Fließende Landschaften
Solche stinkend faulen Schweine, das ist ja unverantwortlich«, sagt der Mann, als er die parkenden Autos der Gaffer an der Zufahrt zum Deich sieht. Wenn man in diesen Tagen in Bitterfeld am gefüllten Tagebaurestloch vor einem neuen See steht, schaut man auf das Produkt einer Übererfüllung. Diesen Stand sollte der See eigentlich erst in acht Jahren haben und nicht in zwei Tagen, erklärt der Leiter eines freiwilligen Hilfskommandos. In der DDR hätte man gesagt: Plan übererfüllt. Er lacht.
An den Seeufern sitzen Menschen, die seit kurzem zu einer neuen sozialen Gruppe gerechnet werden, wenn man den Medien glaubt. Hochwassertouristen oder Gaffer, so werden sie genannt. Neben ihnen arbeiten Kolonnen von Sandsäckestaplern. Das sind die anderen, die Helfer. Edles Tun, von den Gaffern misstrauisch beäugt. Beide Gruppen sind aus derselben Stadt. Die einen gucken, die anderen packen an.
»Wisst ihr, wie schnell der See vollgelaufen ist?«, frage ich. »Nee, gestern stand da noch'n Baum, heute isser weg.« Zwölf Zentimeter pro Sunde, heißt es von offizieller Seite. Ein Fernsehteam probt am neu entstandenen Strand Einstellungen. Alles ist lustig. Der neue See ist ein angenehmeres Thema als die von der Flut zerstörten Orte. Wohlwollend sagt der Teamchef beruhigende Worte zu den Sandsackschleppern. Sie schauen skeptisch. Einer der Gaffer meint: »Baden jehn? Einfach zum Fenster raushuppen!« Ein anderer Mann, mit Fernglas, Videokamera und Frau, die gelangweilt zwei Schritte hinter ihm steht, filmt verbissen den Ernst des Lebens: eine Polizeikolonne. Auf den Autos steht: »Polizeiberuf, so interessant wie das Leben.«
Im Radio sagt der Nachrichtensprecher, Bitterfeld sei voll gelaufen und evakuiert. Das stimmt zwar nicht, aber vielleicht stimmt es ja in zwei Tagen.
Wie sieht es in Dessau aus? Am Ortseingang steht unmissverständlich: »An Dessau kommt keiner vorbei.« Auch das Hochwasser nicht, möchte man meinen. Im Radio kommt der Begriff, auf den ich die ganze Zeit wartete: die Flut. Von Joachim Witt. Aber wo ist sie, die Flut? Joachim Witt singt, dass sie kommt. Also warten? In der Bild-Zeitung spricht man von der »Sintflut«. Aha.
In Dessau bleibt sie zunächst aus. Auf einer Brücke herrscht Volksfeststimmung. Der Nachrichtensender News stellt Coca Cola bereit. Die Situation an den Muldewiesen wirkt wie eine Inszenierung. Die Leute stehen am Fluss, gucken und machen Sprüche. »Und, Keller schon voll?« - »Nee, mir ham doch 'ne Wanne.« Ein Wasserfahrzeug aus den Sechzigern kommt vorbei. Die Leute lachen. Katastrophentourismus? Flutgaffer? Eher der Blick auf das Ungewöhnliche. Doch das erscheint den anderen anstößig. Und Bild bringt's auf den Punkt. Von grenzenloser Solidarität ist dort die Rede. Die anderen, die nicht helfen, sind Gaffer.
Auf nach Dresden! Der Weg ist nicht einfach. Grimma muss weiträumig umfahren werden. Die Nachrichten melden Verheerungen in der Stadt. Die Flutwelle erscheint übermächtig. Zunächst, weil alles gesperrt ist, nach Roßwein an der Freiberger Mulde. Der Fluss hat sich zurückgezogen und ein Bild der Verwüstung hinterlassen. Die Leute räumen ihr Hab und Gut, aus dem nun schlammverkrusteter Sperrmüll geworden ist, auf die Straße. Die Gartenzwerge haben auch nicht überlebt. Gedrückte Stimmung, Stille, Staub in der Luft. Kein Hochwassertourismus. Also weiter.
