Debatte um innere Sicherheit

Mit Sicherheit ein guter Staat

Die neue konservative Regierung erklärt die innere Sicherheit zum wichtigsten Thema. Die konformistische Revolte des Front National wird sie dadurch nicht stoppen können.

Die Arbeit des neuen französischen Kabinetts beginnt mit Überstunden. Bis zum 31. Juli treten die Nationalversammlung und das Kabinett zu einer verlängerten Sondersitzung zusammen. Die Regierung verkürzte dieses Jahr die Sommerpause, um so ihren Aktivismus zu beweisen.

Um Überstunden wird es demnächst auch in den parlamentarischen Beratungen gehen. Im Herbst steht der Gesetzesentwurf des gaullistischen Arbeits- und Sozialministers François Fillon zur Debatte. Ziel des Gesetzes ist, eine Ausdehnung der betrieblichen Arbeitszeiten zu erleichtern und zu verbilligen.

Daneben will die Regierung Jean-Pierre Raffarins die Dezentralisierung staatlicher Institutionen vorantreiben. Das wird als demokratische Maßnahme präsentiert, die »bürgernahe Entscheidungen« fördern soll.

Zu einer Demokratisierung dürfte das aber nicht führen. Denn das Erbe des Jakobinertums, die französische Form des Zentralstaats, stellte bisher eine Art sozialer und demokratischer Mindestgarantie dar. Soziale Bewegungen konnten recht schnell mobilisieren und den öffentlichen Raum besetzen. Jede Regierung, die unsoziale Maßnahmen beschloss, riskierte, dass Millionen dagegen protestierten.

Schon die Bereiche, die die Regionalisierung zunächst umfassen soll, nämlich das Gesundheits- und das Bildungswesen, lassen aufhorchen. Regionale Heimattümelei, neoliberale Subsidiaritätsideologie und der Abbau sozialer Standards dürften sich so bald gut ergänzen.

Vom Sozial- zum Strafstaat

Ihr hauptsächliches Betätigungsfeld aber hat die Raffarin-Regierung in der inneren Sicherheit gefunden. Am Mittwoch vergangener Woche stellte Innenminister Nicolas Sarkozy den Gesetzentwurf zum Thema vor.

Demnach will die Regierung in naher Zukunft 13 500 neue Stellen bei der Polizei und der dem Verteidigungsministerium unterstellten Gendarmerie schaffen. Dabei hat Frankreich bereits heute eine vergleichsweise hohe Polizeidichte: 394 Beamte kommen auf 100 000 Einwohner, während es in Deutschland, Großbritannien und den USA jeweils rund 320 sind.

Daneben sollen im Justizapparat 10 000 neue Stellen entstehen. Das hatte Raffarin bereits in seiner Regierungserklärung Anfang Juli angekündigt - und im gleichen Atemzug erklärt, altersbedingte Abgänge im öffentlichen Dienst außerhalb der Polizei und der Justiz nicht zu ersetzen. Plastischer könnte man die Transformation staatlicher Funktionen - den Abbau sozialstaatlicher Funktionen bei einem gleichzeitigen Ausbau der repressiven Aufgaben - kaum verdeutlichen.

Seit anderthalb Jahrzehnten vollzieht sich der Übergang vom Wohlfahrtsstaat zum Strafstaat, den Soziologen wie Pierre Bourdieu und Loic Wacquant analysiert haben. Eine Entwicklung, die in den meisten westlichen Industriestaaten zu beobachten ist. In Frankreich kommt hinzu, dass die staatstragenden Parteien und eine starke rechte, autoritäre Oppositionskraft um das Thema staatliche Autorität und innere Sicherheit in besonderem Maße wetteifern.

Dieses Rennen begann spätestens im März 1986, als der damalige gaullistische Innenminister Charles Pasqua mit der erklärten Absicht antrat, den Neofaschisten das Wasser abzugraben. Pasqua verschärfte die Ausländer- und Polizeigesetze und erklärte, die konservative Mehrheit teile »gemeinsame Werte« mit dem Front National (FN). Diese Mischung aus Sympathie und Ablehnung charakterisierte sein Verhältnis zu den Rechtsextremen. Tatsächlich erhebt ein Teil der Konservativen die selben politischen Forderungen wie die extreme Rechten.

Andererseits führte Pasqua das Mehrheitswahlrecht wieder ein und organisierte die Wahlkreise so, dass die großen Parteien davon profitierten. Beide administrative Maßnahmen verfolgten das Ziel, die Erfolge der Neofaschisten einzudämmen. Das neue Wahlrecht, so kalkulierte Pasqua, würde den Front National vor die Entscheidung stellen, sich an konservative Bündnispartner anzupassen oder zu verschwinden.

Diese Strategie ist gründlich gescheitert. Denn der Glaube, durch Integrationsdruck und -angebote ließe sich eine Partei wie der FN auf ein Anhängsel der Konservativen reduzieren, beruht auf einer grundlegenden Fehlannahme.

