Volkes Stimme

Drei Tage im August

Am 22. August jährt sich zum zehnten Mal das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen. Eine Zusammenfassung der Ereignisse

Erinnern Sie sich? »Wir sind ein Volk«, so lautete eine der Lieblingsparolen der Deutschen, damals, im Herbst 1989. »Deutschland einig Vaterland« stand ebenfalls ganz weit oben auf der Hitliste. Die Deutschen meinten es ernst. Und was man ernst meint, das macht man auch. 1990 wurde die Wiedervereinigung gefeiert. Währenddessen hatte sich längst eine andere Parole unter den Deutschen breit gemacht: »Deutschland den Deutschen - Ausländer raus«. Auch das war ernst gemeint. Allein im ersten Halbjahr 1992 registrierte die Polizei 30 Überfälle auf Flüchtlingsheime, vorwiegend im Osten Deutschlands.

Im August jenes Jahres ist es dann auch in Rostock so weit. Mehrere hundert Bürger und Neonazis greifen vom 22. bis zum 25. August mit Steinen und Brandsätzen das so genannte Sonnenblumenhaus an, in dessen zwei Blöcken die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (Zast) und ein Wohnheim untergebracht sind, das hauptsächlich von vietnamesischen Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeitern bewohnt wird. Währenddessen bejubeln die umstehenden Anwohner das Geschehen frenetisch mit der Parole: »Deutschland den Deutschen - Ausländer raus«. Die Polizei greift nicht ein.

Bereits im Jahr zuvor, vom 17. bis zum 21. September 1991, griffen Neonazis im sächsischen Hoyerswerda die dort untergebrachten mosambikanischen und vietnamesischen Arbeiter an. Im gut funktionierenden Zusammenspiel mit den Ortsansässigen und ohne größere Störungen staatlicherseits konnten die Angreifer die Räumung eines Flüchtlingswohnheims erzwingen. Danach, so schien es, waren alle Dämme gebrochen.

In Rostock-Lichtenhagen ergänzten sich die Polizei, die Medien, die Politiker und der tobende Mob derart gut, dass das Pogrom zu einem Meilenstein im deutschen Selbstfindungsprozess nach der Wiedervereinigung werden konnte. In den folgenden Wochen und Monaten gab es eine im Nachkriegsdeutschland beispiellose rassistische Mobilmachung, die sich gegen das im Artikel 16 des Grundgesetzes festgeschriebene Recht auf Asyl wandte.

Chronologie eines angekündigten Pogroms

Der Stadtteil Lichtenhagen ist ein Neubaugebiet in Rostock. Er ist geprägt von Plattenbauten, es gibt einen kleinen Supermarkt und die Zast, die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber in Mecklenburg-Vorpommern. Mit ihrer begrenzten Aufnahmekapazität ist die Zast der Anzahl der ankommenden Menschen meist nicht gewachsen. In anderen Gebäuden will man die Menschen jedoch nicht unterbringen; auch wenn es Alternativen gäbe, scheint dies von politischer Seite nicht gewollt zu sein. Wenn das Haus überbelegt ist oder die Menschen nicht während der Öffnungszeiten ankommen, müssen sie draußen übernachten, ohne dass die Zast oder die Stadt sich um Sanitäranlagen und Versorgung kümmern.

Ein Flüchtling aus Rumänien beschreibt die Situation so: »Und ich habe gefragt: 'Warum seid ihr alle draußen?' Mir wurde gesagt, dass sie kein Asyl mehr bekommen. Da waren Leute mit kranken Kindern. Wir wurden erniedrigt, wir hatten Hunger.«

Diese für die betroffenen Flüchtlinge unerträgliche Praxis ist den verantwortlichen Stellen schon lange bekannt. Der damalige Oberbürgermeister Klaus Kilimann (SPD) schilderte bereits 1991 detailliert in einem Brief an den Innenminister Mecklenburg-Vorpommerns, Lothar Kupfer (CDU), die Situation in der Zentralen Aufnahmestelle und machte Vorschläge für eine zusätzliche Unterbringung. Auch schien er die Bevölkerung nicht ganz falsch einzuschätzen, wie ein Auszug aus dem Brief zeigt: »Die Sicherheit aller ausländischen Bürger in Rostock ist in einem deutlich höheren Maß gefährdet. Gewalttätigkeiten gegenüber ausländischen Bürgern nehmen zu. Schwerste Übergriffe bis hin zu Tötungen sind nicht mehr auszuschließen.«

