Keine Aufklärung

An einer juristischen Aufarbeitung der Rostocker Pogrome zeigte der Staat kaum Interesse. Die meisten Verfahren wurden eingestellt, die Täter kamen mit Bewährungsstrafen davon.

Die Bilanz der Ermittlungsbehörden nach den Brandnächten von Rostock-Lichtenhagen sah von Anfang an schlecht aus. 260 Festnahmen meldete die Polizei am Ende der Woche - darunter befanden sich auch über 100 Antifas. Nur 30 Haftbefehle wurden ausgesprochen, angesichts einer Zahl von rund 800 militanten Angreifern und mehreren tausend applaudierenden Zuschauern.

Nach dem Pogrom leitete die Rostocker Staatsanwaltschaft zwar rund 300 Ermittlungsverfahren ein. Doch die Mehrzahl wurde unter fadenscheinigen Begründungen wieder eingestellt. »Anlässlich der Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen konnte bei keinem der beteiligten Gewalttäter der Nachweis einer Volksverhetzung geführt werden«, hieß es in der Einstellungsverfügung. Rufe wie »Ausländer raus« seien zwar »im weiteren Sinne diskriminierend und ausländerfeindlich«, nicht jedoch »volksverhetzend«.

Ein anderes Argument, das die Strafverfolger immer wieder anführten, war der angebliche Mangel an Beweismaterial. Einen Monat nach dem Pogrom hatte der Dokumentationstrupp der Mecklenburger Bereitschaftspolizei der Staatsanwaltschaft immer noch keinen Film vorgelegt. Und der Verfassungsschutz habe keine Dokumentationstrupps vor Ort einsetzen können, »weil die sofort in der Menge mit ihren Kameras aufgefallen wären«, sagte der damalige VS-Chef von Mecklenburg-Vorpommern vor dem Untersuchungsausschuss des Schweriner Landtages. Dabei waren in Lichtenhagen rund 30 Kamerateams und etliche Fotografen anwesend.

Angesichts der mageren Ausbeute verlegte sich die Staatsanwaltschaft in einigen Verfahren darauf, einschlägiges Material der Sendeanstalten anzufordern oder beschlagnahmen zu lassen. Auf unzähligen Fernsehbildern sind kaum vermummte junge Männer zu sehen, die sich ihrer Taten brüsten. Außerdem sichtete der Rostocker Staatsschutz Videos, die Anwohner von Balkons herab und aus der Menschenmenge heraus gedreht hatten.

Doch der Eindruck, dass hier keineswegs mit Nachdruck ermittelt wurde, erhärtete sich schnell. So wurden z.B. weder die 150 knapp dem Flammentod entkommenen vietnamesischen Vertragsarbeiter noch die wenigen deutschen Unterstützer jemals von der Polizei als Zeugen vernommen. Dabei hatten sie von Anfang an berichtet, einige der Angreifer identifizieren zu können, vor allem Nachbarn aus Lichtenhagen.

In einer Reihe von Fällen, in denen Täter der Polizei und der Staatsanwaltschaft namentlich bekannt waren, zeigten die Beamten wenig Interesse daran, weitere Nachforschungen anzustellen. So wurden den Ermittlern beispielsweise in einem Fall die Namen von einem halben Dutzend Boizenburger Neonazis genannt, die gemeinsam mit einem Beschuldigten Angriffe verübt hatten. Doch die Spur verliert sich, es ist nicht erkennbar, dass die Rechten wegen der belastenden Aussagen überhaupt zu Vernehmungen vorgeladen wurden.

So verwundert es denn auch nicht, dass lediglich in 32 Fällen Anklage erhoben wurde, zumeist wegen Landfriedensbruchs. Zwar verurteilte das Landgericht Rostock im April 1993 drei Schweriner Neonazis, die in Fernsehaufnahmen zu sehen waren, als sie in eine Wohnung im Sonnenblumenhaus einstiegen und diese lachend und unter Beifall in Brand setzten, wegen schwerer Brandstiftung und Landfriedensbruchs zu Haftstrafen zwischen zwei und drei Jahren. Doch knapp drei Dutzend Prozesse, die vor dem Rostocker Amtsgericht stattfanden, endeten in den meisten Fällen mit geringen Bewährungsstrafen, Jugendarrest oder Betreuungsauflagen wie der Teilnahme an sozialen Trainingsstunden. Fast immer fanden die Richter Gründe für eine Strafmilderung. Mal war es Alkohol, mal die schlechte soziale Lage oder die Arbeitslosigkeit der Angeklagten. So wurde in einem Fall das Verhalten des Angreifers als »lediglich symbolisches Aufmucken« bewertet.

Dass viele Rostocker Richter, von denen eine ganze Reihe aus den alten Bundesländern kamen, zu milde Urteile fällten und zuviel Sympathie für die Angeklagten an den Tag legten, bestritten alle Seiten vehement. So erklärte der Direktor des Amtsgerichts Rostock, die Mehrzahl der Angeklagten seien »nicht vorbestrafte Jugendliche und Heranwachsende« gewesen. »Eine Sonderbehandlung der an den Ausschreitungen Beteiligten« sei »rechtlich nicht vertretbar«. Im Sommer 1993, ein Jahr nach dem Pogrom, verkündete der Amtsgerichtsdirektor dann auch erleichtert: »Für uns ist die Sache seit einem halben Jahr so gut wie abgeschlossen.« Es sei lediglich mit »ein paar Nachzüglerverfahren« zu rechnen.

