Beisetzung von Euthanasie-Opfern

Töten und forschen

In Wien werden in dieser Woche die letzten Leichenteile von Euthanasie-Opfern beigesetzt.

Das Psychiatrische Krankenhaus Baumgartner Höhe in Wien liegt idyllisch zwischen hohen alten Bäumen. Viele Touristen kommen vorbei, um die anstaltseigene Kirche, die im Jugendstil erbaut wurde, zu besichtigen. Dass die Klinik von 1938 bis 1945 eine jener Anstalten war, in denen die Euthanasiepläne der Nazionalsozialisten in die Tat umgesetzt wurden, interessiert dagegen kaum jemanden.

Die letzten Reste von knapp 600 Euthanasieopfern werden am kommenden Sonntag auf dem Wiener Zentralfriedhof beigesetzt. Eine Gedenkplatte soll an die Opfer der Kindereuthanasie erinnern. Außer dem ersten Wiener Bürgermeister Michael Högel wird auch der österreichische Bundespräsident, Thomas Klestil, bei der Trauerfeier zugegen sein. Mehr als 60 Jahre lang war die Vergangenheit der Klinik in der österreichischen Gesellschaft kein Thema.

Der Steinhof, so die Bezeichnung für die psychiatrische Anstalt während des Nationalsozialismus, verfügte neben einer Abteilung zur Tötung von behinderten und psychisch kranken Erwachsenen auch über eine so genannte Kinderfachabteilung. Im gesamten Deutschen Reich gab es 32 solcher Einrichtungen, in denen Kinder und Jugendliche mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen ermordet wurden. Die Euthanasie wurde während des NS seit 1939 staatlich geplant und öffentlich durchgeführt. 1941 musste das Programm wegen der Kritik der Kirchen offiziell eingestellt werden. Die Tötung von Behinderten wurde durch Unterernährung, Kälte und eine gezielte Überdosierung von Medikamenten fortgeführt.

Das staatliche Vernichtungsprogramm hatte für die verantwortlichen Mediziner einen erfreulichen Nebeneffekt, denn sie erhielten ungehindert Material zur Erforschung des menschlichen Körpers. Im Spiegelgrund, so der romantische Name der Kinderfachabteilung des Steinhofs, wurden den Opfern nach ihrem Tod Organe entnommen, vor allem Gehirnteile, um den so genannten Schwachsinn erforschen zu können. Nach dem heutigen Kenntnisstand wurden dort etwa 800 Kinder und Jugendliche ermordet. Der Spiegelgrund war eine der größten Kinderfachabteilungen im Deutschen Reich.

Die Präparate wurden bis in die sechziger Jahre als Grundlage für die wissenschaftliche Forschung verwendet, Mediziner publizierten in Österreich in dieser Zeit darüber insgesamt 34 Aufsätze und Abhandlungen. In diesen Publikationen, unter anderem herausgegeben von Dr. Heinrich Gross, der bereits 1944 als Arzt im Spiegelgrund tätig war, wurde offen darüber berichtet, um welche Forschungsgegenstände es sich handelte.

Für ein Präparat, das äußerst selten in die Hand von Medizinern gelangt, interessierte sich Gross nach dem Krieg besonders: Das Gehirn von Heide G, über dessen anatomische Eigenschaften er 1955 einen Aufsatz schrieb. Heide G. war neun Jahre alt, als sie im Spiegelgrund getötet wurde. Bevor sie in einem Sammeltransport nach Wien gebracht wurde, lebte sie in den Alsterdorfer Anstalten in Hamburg.

Nach den Bombenangriffen auf Hamburg im August 1943 verlegte man 228 Insassen der Alsterdorfer Anstalten nach Wien, um Platz für »bombengeschädigte Volksgenossen« zu schaffen. Von ihnen wurden 195 im Steinhof und in der Kinderfachabteilung Spiegelgrund getötet. Einigen dieser Mädchen und jungen Frauen entnahmen die Mediziner nach ihrer Ermordung die Gehirne und lagerten sie als Präparate für wissenschaftliche Forschungszwecke ein. An der Erstellung und Katalogisierung war vor allem Gross beteiligt, der bis in die neunziger Jahre als angesehener Gerichtsgutachter - besonders zu Fragen der »Wiedergutmachung« in Österreich - arbeiten konnte.

Michael Wunder, ein Psychologe der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, verfolgt bereits seit 20 Jahren die Spuren der Menschen, die von Hamburg nach Wien transportiert wurden. »Mir war bereits Mitte der achtziger Jahre aufgefallen, dass diese Gehirne, über die Dr. Gross wissenschaftlich publiziert hat, noch irgendwo sein müssen«, erklärte Wunder der Jungle World. Doch der Leiter der Baumgartner Höhe, Prof. Dr. Eberhard Gabriel, dessen Vater von 1938 bis 1945 als Arzt auf dem Steinhof tätig war, unternahm nichts zur Aufklärung der Euthanasiegeschichte der Psychiatrischen Anstalt. Zwar ermöglichte er ausländischen Forschern seit Mitte der neunziger Jahre, im anstaltseigenen Archiv zu arbeiten, eigene Nachforschungen stellte er jedoch nicht an.

In den letzten Jahren konnten die Vorgänge in der Wiener Klinik allerdings nicht länger verheimlicht werden. Mitte der neunziger Jahre entdeckte die Hamburgerin Antje Kosemund im »Gedenkraum für Gehirne« der Baumgartner Höhe das Gehirn ihrer Schwester Irma Sperling. Es stellte sich heraus, dass unter den 400 in Formalin schwimmenden Gehirnen zehn Gehirne von Opfern aus den Alsterdorfer Anstalten stammen. Die zehn gefundenen Gehirne wurden 1996 nach Hamburg überführt und hier feierlich beigesetzt.

Zur gleichen Zeit entdeckte der kanadische Forscher Dr. William Seidelman, dass die detailgetreuen Zeichnungen in dem im Anatomiestudium nach wie vor gebräuchlichen »Pernkopf«-Atlas von Häftlingen aus Mauthausen angefertigt wurden. Ihre Modelle waren Opfer der Euthanasie aus dem Steinhof und KZ-Häftlinge. Die österreichische Regierung setzte daraufhin eine Untersuchungskommission ein, die zum Abschluss ihrer Tätigkeit einen umfangreichen Bericht über die Forschung in Wien zwischen 1938 und 1945 publizierte.

Dieser Bericht blieb jedoch sehr lückenhaft. So fehlten nach wie vor Informationen über den Verbleib des Gehirns von Heide G. Erst 2000 entdeckte eine vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands beauftragte Forschungsgruppe auf dem Dachboden des Ludwig-Boltzmann-Instituts eine Sammlung von 10 000 Gehirnschnitten von Opfern des Spiegelgrundes, darunter auch Schnitte von Heide G.s Gehirn. Das Institut zur »Erforschung der Missbildung des Nervensystems« hatte Gross während des NS gründet und bis 1981 geleitet.

Ende April werden nun endlich die gefundenen 400 Feuchtpräparate der »Gehirnkammer« und die 10 000 Gehirnschnitte beigesetzt. Weiterhin unbekannt ist jedoch der Verbleib, die Anzahl und die Herkunft der Opfer der Erwachseneneuthanasie auf dem Steinhof.