatum zu seiner Freilassung gestellt. Sein Vizepräsident Diosdado Cabello, der mittlerweile die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung verkündet hatte, übergab unter dem Applaus 200 000 vor dem Präsidentenpalast feiernden Venezolanern Chávez sein altes Amt. Im Übrigen rief Cabello die Bevölkerung dazu auf, die Straßen nicht zu verlassen und die Demonstrationen friedlich fortzuführen. In einer »Rede an die Nation« sandte Chávez einen Gruß an die internationalen Medien und Organisationen und erklärte, Venezuela »werde nie wieder allein dastehen«. Zudem kündigte er an, nicht mit Repression gegen seine Opponenten vorzugehen. Dem sich angeblich in Haft befindenden Carmona droht jedoch möglicherweise ein Verfahren wegen unrechtmäßiger Übernahme staatlicher Funktionen.

Auslöser des putschistischen Intermezzos waren Schüsse, die am Donnerstag auf der Großdemonstration in Caracas gefallen waren und mindestens 15 Demonstranten getötet und 350 verletzt hatten. Daraufhin wechselten einige ranghohe Militärs zur Opposition. Sie könnten angesichts der Gewalt nicht mehr länger hinter Chávez stehen. Dem übergelaufenen Admiral Héctor Ramírez Pérez zufolge ist die Armee von Chávez benutzt worden, um »eine friedliche Demonstration zu unterdrücken«.

Ein Großteil der Medien übernahm diese Version. Die Tageszeitung El Universal spekulierte gar über »in Kuba ausgebildete Scharfschützen«. Die Regierungen der USA und Spaniens erklärten gemeinsam nach Carmonas Machtübernahme am Freitag ihre Unterstützung für Venezuela und wünschten sich nach Angaben der konservativen spanischen Tageszeitung La Razon schnellstmöglich eine »vollständige demokratische Normalisierung«. Die Länder der Rio-Gruppe, darunter Peru, Costa Rica und Chile, hingegen verurteilten BBC-World zufolge die »Unterbrechung der verfassungsmäßigen Ordnung«, Kuba wandte sich gegen das »konterrevolutionäre Komplott«; die EU, Frankreich und Russland gaben sich neutral und bekundeten nur ihre Hoffnung auf ein baldiges Ende der Krise.

Tags darauf wurde offenbar, dass zumindest ein Teil der Schüsse auf etwa 5 000 Chávez-Anhänger abgegefeuert worden war. Die städtischen Polizisten in Zivil, die diese Schüsse abgegeben hatten, unterstanden dem Befehl des Putschisten und Bezirksbürgermeisters von Caracas, Alfredo Peña.

Im Nachhinein stellte sich der »Rücktritt« des Präsidenten Chávez als ein Staatsstreich der Militärs heraus. Die von BBC-World verbreitete Rücktrittserklärung hatte er nie unterzeichnet. Auch eine öffentliche persönliche Erklärung hatte Chávez nicht abgegeben. Bereits am Freitag hatte seine Tochter Maria Gabriela seinen Rücktritt dementiert. In einem Telefongespräch habe er sich als »Präsident in Gefangenschaft« bezeichnet, er sei »nicht zurückgetreten«; vielmehr habe eine »Diktatur der extremen Rechten« die Macht übernommen.

Der Oberbürgermeister von Caracas, Freddy Bernal, ließ nach Chávez' Rückkehr mehrere private Sender besetzen. Der venezolanische Botschafter in Havanna erklärte der BBC, diese Medien seien Komplizen des Komplotts. »Es ist unglaublich, welche Lügen diese Medien verbreitet haben«, meinte er und fügte hinzu: »Sie machten glauben, es seien ihre Toten gewesen, während es in Wahrheit unsere Leute waren.« Bereits während der Großdemonstration am Donnerstag hatte Chávez die Schließung von sechs privaten Sendeanstalten angeordnet, die die Ausschreitungen live übertragen hatten, was zur Eskalation beitrug.

Organisatoren der Proteste vom Donnerstag waren der Unternehmerverband Fedecámaras, der von dem Sozialdemokraten Carlos Ortega angeführte Gewerkschaftsverband CTV sowie entlassene Manager des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA. Zuvor hatte Chávez die Spitze des Konzerns mit regierungstreuen Leuten besetzt, um die Kontrolle über den wichtigsten Wirtschaftssektor zu bekommen.

Seit Dezember waren die Konflikte in Venezuela nicht mehr abgerissen; in jenem Monat kündigten die Regierung Chávez und das Parlament 49 Gesetze an. Sie enthalten u.a. eine Landreform zugunsten der Kleinbauern und die Einschränkung ungenutzten privaten Großgrundbesitzes (Jungle World, 10/02). Die Ursache der Konfrontationen ist vor allem die ungleiche Verteilung des Reichtums. Im Januar war unter dem Titel »Die Geburt der Konterrevolution« im britischen Economist zu lesen: »Im Hinblick auf die Ökonomie war die 'Revolution' Chávez' bisher in der Rhetorik stärker als in der Aktion. Jetzt nicht mehr.«

Die Anti-Chávez-Bewegung ist überwiegend eine Mischung aus Großunternehmern, Gewerkschaftern und Resten der alten Parteienelite. Bisher genoss Chávez, der 1998 mit knapp 60 Prozent der Stimmen gewählt wurde, große Unterstützung insbesondere bei der armen Bevölkerung und den unteren Schichten.

Die Opposition, deren Parteien Demokratische Aktion und Copei (Christdemokraten) nach insgesamt sieben spektakulären Wahlsiegen Chávez' ihrer parlamentarischen Macht weitgehend beraubt waren, artikulierte sich durch den Unternehmerverband Fedecámaras. Sein Präsident Pedro Carmona, einer der Architekten des nunmehr gescheiterten Regierungssturzes, machte am 10. Dezember auf sich aufmerksam, als er zusammen mit dem mafiös strukturierten Gewerkschaftsverband CTV und dessen Präsidenten Carlos Ortega den ersten Generalstreik in Venezuela seit 50 Jahren organisierte.

In den vergangenen Monaten wuchsen die Proteste an. Zum Unmut über die Reformen kamen Chávez' populistische Äußerungen. Im Ausland, insbesondere in der US-Regierung, schadeten ihm seine Kritik am Krieg in Afghanistan und seine Sympathien für die Farc-Guerilla in Kolumbien sowie für Kuba.

Als Chávez Anfang April zwei Manager des Erdölkonzerns PDVSA entließ, setzte die Oligarchie zue Attacke auf ihn an. Am Dienstag letzter Woche begann ein weiterer Generalstreik des Bündnisses. Er wurde begleitet von einer Kampagne eines Großteils der Fernsehsender und Zeitungen, was zusammen mit den Massenprotesten am Donnerstag zur Eskalation und schließlich zum »Rücktritt« von Chávez führte. Die Massendemonstrationen sollten für den Putsch benutzt werden.

Mit den erzwungenen Amtsenthebungen der von Chávez so unterschiedlichen lateinamerikanischen Präsidenten der letzten zwei Jahre - in Argentien, Peru und Ecuador - hatte der jetzige Umsturz eines gemeinsam: Er verlief relativ unblutig. Die Leichtigkeit, mit der heutzutage gewählte Präsidenten aus dem Amt gejagt werden können, verleitete den venzolanischen Sozialwissenschaftler Moisés Naim am Samstag gegenüber El País zu einer Bemerkung, die sich kurz darauf bewahrheiten sollte: »Ein Putsch ist heute auch nicht mehr das, was er einmal war.«