Als die Agenturen im Oktober 2001 meldeten, vor dem Schweriner Landgericht würde im November ein Prozess gegen vier Schweriner Rechtsextreme wegen versuchten Mordes im Zusammenhang mit dem Pogrom von Lichtenhagen im Jahr 1992 beginnen, glaubten viele, sie hätten nicht richtig gelesen. Gegen die damals 17 bis 19jährigen waren im September 1992 Haftbefehle erlassen worden. Doch sie wurden nach wenigen Tagen wieder aufgehoben - von Richter Horst Heydorn, der in den folgenden neun Jahren dafür sorgte, dass das Verfahren nicht eröffnet wurde.

Zum Zeitpunkt ihrer Festnahme waren die vier Skins in Schwerin längst als rechte Schläger polizei- und gerichtsbekannt. Obwohl die Staatsanwaltschaft Schwerin im April 1995 die Anklage gegen die vier formulierte, verzögerte sich das Verfahren noch einmal um fast sechs Jahre. Die Jugendkammer unter Vorsitz von Richter Heydorn sei »überlastet gewesen«, hieß es. Außerdem, so Heydorn, seien die vier Angeklagten »bodenständige Mecklenburger Jungs« gewesen, bei denen keine Fluchtgefahr bestanden habe.

Tatsächlich setzten die »Jungs« ihre Schlägerkarrieren ungehindert fort. Bewährungs- und Haftstrafen wegen Körperverletzungsdelikten wechselten sich mit einschlägigen rechten Propagandastraftaten ab. Die jahrelange Verschleppung durch Heydorn führte dazu, dass der Prozess gegen den vierten Angeklagten eine Woche vor Beginn wegen Verjährung eingestellt wurde. Übrig blieben drei Angeklagte, die vor Gericht keinerlei Einsicht zeigten. Dass ihnen anders als ihren Gesinnungsgenossen nicht mehr lediglich schwere Brandstiftung, sondern versuchter Mord vorgeworfen wurde, liegt an einer Änderung der Rechtsprechung.

Unter dem Eindruck von hunderten von Brandanschlägen auf bewohnte Flüchtlingsheime hatte der BGH 1994 entschieden, dass solche Angriffe als versuchter Mord angeklagt werden können. Und noch etwas unterschied diesen Prozess von den vorausgegangenen: die Präsenz der Opfer. Zwei von ihnen, der ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter Nguyen Do Thinh, der die Rostocker Begegnungsstätte Dien Hong leitet, und der Rostocker Ausländerbeauftragte Wolfgang Richter traten als Nebenkläger auf. Ihnen war es zu verdanken, dass in dem Prozess auch die Fragen nach der politischen und polizeilichen Verantwortung für das Pogrom gestellt wurden.

Antworten erhielten sie nicht. Immer wieder verwiesen Zeugen auf Erinnerungslücken und blieb Beweismaterial verschollen. Am Ende kam es trotzdem zu Verurteilungen. Angesichts des Alters der Angeklagten zur Tatzeit kamen die Skins mit Bewährungsstrafen bis eineinhalb Jahre glimpflich davon. Die Staatsanwaltschaft hatte jeweils zwei achtzehnmonatige Bewährungsstrafen und eine achtzehnmonatige Haftstrafe ohne Bewährung gefordert. Günstige Sozialprognosen und die lange Verfahrensdauer führte Richter Heydorn als Grund für Bewährungsstrafen an.

Die Nebenkläger werteten den Ausgang des Prozesses trotzdem als befriedigend. »Das Urteil ist ein deutliches Signal auch an die Mittäter«, so Wolfgang Richter. »Mehr hatten wir nicht erwartet«, fügte Nguyen Do Thinh hinzu. Er kritisierte, dass auch in diesem Prozess keine Antworten auf die »noch immer ungeklärten Fragen der politischen Verantwortung« gefunden worden seien.

Juristisch wurden die Verantwortlichen von der Polizei und der Justiz ohnehin nie behelligt. Im September 1995 lehnte es beispielsweise das Rostocker Oberlandesgericht letztinstanzlich ab, das Verfahren gegen den früheren Polizeichef von Rostock, Siegfried Kordus, zu eröffnen. Die Staatsanwaltschaft hatte wegen fahrlässiger Brandstiftung durch Pflichtverletzung und unterlassene Aufsicht gegen Kordus Anklage erhoben. Die Ermittlungen hätten keine Möglichkeiten aufgezeigt, so das Gericht, mit denen Kordus, der während des Einsatzes die Dienststelle verlassen hatte, weil er »sein Hemd wechseln« wollte, das Desaster hätte zwingend abwenden können. Vier Jahre später stellte das Oberlandesgericht Rostock auch das Verfahren gegen den Polizeieinsatzleiter Günther Deckert ein, der heute an der Führungsakademie der Landespolizei »Einsatztaktik« lehrt.

Aber nicht allein die juristische Bilanz des Pogroms von Lichtenhagen fällt bitter aus. Das Pogrom war mehr als ein Signal für das Zurückweichen der Staatsmacht und der Politiker vor dem rassistischen Mob und mehr als ein Signal an den Mob, die Gewalt zu eskalieren. Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen markierte das Ende der alten Bundesrepublik. Am 24. August 1992 haben der Staat und seine Organe ihre Schutzverpflichtung aus dem Grundgesetz, mit der die körperliche Unversehrtheit aller in Deutschland Lebenden garantiert werden soll, aufgekündigt.