Urteil im Prozess gegen den NS-Verbrecher Siegfried Engel

Engel als Biedermann

Der Prozess gegen den »Todes-Engel« von Genua ist zu Ende. Im Urteil wird eine neue Tendenz in der deutschen Rechtsprechung zu NS-Verbrechen sichtbar.

Scheinbar unbemerkt und unbescholten lebte Siegfried Engel seit Jahrzehnten in einem gutbürgerlichen Stadtteil Hamburgs. Die Presse feierte sein Auffinden als Sensation. Im Mai dieses Jahres eröffnete das Hamburger Landgericht das Hauptverfahren gegen den 93jährigen ehemaligen Leiter des SS-Außenkommandos Genua wegen Mordes an 59 italienischen Geiseln.

Tatsächlich war Engel schon allein deswegen nicht unbemerkt geblieben, weil er in den sechziger Jahren als Zeuge in einem NS-Prozess auftrat. Auch war er bereits einmal angezeigt, das Verfahren jedoch eingestellt worden. Als aber die Staatsanwaltschaft Stuttgart Engel wegen Mordvorwurfs aufgrund von Angaben der Alliierten Kriegsverbrecherkommission suchte, hieß es plötzlich, er könne nicht aufgespürt werden. Mit dieser Begründung wurde das zweite Verfahren gegen ihn 1993 eingestellt.

Auch als unbescholten konnte der »Todes-Engel«, wie ihn die Häftlinge im Gefängnis von Genua nannten, kaum gelten. Zuletzt hatte ihn das Militärgericht Turin 1999 in Abwesenheit zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verurteilt. Für den Tod von 246 Geiseln soll er verantwortlich sein, darunter die 59 Opfer des Massakers am Turchino-Pass, das zu den berüchtigten deutschen »Sühnemaßnahmen« zählt, vergleichbar mit den Kriegsverbrechen in Lidice, Oradour oder Distomo.

Politische Vorgeschichte

Von den bundesdeutschen Gerichten, die solche Massaker als »völkerrechtliche Notwehr« gegen den Widerstand der Bevölkerung bezeichneten, hatten NS-Täter wie Siegfried Engel kaum etwas zu befürchten. Die politischen Vorgaben im Land waren eindeutig. Bereits Ende der vierziger Jahre regte sich Widerstand gegen solche »späten Prozesse«. Dieser spitzte sich im Zuge der Verhandlungen über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und den Deutschlandvertrag zu. Die Bundesregierung beschränkte sich nicht auf die Vermittlung und Bezahlung geeigneter Verteidiger für die im Ausland angeklagten Kriegsverbrecher. Sie forderte auch unverhohlen die Freilassung der bereits Verurteilten. So berief sich Bundesjustizminister Thomas Dehler (FDP) auf die Amnestieklausel aus dem Westfälischen Frieden von 1648, mit der »Ewiges Vergessen« der Gewalttaten beschlossen worden war.

Unter den Alliierten reagierte vor allem Frankreich mit Unverständnis auf die deutsche Haltung. Angesichts der französischen Maxime »Keine Amnestie, keine Revision der Verfahren, keine generelle Aufhebung der Todesurteile« entschied sich die Bundesregierung schließlich für die Strategie, ihr Kriegsverbrecherproblem »geräuschlos einer möglichst beschleunigten Lösung näherzubringen.«

Doch ausgerechnet der Oradour-Prozess 1953 durchkreuzte das Vorhaben. Ohne Erfolg hatte die deutsche Seite im Vorfeld versucht, alles zu vermeiden, was »Erinnerungen an die Ereignisse in Oradour erneut beleben« würde. Mit der Eröffnung des Verfahrens blieb ihr zunächst nur die Forderung nach einer »objektiven Presseberichterstattung« in Frankreich. Nach dem Urteil versuchte die Bundesregierung dann, Straferleichterungen für die Massenmörder zu erreichen. Als deren Berufung abgewiesen worden war, reagierte die deutsche Presse empört. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung resümierte: »Ein Schlag gegen die Verständigung.«

Vor einem solchen politischen Hintergrund überrascht es nicht, dass westdeutsche Gerichte - die noch lange Zeit nach Kriegsende voller NS-Juristen waren - keinen Anlass sahen, Täter dieses Schlages zu verurteilen. Heute, rund 50 Jahre später, laufen zwar bei der Zentralen Ermittlungsstelle für NS-Verbrechen in Ludwigsburg noch zirka 20 Ermittlungsverfahren, doch spricht einiges dafür, dass der Engel-Prozess der letzte seiner Art sein könnte. Daher lohnt sich ein genauer Blick darauf, ob sich im aktuellen Urteil die Linie milder Urteile im Großen und Ganzen fortgesetzt hat oder ob sich Auswirkungen der ideologischen und politischen Verschiebungen in Deutschland darin widerspiegeln. Die Frage gewinnt an Brisanz, da die Zeitgeschichtsforschung inzwischen mit der Aufarbeitung der bisherigen Rechtsprechung begonnen hat.

Neuere Forschung

Über die juristische Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen gab es lange Zeit nur wenige wissenschaftliche Veröffentlichungen. Adalbert Rückerls »NS-Verbrechen vor Gericht« aus der ersten Hälfte der achtziger Jahre gilt immer noch als Standardwerk. Doch mittlerweile werden die Publikationen zu diesem Thema zahlreicher. Besonders aufschlussreich ist eine Untersuchung von Michael Greve.