Gegensätze verbinden

Der Front National zeichnet sich durch seinen wandlungsfähigen politischen Charakter aus. Der Partei gelingt es, ähnlich wie dem historischen Faschismus, vermeintlich gegensätzliche politische Diskurse gleichzeitig zu bedienen. Je nach Publikum nährt der FN miteinander unvereinbare Erwartungen und formuliert unterschiedlichste Versprechen.

Den Besitzenden und Wohlhabenden offeriert er sich als Kraft der Ordnung. Den Verlierern hingegen dient er sich als Partei der Umwälzung an, als Organisation, die den Etablierten das Fürchten lehrt.

Dennoch gelingt es dem FN, eine gewisse Kohärenz zu wahren und die unterschiedlichen und teils irrationalen Hoffnungen seiner Wählerschaft nicht zu zerstören. Eine zentrale Grundüberzeugung verbindet die unterschiedlichen Teile seines Diskurses zu einem scheinbar ausgereiften Programm: Es gebe Menschen, die von Natur aus mehr, und andere, die weniger wert seien.

Soziale Maßnahmen etwa will der FN nach seinem Programm dadurch finanzieren, dass Immigranten von Sozialleistungen ausgeschlossen bleiben. Arbeitsplätze für »nationale Arbeiter« will man dadurch sichern, dass man Franzosen bei der Einstellung und Ausländer bei Entlassungen bevorzugt. Auf jeden Fall soll das heimische Kapital nicht angetastet werden.

Auch wenn alle rechtsextremen Parteien in Europa den Grundsatz einer natürlichen Ungleichheit verinnerlicht haben, lassen sie sich grob in zwei Kategorien unterteilen. Auf der einen Seite findet man Parteien, die als verschärfendes Korrektiv zu den Konservativen und Liberalen auftreten. Im Mittelpunkt ihrer Agitation stehen die Immigranten sowie die vermeintlich hohen Steuern und sozialstaatlichen Kosten.

Die soziale Hierachie wird bei ihnen nicht, wie bei den Liberalen, hauptsächlich durch den Geldbeutel definiert, sondern durch angeblich natürliche Faktoren wie Abstammung oder kulturelle Herkunft. Dadurch gelingt es diesen Parteien oft auch, sozial Deklassierte für sich zu gewinnen. Deklassierte, die etwa als Franzosen ihre Vorrechte auf dem Arbeitsmarkt für sich reklamieren.

Die vorherrschende ethnisierende Segmentierung des Arbeitsmarkts hat zu dieser Entwicklung beigetragen. Hinzu kommt die Erfahrung, dass der in den kapitalistischen Metropolen einmal erreichte Lebensstandard weit höher liegt als in der übrigen Welt. Heute sinkt dieser Standard für die subalternen Klassen bereits wieder. Teile der Unterklassen folgern daraus, dass sie ihn gegen den vermeintlichen Ansturm der globalen Armut verteidigen müssten.

Die andere Variante der extremen Rechten bilden die Parteien, die als revolutionäre Rechte auftreten. Sie reden nicht nur einer etwas verschärften Gangart gegen jene, die ohnehin sozial unten stehen, das Wort. Sie wettern auch gegen die dominierenden gesellschaftlichen Eliten. Allerdings benützen sie dabei die gleichen biologistischen Kriterien wie die Abstammung, die »Rasse«, die Geburt, die auch den Rassismus und Sozialdarwinismus anderer Varianten der extremen Rechten prägen.

Antisemitismus und verschwörungstheoretische Vorstellungen erlauben zudem, was die Eindimensionalität des Diskurses gegen die Immigranten behindert: eine alle möglichen gesellschaftlichen Aspekte umfassende, in sich geschlossene Gesellschaftstheorie und eine vermeintliche Globalalternative zu begründen. Denn dieser Diskurs zielt auf eine Gruppe, die nicht durch äußerlich sichtbare Merkmale bereits abgegrenzt und stigmatisiert ist. Mit der »Macht der Juden« aber gewinnt man eine Generalerklärung.

Besonders erfolgreich sind die rechtsextremen Parteien, denen es gelingt, zwischen dem radikalisierten konservativ-liberalen Pol einerseits und dem revolutionären Pol anderseits hin- und herzupendeln. Das Musterbeispiel dafür liefert der Front National. In den frühen achtziger Jahren, zu Beginn seiner Erfolge, war der FN eher national-konservativ ausgerichtet und zog den rechten Rand der bürgerlichen Wählerschaft an. Damals zeichnete er sich vor allem durch die Verteidigung der katholischen Privatschulen, der Agitation gegen die »islamische Flut« und eine klar pro-atlantische Ausrichtung aus.

Aus mehreren Gründen wandelte sich der FN in den neunziger Jahren zu einer Partei mit einem eher nationalrevolutionärem Profil, zu der die etablierten Parteien lieber Abstand hielten. Denn mit dem Umbruch 1989/90 schränkten sich die Spielräume der bürgerlichen Rechten ein, während sich für den FN ein neuer Platz in der Gesellschaft öffnete.

