26.06.2002

Kein deutscher Land

Deutsche in Russland. Vor zehn Jahren wurde der Deutsche Nationale Rayon Asowo in Sibirien gegründet. Viel zu feiern gibt es nicht. Noch in der Ära Kohl wurden hier Millionen an Fördergeldern investiert, um die Aussiedlung der Russlanddeutschen nach Deutschland zu stoppen. Unter Rot-Grün wurde das Geld lieber für die Integration der zwei Millionen Russlanddeutschen in Deutschland verwendet. Heute zeugen in Asowo einige Investitionsruinen von einer vergangenen Aufbruchstimmung.

Im Dorf Asowo antwortet ein russlanddeutscher Rentner auf die Frage, was denn die »Insel der Hoffnung« sei, mit einem milden Lächeln über den Gartenzaun. Andere ältere Leute erzählen einsilbig etwas von der neuen alten Heimat und gehen abwinkend in ihre Häuser zurück. In diesem Jahr wird der Deutsche Nationale Rayon Asowo, gelegen in der westsibirischen Waldsteppe, zehn Jahre alt. Aber richtige Feststimmung will nicht aufkommen, denn in den letzten drei Jahren ist der Aufbau des deutschen Landkreises (russisch: Rayon) stark ins Stocken geraten. Probleme haben sich angehäuft, Lösungen sind nicht in Sicht. Die große Euphorie der Anfangsjahre ist längst verflogen.

Vor zehn Jahren sprach man gerne von der neu geschaffenen »Insel der Hoffnung« für die Russlanddeutschen. Es wurden ehrgeizige Wohnungsbau- und Wirtschaftsprogramme verabschiedet, eine Kreiszeitung entstand, sogar eine große lutherische Kirche wollte man bauen. Russlanddeutsche Kultur gewann wieder an Bedeutung, Feste wurden gefeiert, und immer mal wieder war das deutsche Fernsehen zu Gast. Stolz propagierte man mit den Festivals »Phönix« und »Nachtigall« ein neues kulturelles Selbstbewusstsein. Heute wird Asowo von Wirtschaftsproblemen geplagt. Für eine Jubiläumsfeier in diesem Jahr reichen die finanziellen Mittel nicht aus, und auch aus Deutschland werden weder Geld noch offizielle Gäste erwartet.

Als mit dem Ende der Sowjet-Ära die vielen nationalen Minderheiten Russlands wieder Autonomie und Selbstbestimmung forderten, waren auch die Russlanddeutschen wieder da. Von der Zarin Katharina II. seit 1763 ins Land geholt, siedelten sich Tausende deutsche Bauern mit ihren Familien zumeist im Schwarzmeergebiet und an der Wolga an. Mit reichlich Privilegien ausgestattet, betrieben sie dort Landwirtschaft. Ihre vielerorts gegründeten Kolonien konnten trotz einiger Repressalien der jeweiligen Machthaber bis zum Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion ihre Autonomie behaupten. Im August 1941 wurden die Russlanddeutschen der Kollaboration mit der deutschen Wehrmacht bezichtigt und zwangsweise aus dem Westen Russlands nach Sibirien und Kasachstan umgesiedelt. Diese kollektive Deportation endete oft in Arbeitslagern und kostete Tausende das Leben.

Nach dem Krieg von der Sowjetregierung nie vollständig rehabilitiert, blieb die Mehrheit der über zwei Millionen Russlanddeutschen bis zum Ende der Sowjetunion hinter dem Ural. Ehrgeizige Pläne, wie die Wiederbelebung der deutschen Wolgarepublik, fanden in der damaligen russischen Regierung unter Boris Jelzin keine Freunde. 1992 einigte man sich auf die Gründung kleiner autonomer Landkreise. Mit dem unter Gorbatschow erlassenen »Gesetz über Ein- und Ausreise« begann 1987 die größte Ausreisewelle der Russlanddeutschen und ihrer Familien nach Deutschland.

Zusammen mit dem Deutschen Nationalen Rayon Halbstadt in der sibirischen Altai-Region gehört der Deutsche Nationale Rayon Asowo zu den größten Siedlungsprojekten der Russlanddeutschen im heutigen Russland. Vom damaligen Aussiedlerbeauftragten der Regierung Kohl, Horst Waffenschmidt, maßgeblich unterstützt, war Asowo ein Modellversuch, die Russlanddeutschen im Land zu halten, ihnen dort eine Lebensperspektive zu geben und damit eine Alternative zur Ausreise nach Deutschland zu schaffen.