Greve arbeitet heraus, dass die Haltung der westdeutschen Justiz gegenüber den NS-Tätern unterschiedliche Phasen durchlief. Bereits für die Zeit Ende der fünfziger Jahre konstatiert er mit der Gründung der Zentralen Ermittlungsstelle in Ludwigsburg eine Abkehr von der vorangegangenen »Justizverweigerung«. Zu einer grundlegenden Änderung sei es dennoch nicht gekommen, weil einerseits der Gesetzgeber lediglich Maßnahmen mit »Alibi-Charakter« beschlossen habe. Es wurde gerade so viel getan wie unumgänglich war, um das internationale Ansehen der Bundesrepublik zu wahren. Andererseits stellt Greve auch eine »Schrankenziehung« durch die bundesdeutsche Justiz fest.

Schwerpunktmäßig setzt er sich mit der »Gehilfenkonstruktion« auseinander - gemeint ist das Ausführen von Befehlen ohne einen nachweisbaren »Täterwillen« -, durch die selbst bei Tötungsdelikten lediglich Minimalstrafen verhängt wurden oder ein Freispruch wegen Verjährung erfolgte. Dass später die Aufhebung der Verjährungsfrist für Mord mit der De-facto-Amnestie für so genannte »kleine NS-Täter« (Paragraf 50 II) gekoppelt wurde, ist für ihn ein entscheidender Hebel bei den Verfahrenseinstellungen. Schließlich lässt ihn auch der schonende Umgang mit belasteten NS-Juristen das Fazit ziehen, dass in den sechziger Jahren weiterhin Verdrängungstendenzen und Widerstände gegen die Aufarbeitung des NS-Unrechts die Haltung der Justiz bestimmten. Mit seinem Insistieren auf der Notwendigkeit juristischer Aufarbeitung hebt er sich von apologetischen Positionen ab, die schon in den Kontroversen der fünfziger Jahre eine Belastung der Tagespolitik durch die Geschichte sahen und ihr den zukunftsweisenden Charakter europäischer Zusammenarbeit entgegenstellten.

Das Hamburger Urteil

Im Prozess vor dem Hamburger Landgericht lediglich wegen des Massakers am Turchino-Pass angeklagt - seine weiteren Verbrechen wurden noch nicht einmal als Hintergrundinformationen für die Richter erwähnt - konnte sich Engel als Biedermann, der in schwierigen Zeiten für Recht und Ordnung gesorgt hatte, darstellen. Die Staatsanwaltschaft stieß auf den wichtigsten Belastungszeugen erst durch den Umstand, dass dieser sich während des Verfahrens in einer Tageszeitung zu Wort gemeldet hatte. Der vorsitzende Richter wiederum setzte sich gleich zu Beginn vom italienischen Urteil ab und machte deutlich, dass er Geiselerschießungen im Zweiten Weltkrieg als völkerrechtliches Gewohnheitsrecht betrachtet.

Die Verurteilung Engels wegen Mordes kam deswegen überraschend. Voraussetzung für den Schuldspruch war, dass Engels Tat am Turchino-Pass als grausam eingestuft wurde, weil er gegen eine »Humanitätsschranke«, die auch bei »Vergeltungsmaßnahmen« nicht verletzt werden dürfe, verstoßen habe. Auf Befehlsnotstand könne der SS-Mann sich deshalb nicht berufen, weil ihm zwar die Exekution, nicht aber die Methoden ihrer Durchführung befohlen worden seien. Das Strafmaß »lebenslänglich« wurde schließlich u.a. wegen der langen Zeitspanne zwischen Tat und Urteil auf sieben Jahre herabgesetzt.

Auch wenn das Gericht im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg offensichtlich weiterhin vor allem die verzerrten »Normalitätsvorstellungen« zugrunde legt, lässt sich nicht übersehen, dass neue Akzente gesetzt wurden. Die Zeit der selbstverständlichen Rechtfertigungen auch der grausamsten Massaker scheint ebenso vorbei zu sein wie die der Freispruchgarantie durch das Erwähnen eines »Befehlsnotstandes«. Die letzten noch lebenden Kriegsverbrecher haben also tatsächlich ihren Schutz verloren. Das mag eine Generationenfrage sein, verfügen die Täter doch kaum mehr über gesellschaftliche Macht. Doch spielt sicher auch eine Rolle, dass Deutschland in einer Zeit, in der es Kriege damit legitimiert, die Menschenrechte wahren zu wollen, weniger einfach NS-Massaker rechtfertigen kann. Nicht zuletzt der italienische Schuldspruch und die deutsche Weigerung, Engel auszuliefern, sorgten für zusätzlichen Druck.

Nach der Urteilsverkündung reagierte die Presse zum Teil reserviert. Der renommierte Staatsrechtler Ingo von Münch gab den Ton mit einer Urteilsschelte an: »Wer den Krieg nicht bewusst miterlebt hat, kann die damaligen Ereignisse nicht immer gerecht beurteilen.« Die Entscheidung des Gerichts scheint also ähnlich umstritten zu sein wie die Wertung zeitgeschichtlicher Forschungsergebnisse. Siegfried Engel hat beim Bundesgerichtshof Revision beantragt. Mit dem Urteil der höheren Instanz wird sich zeigen, ob man tatsächlich von einer neuen Tendenz in der Urteilssprechung bei den letzten Kriegsverbrecherprozessen sprechen kann.

Michael Greve: Der justizielle und rechtspolitische Umgang mit den NS-Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren. Peter Lang Verlag, Frankfurt/Main u.a. 2001. 438 S., 60,30 Euro.