Diese Warnungen ignorierend, äußert sich Rostocks Innensenator Peter Magdanz (SPD) drei Tage vor den ersten Angriffen auf die Zast in den Norddeutschen Neuesten Nachrichten so: »Wenn wir weitere Unterkünfte zur Verfügung stellen, kommen noch mehr Asylsuchende. Das zeigt die Erfahrung.« In der gleichen Zeitung meldet sich auch eine Interessengemeinschaft Lichtenhagen zu Wort, die ankündigt: »Wenn die Stadt nicht für Ordnung sorgt, werden wir das tun.« Die regionalen Zeitungen bleiben weiter am Ball: »Lichtenhäger wollen Protest auf der Straße. (...) Am Abend werden wir alle auf die Straße gehen (...), die Roma werden aufgeklatscht und man wird sehen, dass die Leute aus den Fenstern schauen und Beifall klatschen.« (Ostseezeitung, 21. August 1992)

Für Samstag, den 22. August, wird ebenfalls in der Ostseezeitung zu einer Demonstration »gegen das deutsche Asylgesetz« aufgerufen. Sie findet zwar nicht statt, aber es kommt zu einer Menschenansammlung vor der Zast.

Dass von rechter Seite schon länger versucht wurde, die Bevölkerung Rostocks zu mobilisieren, war spätestens im Frühjahr 1992 zu erkennen. Damals kursierten in der Stadt Flugblätter von der »Hamburger Liste für Ausländerstopp - Rostock bleibt deutsch«. Auf Handzetteln wurde angekündigt: »Fidschis werden erdrosselt.«

Trotz dieser zahlreichen Hinweise auf Übergriffe wird bei der Polizei an diesem Wochenende keine besondere Einsatzlage ausgelöst, etliche Verantwortliche sind schlichtweg im Urlaub. Siegfried Kordus, der damalige Polizeichef von Rostock, ist sich auch im Nachhinein keiner Fehleinschätzung bewusst: »Ein solcher Aufruf wird von mir betrachtet wie ein Aufruf zu einem Lampion- oder Fackelmarsch gegen Fremdenfeindlichkeit.«

Sehr viel beunruhigter angesichts dieser Entwicklungen sind die neben der Unterkunft wohnenden vietnamesischen Familien, der Ausländerbeauftragte der Stadt, Wolfgang Richter, sowie einige Antifaschisten, die die Menschenmenge vor dem Haus von Beginn an beobachteten und filmten. Bis Samstagabend, den 22. August, versammeln sich etwa 1 000 bis 2 000 Rostocker Bürger vor der Zast und feuern etwa 500 Personen an, darunter Neonazis, aber auch viele Jugendliche aus dem Viertel, die rassistische Sprüche skandieren und beginnen, das Haus mit Steinen und Molotowcocktails anzugreifen.

In diesen Tagen sind auch bekannte führende Neonazikader aus Ost- und Westdeutschland in Rostock anwesend, insbesondere Aktivisten der Nationalistischen Front, der Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front (GdNF) und der FAP. Während die Polizei bei einer DVU-Veranstaltung knapp zwei Monate vorher mit 220 gut ausgerüsteten Beamten äußerst hart gegen eine Spontandemonstration von Antifaschisten vorging, sind am Samstag zunächst nur 35 PolizeibeamtInnen im Einsatz, die sich aber zurückhalten. Erst spät in der Nacht trifft Verstärkung ein.

Am Sonntag kommt es zu ähnlichen Szenen. Am helllichten Tag beginnt eine Gruppe von über 100 Menschen mit den ersten Angriffen auf das Haus. Fast ganz Lichtenhagen hat sich versammelt, der Imbiss »Happi Happi bei Api« gegenüber der Unterkunft hat geöffnet. Nur beim Einsatz gegen etwa 200 AntifaschistInnen, die eine Demonstration zur Zast durchführen wollen, findet die Polizei zu ihrem Ehrgeiz zurück. Die Antifas werden eingekesselt und festgenommen.