Die Region südlich der sibirischen Millionenstadt Omsk war für die Gründung eines autonomen deutschen Rayon besonders geeignet. Dort wurden Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre nicht nur die aus der Wolgaregion umgesiedelten Wolgadeutschen sesshaft, dort existierte bereits seit dem letzten Jahrhundert ein Siedlungsgebiet. Mit 134 000 Menschen war die Region um Omsk 1989 der kompakteste Siedlungsraum der Russlanddeutschen in ganz Russland. Nach offiziellen Angaben haben bis heute 70 000 von ihnen die Region verlassen. Gleichzeitig sind in den letzten Jahren viele Russlanddeutsche aus dem benachbarten Kasachstan ins Omsker Gebiet übergesiedelt, sodass derzeit noch etwa 80 000 Russlanddeutsche in der Region leben.

1991 stimmten bei einer Volksbefragung 83 Prozent der Einwohner des heutigen Rayon für die Gründung eines autonomen deutschen Landkreises. Am 17. Februar 1992 wurde der Rayon offiziell gegründet. 28 Dörfer gehören dazu, mit Asowo als Kreisstadt. Im ganzen Rayon leben zirka 22 000 Menschen. Der Anteil der Russlanddeutschen liegt bei 38 Prozent und wird von Jahr zu Jahr geringer.

Seit den ersten Tagen liegen die Geschicke des Rayon in den Händen des Landrats Bruno Reiter. Bevor er in die Politik wechselte, lehrte er als Professor für Biologie an der Pädagogischen Universität in Omsk. In seinen Autonomiebestrebungen erhielt er vom Gouverneur des Omsker Gebiets, Leonid Poleshajew, jederzeit starke Rückendeckung - vor allem, weil man an Investitionen deutscher Firmen in der Region interessiert war.

Bereits in der Gründungsphase war abzusehen, dass die russische Seite, also das Moskauer Minderheitenministerium, die notwendigen finanziellen Mittel nicht allein aufbringen würde. Mit einem gut ausgestatteten finanziellen Förderprogramm versuchte die damalige Bundesregierung, das Großprojekt voranzutreiben. Von 1991 bis 1998 stellte die deutsche Seite allein für den Aufbau des Rayon Asowo 200 Millionen Mark bereit. So wollte man dem Rayon nach dem Prinzip »Hilfe zur Selbsthilfe« seinen Weg in die wirtschaftliche Selbständigkeit erleichtern.

Mit dieser Politik versuchte die deutsche Regierung Anfang der neunziger Jahre, der steigenden Bereitschaft der Russlanddeutschen, nach Deutschland auszureisen, etwas entgegenzusetzen. Während auf der einen Seite versucht wurde, die Lebensbedingungen der Russlanddeutschen vor Ort zu verbessern - wie z.B. durch die Förderung des Rayon Asowo -, wollte die Bundesregierung auf der anderen Seite die Aussiedlung mit dem Kriegsfolgenbereinigungsgesetz von 1993 verringern (v.a. durch die Festlegung einer Aufnahmequote von 200 000 Menschen jährlich).

Obwohl das Bundesinnenministerium und der Bundesrechnungshof die Verwendung der Fördermittel scharf überwachten, begünstigten die jährlich eintreffenden Millionen eine unselbständige und unökonomische Haushaltspolitik im Rayon. Schnell gewöhnten sich die Administratoren an den Geldfluss aus Deutschland. Eine sinnvolle Verwendung der Fördermittel, Eigenverantwortlichkeit und das Bemühen um wirtschaftliche Selbständigkeit setzten erst dann ein, als weniger Geld kam. Langsam begann man umzudenken. Anstatt das diesjährige Haushaltsbudget für die große Jubiläumsfeier auszugeben, will der Landrat das Geld für den Ausbau einer Ferngasleitung verwenden. Mit dem Einsatz der Erdgasanlage wären außerdem Einsparungen bei anderen Projekten möglich, so die Administration. Es geht also auch ohne deutsche Hilfe.

Mit dem Regierungswechsel im Jahr 1998 waren die goldenen Jahre für Asowo vorbei. Der neue Aussiedlerbeauftragte der SPD-Regierung, Jochen Welt, verlegte den Schwerpunkt der Aussiedlerpolitik eindeutig nach Deutschland. Entscheidend dafür war die Tatsache, dass die Mehrheit der Russlanddeutschen, über zwei Millionen, inzwischen in Deutschland lebt und ihre Eingliederung enorme Kosten verursachte. Wirtschaftshilfe für Großprojekte in Russland gibt es nun nicht mehr, weswegen sich die die Administration in Asowo im Stich gelassen fühlt. Das Vertrauensverhältnis zwischen beiden Seiten wurde schlechter, und die Kontroversen über die Verwendung der Fördergelder nahmen zu.

