Neuer Prozess zur Entschädigung der NS-Opfer

Im Zweifel für Deutschland

In Griechenland hat ein weiterer Prozess zur Entschädigung der NS-Opfer begonnen.

Der Sitzungssaal war überfüllt und selbst auf den Gängen standen noch Menschen, als am Mittwoch der vergangenen Woche das Oberste Sondergericht Griechenlands im so genannten Lidoriki-Verfahren zu seinem ersten Sitzungstag zusammenkam. In dem Prozess geht es genau wie in dem Fall des Dorfes Distomo um deutsche Entschädigungszahlungen an griechische NS-Opfer. Der Oberste Gerichtshof Griechenlands (Areopag) hatte im Mai 2000 rechtskräftig festgelegt, dass die Ankläger das Recht haben, vor griechischen Gerichten gegen die Bundesrepublik Deutschland zu klagen. Und es verurteilte die Bundesrepublik Deutschland zur Zahlung einer Entschädigung von 28 Millionen Euro. Entscheidet das Sondergericht gegen die NS-Opfer, dann ist damit auch das Distomo-Urteil hinfällig.

Der Vorsitzende Richter des Areopag-Senats, Stephanos Matthias, der das Urteil zu Distomo in letzter Instanz fällen musste, war mit der Entscheidung nicht einverstanden gewesen. Er war damals überstimmt worden und setzte sich fortan im Sinne der Bundesrepublik Deutschland für die Aufhebung des Urteils ein. Dabei griff Matthias auf eine außergewöhnliche juristische Konstruktion zurück, indem er für den Lidoriki-Prozess den gemeinsamen Senat aller griechischen Obergerichte einberief.

Ungewöhnlich ist das deshalb, weil dieser eigentlich nur zusammentritt, wenn zwischen zwei Obergerichten eine unterschiedliche Rechtsauffassung besteht. Die Vorteile für Matthias liegen auf der Hand. Das Gericht ist jetzt personell anders zusammengesetzt als beim Distomo-Verfahren, aber er hat auch in diesem Prozess den Vorsitz inne. Da mit dem Urteil weit reichende Konsequenzen verbunden sind, hatten die Anwälte der NS-Opfer vor dem Prozess beantragt, den Richter vom Vorsitz auszuschließen, weil er das Verfahren unzulässig beeinflusst habe. Ohne Erfolg.

Wie der Hamburger Arbeitskreis Distomo berichtet, griff der Anwalt der NS-Opfer, Jannis Stamoulis, in seinem Plädoyer die Vorgehensweise von Matthias scharf an. Er sah in ihr sogar einen Verfassungsbruch, da die Voraussetzungen für die Einberufung dieses Gerichts nicht gegeben seien. Darüber hinaus bezweifelte er, dass eine Immunität des deutschen Staates gegenüber der griechischen Justiz bestehe, worauf sich Deutschland immer wieder beruft. Auf jeden Fall könne man sich nicht bei Verbrechen an der Menschheit auf die Staatsimmunität berufen, so seine Argumentation. Der Gerichtssprecher deutete dagegen an, dass dem Gericht die Zuständigkeit zuerkannt wird und in der Sache zugunsten der Bundesrepublik entschieden werde könnte. Ob er wirklich die Meinung der Mehrheit der zwölf Richter zum Ausdruck gebracht hat, sei dahingestellt. Denn sie gaben noch keine Erklärung ab. Wann das Urteil gefällt wird, ist ebenfalls offen.

Vor der Urteilsverkündung wird vom Zivilsenat des Areopag Mitte Mai erneut über die Rechtmäßigkeit der Pfändung und der Versteigerung verschiedener deutscher Liegenschaften in Griechenland wie des Goethe-Instituts verhandelt werden. Und in dem Verfahren am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg, das ebenfalls der Rechtsanwalt Stamoulis angestrengt hat, um die Anerkennung des Distomo-Urteils von der Bundesregierung zu erzwingen und die griechische Regierung zur Beseitigung der Hindernisse für die Zwangsvollstreckung zu veranlassen, liegen mittlerweile die Stellungnahmen der Beklagten vor. Ein Termin für den Urteilsspruch ist aber bisher nicht festgelegt worden. Auch die Schriftsätze sind noch nicht verfügbar. Aber die griechische Regierung wird vermutlich versuchen, sich den Forderungen der griechischen Opfergruppen nicht entgegenzustellen, andererseits wird sie es vermeiden wollen, sich gegen die Bundesregierung durchsetzen zu müssen.

Denn das ist ihr schon kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht gelungen, obwohl der internationale Druck auf Deutschland damals noch viel größer war. In einem vom Bundesfinanzministerium in den achtziger Jahren veranlassten Rückblick werden die Proteste der Opferverbände und »ihr Einfluss auf die öffentliche Meinung und die Regierungen ihrer Länder« hervorgehoben. Über die damalige Situation in Frankreich heißt es, »die ständige Agitation« der politisch sehr einflussreichen Verbände und die von ihnen aufgerüttelte Öffentlichkeit hätten die französische Regierung immer wieder genötigt, die Bundesregierung zur Lösung des Problems aufzufordern. Speziell bei den Verhandlungen mit Griechenland wird beklagt, dass »alle nur in Betracht kommenden deutschen Stellen und Personen mit einer Flut von Protesten und Forderungen überschüttet« wurden.

Die westdeutsche Bevölkerung unterstützte dagegen die Verweigerungshaltung ihrer Regierung. Eindringlich wurde ein angemessener Ausgleich für alle Deutschen gefordert, die Opfer völkerrechtswidriger Maßnahmen der Alliierten geworden seien. Nicht zuletzt dank dieser Geschlossenheit der deutschen Gesellschaft gelang es der Bundesregierung, ihre damaligen Ziele zu erreichen. Eine geplante internationale Konferenz »als Schaubühne für eine Diffamierung der Bundesrepublik« - so die deutsche Einschätzung - konnte verhindert werden.

In bilateralen Verhandlungen mit den einzelnen Regierungen konnte die deutsche Seite dann deren Forderungen abwenden. Dementsprechend lautet ein zynisches Fazit zum Verlauf der Gespräche mit Griechenland: »Die tiefe Enttäuschung, die sich auf griechischer Seite ob dieses Gangs der Verhandlungen zeigte, zwang zu ihrer Unterbrechung.«

Und die deutsche Regierung könnte mit ihrer Verweigerung weiterhin Erfolg haben. So kommt die Initiative einiger griechischer Parlamentsabgeordneter, die Ratifizierung des europäischen Abkommens zur Staatenimmunität durchzuführen (Jungle World, 50/01), im Moment nicht voran. Zwar ist der Vorschlag im Parlament verhandelt worden, die Entscheidung wurde jedoch vertagt.

Der Versuch einiger Gruppen, sich mit den wenigen deutschen Politikern zu verständigen, die zumindest über bescheidene Angebote an Griechenland nachdenken, um so auf parlamentarischem Weg voranzukommen, hilft in dieser Situation nicht weiter. Denn weder werden solche Positionen der historischen Verpflichtung Deutschlands gerecht, noch lässt es die Würde der Opfer zu, dass sie mit einer städtischen Badeanstalt oder kostenlosen Deutschkursen abgefertigt werden. Diese »Lösungen« widersprechen der grundsätzlichen entschädigungspolitischen Bedeutung der Kontroverse. Geht es doch bei der Vollstreckung des Distomo-Urteils darum, einen Schlussstrich nicht zuzulassen.