Das Flüchtlingsheim wird am Montag-nachmittag auf Veranlassung der Heimleitung evakuiert. Sowohl der Ausländerbeauftragte der Stadt, Wolfgang Richter, als auch die PDS-Abgeordnete Andrea Lederer informieren die Polizei darüber, dass sich im Nachbargebäude etwa 150 Vietnamesen in ihren Wohnungen aufhalten. Davon sei ihr nichts bekannt, erklärt die Polizei.

Dennoch erteilt Manfred Statzkowski von der Rostocker SPD, angeblich in Absprache mit den »Sicherheitskräften«, den vietnamesischen Familien den Rat, sich so zu verhalten, als sei das Haus unbewohnt, »um nicht mit ihrer Anwesenheit zu provozieren«. Denn es sei mit verschärften Angriffen zu rechnen. Obwohl tagsüber ein Krisenstab unter Beteiligung von Landesinnenminister Lothar Kupfer (CDU), Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU), der Polizeiführung des Landes Mecklenburg-Vorpommern sowie des Bundesgrenzschutzes (BGS) einberufen wird, erreichen die Angriffe am Montagabend ihren Höhepunkt.

Zwar sind inzwischen zwei Hundertschaften der Polizei aus Hamburg eingetroffen, sie bitten aber bereits um 16 Uhr dringend um Verstärkung, die jedoch von den entsprechenden Stellen nicht angefordert wird. Im Gegenteil: Gegen 21 Uhr werden sämtliche vor dem bewohnten Haus eingesetzten Beamten abgezogen. Später wird das damit begründet, dass sich die Lage nach Einschätzung der abwesenden Einsatzleitung beruhigt habe. Hunderschaftenführer waren über den Einsatzbefehl so verwundert, das sie mehrfach bei der Einsatzleitung nachfragten, ob sie sich wirklich aus den Auseinandersetzungen vor dem Haus zurückziehen sollten.

Kurz darauf werden die ersten Brandsätze in das nun ungeschützte Haus geschleudert. Der Fernsehsender RTL berichtet von etwa 800 Angreifern, die von über 3 000 Anwohnern angefeuert werden. Zwei Stunden greifen die vor dem Haus verbliebenen Polizisten nicht ein. Feuerwehrleute, denen es trotz fehlenden Polizeischutzes gelingt, bis vor das Sonnenblumenhaus vorzudringen, werden dort von Neonazis angegriffen und müssen hilflos wieder umkehren. Die Feuerwehr kann ohne Schutz nicht mit den Löscharbeiten beginnen. In den unteren Stockwerken brennt es, Rechtsradikale sind in das Gebäude eingedrungen. In dem Haus sind neben den Vietnamesen auch der Ausländerbeauftragte Richter, ein ZDF-Team und einige Antifaschisten eingeschlossen. Ihre Notrufe werden von der Berliner Polizei weitergeleitet, in Rostock meldet sich niemand. Erst gegen 23 Uhr kann die Feuerwehr beginnen, den Brand zu bekämpfen. Den eingeschlossenen Menschen gelingt es, über das Dach in das Nachbarhaus zu fliehen. Die Vietnamesen werden noch in der Nacht mit Bussen aus Lichtenhagen in eine Rostocker Turnhalle gebracht, wo sie tagelang bleiben müssen.

Medien, Mob und Meinungsmache

Der rassistische Mob von Rostock erreichte sein Ziel und hatte zudem kaum rechtliche Konsequenzen für den versuchten 150fachen Mord zu befürchten. Im Gegenteil, er konnte sich auf verständnisvolle Politiker und Medien verlassen.