Die Strategen und Intellektuellen der extremen Rechten erkannten ihre Chance: Der Zusammenbruch des Realsozialismus sowie der wirtschaftsliberale Umschwung der Sozialdemokratie führten ihrer Ansicht nach zu einer Auflösung der gesellschaftlichen Fundamentalopposition. Genau diese Leerstelle, so ihre Vorgabe, galt es fortan zu besetzen. Das Bemühen um Salonfähigkeit bei Konservativen war damit passé.

Zugleich setzte Le Pen ungehemmt verschwörungstheoretische Thesen und kaum verhüllten Antisemitismus ein, um seinen Anhängern die Welt zu erklären. Damit bot er ein in sich geschlossenes, totalitäres Weltbild an. Selbst die moderne Kunst erschien in diesem Diskurs als »ein Komplott, das darauf abzielt, das Individuum vom Wahren, Guten und Schönen abzuschneiden und aus ihm einen manipulierbaren Roboter zu machen«, erklärte Le Pen im Januar 1993.

Sogar die Parteispaltung vor drei Jahren, die Le Pen des aktivsten Teils seiner Kader entledigte, konnte er sich am Ende zunutze machen. Eine Zeit lang verschwand er aus dem öffentlichen Blick, um dann mit einer Personality Show ein fulminantes Comeback zu feiern.

Seitdem ist Le Pen um ein weniger ideologisches Auftreten bemüht und setzt stattdessen auf die Inszenierung seiner Person. Und genau das ermöglichte seinen Triumph.

Ohne zu ideologischer Kohärenz verpflichtet zu sein, konnte er beide Resonanzböden in der Gesellschaft zum Schwingen bringen: den des sich nach dem 11. September verschärfenden Rassismus ebenso wie den des antisemitischen Verschwörungsdiskurses.

Kampagnenthema Law & Order

Eine besondere Funktion in der rechtsextremen Propaganda nimmt die innere Sicherheit ein. Tatsächlich stand dieses Thema in den Wahlkämpfen des Frühjahrs im Mittelpunkt - nicht nur bei der extremen Rechten, sondern auch bei allen staatstragenden Parteien. Nach der Präsidentschaftswahl im April gaben 58 Prozent aller Wähler an, die Sorge um die innere Sicherheit habe ihr Votum maßgeblich beeinflusst. Unter den Wählern von Le Pen waren es sogar 74 Prozent.

Bei den etablierten Parteien spiegelt die Forcierung des Sicherheitsdiskurses den grundlegenden Umbau der Staatsfunktionen wider, den Verlust der sozial regulierenden Funktionen des Staates zugunsten seiner repressiven. Zugleich glaubten die Bürgerlichen, auf diesem Wege die extreme Rechte eindämmen und deren Anhänger zurückgewinnen zu können. Das war ein fataler Irrtum, der auf der Unterschätzung der Eigendynamik des rechtsextremen Diskurses beruhte.

Bei oberflächlicher Betrachtung scheint die extreme Rechte auf diesem Gebiet lediglich das Korrektiv zu den staatstragenden Kräften abzugeben. Folglich genüge es, ihren Wählern einige machbare »Reformen« in Form von mehr Polizei und härteren Strafen anzubieten. Doch das bedeutet, dieses »Bedürfnis nach mehr Sicherheit« für real zu halten.

Tatsächlich aber ist es in vielfacher Hinsicht der subjektive Ausdruck einer sozialen Krisenwahrnehmung, die keine rationale Ausdrucksform findet. Wer jeden Tag in Angst davor lebt, von seinem Chef gemaßregelt zu werden oder seinen Job zu verlieren, wird subjektiv die Angst, sein Auto könnte von randalierenden Jugendlichen aus der Banlieue angezündet werden, auf eine vielfach verstärkte Weise erleben. Wenn er nicht an die Möglichkeit sozialen Widerstands denkt oder ihm keinerlei Chance gibt, kann diese Furcht zum Blitzableiter aller möglicher Frustrationen und Aggressionen werden, die auf diesem Wege auf eine vermeintliche Bedrohung projiziert werden können.

Häufig ist das Sicherheitsbedürfnis somit der gesellschaftlich legitimierte Ausdruck sozialer Frustration, die als Erschrecken vor einer angeblichen brutalen Ellenbogengesellschaft übersetzt und verzerrt wird. Macht- und Ausbeutungsverhältnisse werden dabei ausgeblendet. Stattdessen wird der Wunsch transportiert, sich in die Gemeinschaft der sich konform verhaltenden und daher endlich anerkannten Subjekte einzugliedern - die Autorität möge ihre geballten Machtinstrumente gegen jene richten, die dieser Integration nicht würdig seien. Dadurch wird auch die Kopplung dieses Sicherheitsbedürfnisses mit dem Wert- und Unwertdiskurs, der sich auf die soziale Rangordnung oder die Herkunft bezieht, erleichtert.

Diesen verzerrten und in autoritäre Wünsche übersetzten Ausdruck gesellschaftlicher Frustration als Ausdruck eines rationalen, materiell fassbaren Veränderungswunschs zu verstehen, greift bestenfalls zu kurz. Daher werden auch die Maßnahmen der neuen konservativen Regierung den Wettlauf zwischen autoritärer Politik und konformistischer Revolte keinesfalls unterbrechen können. Die nächste Runde kommt bestimmt.