Aus einigen Projekten zog sich die deutsche Seite ganz zurück. Man bemängelte die unkoordinierte Planung sowie undurchsichtige Abrechnungen. Viele Vorhaben waren überdimensioniert, zu teurer und auch unsinnig. Der notwendigen Verbesserung der Infrastruktur, wie z.B. dem Straßenbau, der Wasser- und Wärmeversorgung wurde dagegen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.

Der Bau eines als Prestigeobjekt konzipierten Ziegelwerks musste wegen Missmanagements und Kreditschulden von mehreren Millionen Mark bereits in der Aufbauphase gestoppt werden. Heute verrottet in der riesigen, halbfertigen Fabrikhalle die nicht zum Einsatz gekommene Technik aus Deutschland. Das Zentrum von Asowo wird von der Bauruine eines überdimensionalen Sportstadions beherrscht, eines steinernen Zeugnisses fehlgeleiteter Investitionen.

Anstatt Häuser zu bauen, die den Verhältnissen der Menschen in der überwiegend von Landwirtschaft geprägten Region entsprachen, begann man mit dem Bau einer pompösen Siedlung neben dem alten Dorf Asowo. Deren Kernstück ist der städtisch angelegte Boulevard »Freundschaft«, gesäumt von riesigen landvillenartigen Einfamilienhäusern. Diese großen und mit aufwändigen Fassaden gestalteten Häuser wirken inmitten der kargen Steppe wie Theaterkulissen. Im Vergleich zu den alten Holzhäusern besitzen sie zwangsläufig etwas Unwirkliches, und zu den ärmlichen Containerwohnungen am Ortsrand von Asowo stehen sie in auffälligem Kontrast.

Ursprünglich als Übergangslösung für zugezogene Russlanddeutsche aus Kasachstan gedacht, sind diese Containerwohnungen mit je 30 Quadratmetern Fläche der normale Wohnraum für mehr als 500 Menschen. Einige Familien wohnen dort schon seit mehr als fünf Jahren. Dem Rayon fehlt das Geld, um die Situation zu verbessern. Auch die später errichteten, bereits etwas bescheidener ausgefallenen Siedlungshäuser und Plattenbauten werden heute nicht weitergebaut. Unter Aufsicht der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), die seit dem Jahr 2000 im Omsker Gebiet Hilfsmaßnahmen für die Russlanddeutschen koordiniert, ist man heute dazu übergegangen, die Häuser von Familien, die den Rayon verlassen, aufzukaufen und zu vermieten.

In diesen neuen Siedlungshäusern lebt auch Familie Les. Frau Les, Russlanddeutsche, ist Sozialarbeiterin. Um ihr Gehalt aufzubessern, hält sie sich wie viele Familien im Rayon ein paar Kühe und Schweine und baut Kartoffeln an. Für sie ist der deutsche Landkreis ein normaler russischer Rayon, wie andere auch. Dieselben Strukturen, dieselben Probleme - das Deutsche im Namen sei nur Fassade. Der Durchschnittsverdienst im Rayon liege bei 700 bis 900 Rubeln. Im benachbarten Omsk verdienen die Menschen das Doppelte. Die Familie überlegt schon lange, nach Deutschland auszureisen.

Frau Les hat ihre Geschwister dort besucht, die vor einigen Jahren ausgesiedelt sind und dort irgendwie besser leben, meint sie. Doch sie möchte bleiben, sie hängt an ihrer Heimat. Außerdem hat sie Angst, weil ihre Kinder und der Ehemann kein Deutsch sprechen. Sie selbst spricht einen markanten deutschen Dialekt und gehört zur älteren Generation im Rayon, die mit der deutschen Sprache aufgewachsen ist, inzwischen aber nur noch eine kleine Minderheit darstellt.

Die Jüngeren fühlen sich als Russen, Deutsch ist für sie eine Fremdsprache, die zu lernen sie nur wenig Lust haben. Die von der GTZ angebotenen Sprachkurse werden vor allem als Vorbereitung für die Übersiedlung nach Deutschland genutzt.

In den letzten Jahren ist es um den deutschen Rayon still geworden. In einer staubigen Dorfstraße in Asowo parken auch Autos mit deutschen Nummernschildern. Aus einem VW-Passat steigt eine Familie aus - darunter eine alte Frau mit Kopftuch, die ein kleines Kind im Arm hält. Froh sei sie, dass ihre Kinder und Enkel gekommen sind, auf Urlaub, erzählt sie. Fünf Tage und fünf Nächte müsse man durchfahren von Berlin über den Ural bis Omsk. Aber alle zwei Jahre könne man das schon auf sich nehmen, erzählt der Familienvater Andrej, der in Asowo aufgewachsen und vor vier Jahren mit seiner Familie übergesiedelt ist. Ihnen gehe es gut in Deutschland, erzählt er, doch manchmal fehlten ihm die Birkenwäldchen und vor allem die Mutter mit ihrem alten Holzhäuschen.