Die gelungene Mobilisierung des »Volkszorns« ist ein wesentliches Merkmal des Pogroms. Sie zeichnet sich unter anderem durch die hartnäckige Verharmlosung der Geschehnisse und die politische Rechtfertigung potenzieller rassistischer Mörderinnen und Mörder aus. Zur Illustration sei hier der damalige Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, Lothar Kupfer, zitiert, der sich in einem Fernsehinterview direkt zu den Angriffen äußerte: »Man muss sagen, dass eine akute Gefährdung (der vietnamesischen Familien; d. Verf.) nicht gegeben war, und es hat auch keinerlei Verletzungen gegeben oder Rauchgasvergiftungen oder ähnliches.« Es war also alles gar nicht so schlimm.

Der damalige Bundesinnenminister Rudolf Seiters meinte sogar, dass es durchaus verständlich sei, wenn es aus einer sich zu Recht empörenden Menschenmenge zu Gewalttaten komme - zu verurteilen seien allerdings die organisierten Angreifer. Diese politischen Verharmlosungen des Pogroms bleiben unwidersprochen.

In den deutschen Medien spiegelte sich in dieser Zeit die gesellschaftliche Sicht der Ereignisse wider. Die Ausschreitungen in Rostock wurden durchgängig als Folge einer verfehlten Asylpolitik dargestellt. Das Asylrecht wurde mit der rassistischen Gewalt in einen ursächlichen Zusammenhang gebracht. Sachsens stellvertretender CDU-Vorsitzender Fritz Hähle erläuterte in der Dresdner Morgenpost: »Der Staat muss sein Gewaltmonopol gegen Gesetzesbrecher einsetzen. Das sind auch Ausländer. Es hätten die Ursachen der Gewalttätigkeiten bekämpft werden müssen, nämlich der Missbrauch des Asylrechts.«

Folgerichtig sprach die Bild-Zeitung auch von »Asylkrawallen«. Fast sämtliche Erklärungen dieser Zeit liefen darauf hinaus, die Übergriffe zu legitimieren. Ein allgemeines, mitleidendes, wenn nicht sogar solidarisches Einfühlen in die Täterinnen und Täter war angesagt. Und immer wieder wurde Volkes Stimme zitiert, Rostocker Bürger, die nicht nur ihr angebliches Leid ausgiebig schilderten, sondern gleichzeitig eine Plattform für ihre rassistischen Forderungen erhielten: »'Das mit den Ausländern war in Ordnung, aber das hier geht gegen Deutsche', sagte ein junger Mann. 'Die Asylanten sind ja weg. Wenn man was gegen die hat, soll man sich doch nicht an deutschen Autos vergreifen', meint ein anderer.« (Frankfurter Rundschau, 28. August 1992) Während die Frankfurter Rundschau Rostocker Bürgern, die sich um deutsche Autos sorgten, ein Forum bot, waren Interviews mit den Betroffenen nicht zu lesen, die Opfer wurden unsichtbar gemacht.

Die Empathie, die den Tätern in bemerkenswertem Ausmaß zukam, wurde den Opfern der Angriffe verweigert - auch von staatlicher Seite. Man beschäftigte sich nicht mit dem Rassismus breiter Teile der Bevölkerung, dafür aber gab es ausführliche Berichte und Diskussionen über die Situation in Lichtenhagen, Interviews mit Bürgern, die ihr Verhalten rechtfertigten, und Verweise auf die rigide Asylpraxis im europäischen Ausland.

Es gärt in Lichtenhagen

Der folgende Ausschnitt aus der Dresdner Morgenpost steht exemplarisch für den Tenor der damaligen Berichterstattung: »Wie konnte es zu diesem ekelhaften Ausbruch von Hass kommen? Seit Monaten gärte es im Stadtteil Lichtenhagen. Die Zast liegt mitten im Neubaugebiet, in dem 17 Prozent arbeitslos sind. Seit Wochen kamen fast nur Sinti und Roma zu Hunderten hier her, oft von illegalen Schlepperorganisationen geschleust. Die Zast war völlig überfüllt. Familien campierten im Freien, hinterließen bergeweise Schmutz, Zeugen sagen, dass Kinder und Jugendliche gezielt von ihren Vätern auf Beutetour geschickt wurden: Keller und Hausflure wurden ausgeräumt. Helga S. (43), Verkäuferin im Supermarkt vor der Zast: 'Die kamen in Horden ins Geschäft, klauten, plünderten und urinierten in die Regale.'« (Dresdner Morgenpost, 26. August 1992)

Solide rassistisch ging der Artikel dann weiter, als Problem wurden die Sinti und Roma ausgemacht. Der Gewaltausbruch sei zwar ekelhaft gewesen, doch in Lichtenhagen habe es gegärt, und so, wie eine Flasche, in der es gärt, ganz »natürlich« irgendwann platzt, sei es auch in Rostock zu einem Ausbruch von Gewalt gekommen. Rassistische Gewalt wurde zu einem naturgegebenen Phänomen erklärt, zu dem es in bestimmten Situationen eben komme.