Der MDR berichtet, Dresden sei gesperrt. Ich komme mit meinem Presseausweis problemlos hinein. In Neustadt ist die Lage scheinbar normal. Die Straßen enden irgendwo im Wasser oder in Sandsackbarrieren. Weiter oben sind die Cafés gut gefüllt. Das Wetter ist schön, gelassene Stimmung, denkt man. Aber die Flut? Auf der Carolabrücke herrscht Gedränge. Es ist so voll, dass eine Fotografin jemanden vor ihr anstößt. »Könnse nich offpassen?« - »Habsch doch, aber isch hab nach hinten geguggt.« - »Ja, nach hinten. Beim Loofen guggt mor nach voorne. Sie mit ihrer Gamera!«
Meine ortskundige Begleitung meint, es sei eine stille, schöne Katastrophe. Und in der Stadt flaniere man nach wie vor, egal ob der Pegel zwei oder acht Meter misst. Und was die im Radio meckerten. Die Leute sollten herkommen und sich das ansehen. Was die Stadt brauche, seien Leute, die Geld ausgeben, hier, und nicht im Prenzlauer Berg. Am nächsten Tag, am Telefon, relativiert sie das: Diejenigen, die flanieren, hätten keinen Ärger. Den anderen ginge es schon ganz schön beschissen.
»Plündert die Synagoge«, sagt ein Mann grinsend zu seiner Begleitung, als wir dort vorbeikommen. Sie ragt aus dem Wasser. Ein Rabbiner schaut friedlich auf die ihn anstarrenden Leute.
Die stille, schöne Katastrophe wird gestört vom ständigen Heulen des Martinshorns und vom Hubschraubergeknatter. Auf dem Uferweg auf der Brühlschen Terrasse dagegen entspannte Ruhe, während sich die Radiomeldungen überschlagen. Hunde baden im neuen Teich vor der Semperoper. Das Ganze gleicht einer großen Kunstaktion. Überall flattern Polizeiabsperrungsbänder; merkwürdige Sandsackreihen liegen herum, werden aufeinander gestapelt oder verschwinden wieder. Glucksendes Wasser, Touristen und Flaneure mit zahllosen Kameras. Männer können endlich ihre Kamera ausprobieren. Die größten Künstler sind diejenigen, die während des Radfahrens mit ihrer Webcam filmen können. Die Leute sehen auf das, was sie sonst nie sehen. Nur die, die ständig Sandsäcke stapeln oder umschichten, erscheinen sonderbar.
Heftige Worte, wie in Bitterfeld, hört man hier nicht. Die Stimmung ist gelassen. Auf einem Schild steht: »Dresden, wie es einmal war.« Dahinter sitzen Leute auf Sandsäcken und halten ein Picknick ab. Wird Dresden nach der Flut so sein, wie es einmal war? Offensichtlich stören die Sandsäcke zumindest die Radfahrer. Zwei fahren durchs Wasser, dass es nur so spritzt: »Das iss ja eene midreißende Sache.« Die Stapler schauen irritiert.
»Hallo, gähnse ma off die andre Seite«, sagen vier Polizeihelfer fast gleichzeitig zu mir, als ich mich über das Brückengeländer beuge, um den Strom, der gegen die Brücke drückt, zu beobachten. Ein kleiner Junge schaut die Ordnungshüter an und sagt: »Papa, wer wird Polizist?« - »Die besten werden Polizisten«, antwortet er.
Während ich meine Flutbratwurst esse, kommentiert der Verkäufer die Bild-Zeitung: »Jetzt heests schon Jahrtausendflut. So'n Quatsch. Wissen doch jar nich, was in tausend Jahren noch passiert.« Ein Mann blickt aufs Wasser und sagt: »Schöne Kahnanlegestelle.« Seine Frau zieht ihn genervt weiter. Auf einer der letzten Bänke am Ufer pennen zwei Punks. Die Flut steigt. Ich gehe zurück zum Auto. Nach vier Stunden Fluttourismus in Dresden bin ich ganz entspannt. Ein Wagen rast mit Martinshorn vorbei: »Unfallforschung« steht an einer Seite. Ein Kollege von der Super-Illu, der neben meinem Auto steht, scheint ganz zufrieden mit dem Tag, meint aber: »Ständig Behinderungen. Ich musste diesen Hilfspolizisten erst mal erklären, was Pressefreiheit ist.«
Auf der Rückfahrt meldet der MDR: unglaublich, so viele Gaffer in der Stadt, man sollte überall Absperrungen errichten.