Rassismus wurde zur anthropologischen Konstante. Weil gemäß dieser Logik die Flüchtlinge und nicht die Rassisten verantwortlich für den Rassismus sind, zog man die Schlussfolgerung, dass der Rassismus bekämpft werden könne, indem keine Flüchtlinge mehr aufgenommen würden. Ähnlich argumentierte ein Kommentator in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: »Wird ein Anteil von fremdartigen, sich an die Sitten des Landes nicht einmal ansatzweise anpassenden Zuwanderern erreicht, die zudem in ihrer großen Mehrheit den Namen Asylbewerber nicht verdienen, und schafft es der Staat nicht, solche Leute nach kurzer Zeit abzuschieben oder besser erst gar nicht ins Land zu lassen, gibt es Eruptionen bei einer Bevölkerung, die selbst innerlich Asyl suchen möchte auf einer sozialstaatlichen Insel der seligen Sicherheit.« (FAZ, 25. August 1992)

Das Fazit lautete, dass die Situation in Rostock-Lichtenhagen unerträglich gewesen sei - für die Rostocker Bürger. Wer wollte es ihnen da noch verübeln, dass sie sich zusammenrotteten, um »aufzuräumen«? Ministerpräsident Bernd Seite und der damalige SPD-Vorsitzende Björn Engholm jedenfalls nicht: »Ministerpräsident Seite sagte, die Rostocker seien nicht bereit, den Asylmißbrauch, vorwiegend von Sinti und Roma, hinzunehmen. SPD-Chef Engholm zeigte Verständnis für manches Ärgernis über das Verhalten einiger Asylbewerber.« (TZ, 25. August 1992)

Bei soviel Einfühlungsvermögen war es auch wenig verwunderlich, dass die SPD noch während des Wochenendes ihre Zustimmung zu einer Änderung des Artikels 16 GG gab, die sie bisher abgelehnt hatte. So kam den Angreiferinnen und Angreifern die Rolle der Ordnungsmacht zu, sie fungierten als Vollstrecker des »Volkswillens«. Einerseits stellten Politiker und Kommentatoren die Rassisten fast durchgehend als die eigentlichen Opfer dar. Zugleich wurde täglich gegen das Asylrecht gehetzt. Bei so viel Verständnis für Rassismus war es kaum verwunderlich, dass immer neue Anschläge verübt wurden. Und nicht nur das: Jeder Übergriff zeigte, wie dringlich die Änderung des Grundgesetzes sei.

Plattenbau und blühende Landschaften ...

Ein weitere entlastende Begründung für das Pogrom wurde in der Tatsache gesucht, dass Rostock im Osten liegt. Dass sich in den Krawallen enttäuschte Erwartungen als Rassismus ausdrückten, war die These der Titelgeschichte im Spiegel vom 31. August 1992: »Vor allem Enttäuschung über Bonner Politik-Versagen und über das Elend im Osten hat sich bei den Krawallen von Rostock entladen. (...) Tiefer Verdruss grassiert unter den Menschen in den neuen Ländern, denen Kanzler Kohl 1990 versprochen hatte, binnen weniger Jahre ein 'blühendes Land' zu schaffen - und die sich nun als Leidtragende der zweiten ökonomischen Teilung Deutschlands sehen.« (Spiegel, 31. August 1992). Warum die ehemaligen Bürger der DDR ihren Frust über die Folgen der Einheit nicht vor dem Bonner Bundeskanzleramt ausließen, vermochte der Spiegel nicht zu erklären.

Aber nicht nur die Enttäuschung, die dem Einheitstaumel folgte, wurde als Ursache für das Pogrom genannt, auch die Erziehung in DDR-Kindergärten, die Plattenbauten oder fehlende Jugendzentren dienten als Begründung für die »Gewalttätigkeit der Jugendlichen«. Die bemitleidenswerten, arbeits- und perspektivlosen Jugendlichen wurden seitdem in jeder öffentlichen Diskussion über Rechtsextremismus angeführt und mussten als Grund für die fast flächendeckende Einführung der akzeptierenden Jugendarbeit in den neuen Bundesländern herhalten, die bis heute Neonazis den finanziellen und räumlichen Aufbau ihrer Strukturen ermöglicht.

Nicht nur, dass die rassistischen Angriffe verteidigt wurden. Zugleich wurde auch versucht, die antifaschistischen Gegenaktivitäten an jenem Wochenende zu diskreditieren. Während einer Sondersitzung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags, die am 31. August 1992 wegen des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen einberufen wurde, erklärte der damalige Innenminister Rudolf Seiters, bei den Ausschreitungen in Rostock habe es auch erste Anzeichen für ein gemeinsames Zusammenwirken von linksextremen Autonomen und rechtsextremen Skinheads gegeben, die gemeinsam gegen die Polizei vorgegangen seien.

Die Frankfurter Rundschau übernahm diese Interpretation und kommentierte am 25. August 1992 die Ereignisse in Rostock so: »Alle sind sie wieder da. (...) Ein paar Skinheads. Ein paar Autonome. Ein paar Hooligans. Mit den Einheimischen zusammen ergeben sie eine geschätzte Zahl von etwa 500 Randalierern.« Der damalige parlamentarische Geschäftsführer der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, Jürgen Rüttgers, legte später nach: »Kriminelle Horden, die Asylbewerber angreifen, Polizisten mit Steinen bewerfen oder Gedenkstätten der Judenvernichtung anzünden, greifen den Kern unseres Gemeinwesens an. Hier rotten sich rechte und linke Extremisten zusammen.«

Die Polizei sorgte sich, passend zu dieser Einschätzung, dass es bei der antifaschistischen Demonstration am Wochenende nach den Angriffen zu einer »Fortsetzung der Krawalle« kommen könne, da »Autonome aus ganz Deutschland« in Rostock demonstrieren wollten, um anscheinend das fortzuführen, was eine Woche vorher vom rassistischen Mob begonnen wurde. Bei dieser Demonstration waren mehrere tausend Polizeibeamte im Einsatz, die die Situation fest im Griff hatten und keine Antifaschistin und keinen Antifaschisten aus dem Blick verloren, sofern sie die umfangreichen Vorkontrollen und Personalienfeststellungen auf den Autobahnen passieren konnten. Nachdem eine Woche zuvor der Polizeiapparat gegen die Meute nicht zum Einsatz gebracht worden war, zeigte er mit der Absperrung einer Autobahn und mit am Horizont kreisenden Hubschraubern nun eindrucksvoll, wozu er im Stande ist, wenn es gilt, gegen Linke vorzugehen.

Lichterketten und die Folgen

In Rostock fand eine gesellschaftliche Entwicklung ihren Höhepunkt, die nicht erst mit der Wiedervereinigung eingesetzt hatte. Bereits seit langem hatte sich der nationale Konsens nach rechts verschoben: angefangen mit der »geistig-moralischen Wende« unter der Regierung Helmut Kohls über die Versöhnung auf den SS-Gräbern in Bitburg bis zum so genannten Historikerstreit. Was bei den Übergriffen in Hoyerswerda begonnen worden war, wurde fortgeführt und auf die Spitze getrieben. Denn in Hoyerswerda war es dem Mob erstmals erlaubt, Ausländerheime nicht mehr allein in Nacht-und-Nebel-Aktionen anzugreifen, sondern dies ganz offen am helllichten Tag zu tun.

Als sich zeigte, dass ein solches Vorgehen akzeptiert wird, konnten die Neonazis nach den Rostocker Erfahrungen damit beginnen, das Konzept der »national befreiten Zonen« umzusetzen und rassistischen Straßenterror im deutschen Alltag zu etablieren. Auch wenn bekannt war, dass Nazikader nach der Öffnung der Mauer verstärkt Strukturen in Ostdeutschland aufzubauen versuchten, ist dem nur wenig entgegengesetzt worden. Die vormals linksliberale Öffentlichkeit wandelte sich im nationalen Taumel. Selbst die NPD wähnte sich nach rechtsaußen abgedrängt und versuchte, sich im Wahlkampf mit dem Spruch »Wählt das Original« zu profilieren.

Trotz der folgenden Lichterketten und symbolischen Verbote von Nazi-Organisationen blieben antirassistische Positionen, die sich gegen die Abchaffung des Asylrechts richteten, die Sache einer Minderheit. Auch von antifaschistischer Seite konnte der Entwicklung wenig entgegengesetzt werden. Während des Pogroms gelang es nicht, erfolgreich zu intervenieren. Zwar verhinderte die Polizei die Intervention von 200 AntifaschistInnen in der Nacht vor dem Brand des Sonnenblumenhauses und nahm auch an den folgenden Tagen immer wieder anreisende Antifas fest, dennoch ist es als Niederlage anzusehen, dass es nicht gelang, zahlreich und organisiert gegen den Mob vorzugehen.

Die Demonstration am Samstag nach dem Pogrom mit rund 15 000 TeilnehmerInnen schwankte in ihrem Selbstverständnis - manche wollten eine Strafexpedition durch den Stadtteil, andere appellierten an diejenigen Lichtenhagener, die das Pogrom nicht gewollt und unterstützt hatten. So kam die Demonstration viel zu spät.

In den Diskussionen nach Rostock, aber auch schon nach Hoyerswerda, wurden innerhalb der Linken verschiedene Positionen zum Umgang mit der Bevölkerung deutlich. Auch unter dem Eindruck von Meinungsumfragen, die zeigten, dass in der »Arbeiterschaft« ein besonderes Potenzial für rechtsextreme Parteien vorhanden war, wurden von vielen antifaschistischen Gruppen Aufklärungskampagnen gestartet, die zum Ziel hatten, Arbeiter über rechtsextreme Parteien aufzuklären. Diese Kampagnen implizieren allerdings, das »deutsche Proletariat« habe ein rebellisches Potenzial, das nur in die richtigen Bahnen gelenkt werden müsse.

Rassismus wird dabei oft als Instrument der Bourgeoisie zur Spaltung der Arbeiterklasse angesehen. »Die Grenzen verlaufen nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten«, war 1993 auf einem Plakat von Hamburger Antifaschisten zu lesen. Dass ein Großteil der deutschen Arbeiter jedoch genau diese »Grenzen zwischen den Völkern« schätzt, hat das Pogrom von Rostock gezeigt. Andere Linke verweigerten grundsätzlich jede positive Bezugnahme auf eine Bevölkerung, in der sich nationalistische und rassistische Stimmungen durchsetzten.

Rostock und die nachfolgende Abschaffung des Asylrechts gehörten ebenso zur Wiedererlangung der eingeschränkten Souveränität des deutschen Staates wie die so genannte Wiedervereinigung und der Kosovo-Krieg. Für Deutschland stand 1992 etwas anderes auf dem Spiel als etwa im Sommer 2000, als eine Reihe rassistischer Übergriffe - die mit den Ausmaßen des Rostocker Pogroms nicht vergleichbar sind - und der gegen russische Juden gerichtete Bombenanschlag in Düsseldorf zu staatlichen Repressalien gegen Neonazis führte. Nachdem mit der »Wiedervereinigung« die Volksgemeinschaft geeint war, machte sie sich auf, das Asylrecht - von den Alliierten nach dem Krieg in der Verfassung verankert - zu bekämpfen und selbst zu bestimmen, wer das Recht hat, in Deutschland zu leben, und wer nicht.

Insofern waren Rostock und die Asyldebatte wichtig für die nationale Formierung. Rostock lieferte den Treibstoff auf dem Weg Deutschlands zu einer »normalen« Nation, die sich gerade wiedervereinigt hatte und sich wieder an Kriegen beteiligen sollte.