Ein Jahr nach dem 11. September

Turbulente Zeiten

Seit dem 11. September gibt es noch mehr Sonderregeln für Menschen, die als Fremde bezeichnet werden.

Turbulenz: Bewegungszustand von Flüssigkeiten oder Gasen, bei dem der mittleren Hauptbewegung starke Wirbelbewegungen überlagert sind, die zu völlig unregelmäßigen Schwankungen von Druck und Geschwindigkeit in der Strömung führen (Strömungslehre). Dadurch wird der Reibungswiderstand an Flächen (z.B. Wänden, Leitungen, Kanälen, Tragflügelprofilen) wesentlich vergrößert. Der Große Brockhaus, 2001

Ein Jahr danach ist kaum besser als am Tag davor zu ermessen, was in 17 Jahren, um eine ebenso willkürlich gewählte Zeitspanne zu nehmen, das Besondere des 11. September 2001 gewesen sein wird. Noch immer ist das Wissen um die Täter und ihre Motive gering. Noch immer steht das Geschehen weitgehend frei im Raum.

Das macht den Massenmord nicht zu etwas Überzeitlichem und schon gar nicht zu einer Katastrophe, diesem von Ernst Lohoff so befremdlich und oft verwendeten Begriff, der zielgerichtete menschliche Handlungen in ein anonymes Naturgeschehen verwandelt. Aber wo er politisch genau zu verorten ist, in welchem Koordinatenkreuz er zu bewerten ist, kann derzeit nicht bestimmt werden.

Anders als beispielsweise die Anschläge des »Schwarzen September« Anfang der siebziger Jahre, deren antizionistische und antisemitische Zielrichtung sich nicht nur aus den Erklärungen der Kommandomitglieder, sondern auch aus den Taten selbst und ihrem unmittelbaren politischen Kontext erschlossen hat, anders auch als bei erkennbar nur auf Terror zielenden Anschlägen faschistischer Einzelpersonen und Gruppen, die recht wahllos auf öffentliche Einrichtungen und Gebäude wie den Hauptbahnhof in Bologna, das Oktoberfest in München oder das Bürohochhaus in Oklahoma City zielten, weiß niemand, was die Attentäter des 11. September 2001 genau mit ihrem Anschlagsziel verbunden haben: ob sie damit einfach viele Menschen oder ein Sinnbild des Finanzzentrums New York treffen wollten, ob es ihnen darauf ankam, Rache für das enge Bündnis zwischen den USA und Israel zu nehmen, oder ob sie einfach das, was viele als Neue Weltordnung bezeichnen, attackieren wollten, ob sie sich in der Tradition eines Antiimperialismus sahen oder ob es ihnen nur um das Hochhalten einer imaginierten islamischen Wertegemeinschaft ging.

Dass Mark Terkessidis in seinem Beitrag (Jungle World, 34/02) dennoch wähnt, präzise Aussagen machen zu müssen, uns verraten zu können, was die »Regisseure« der Anschläge kalkuliert, worauf sie abgezielt haben und wen sie damit vertreten wollten, ist insofern erstaunlich. Es passt sich aber zugleich ein in den intellektuellen mainstream, dessen zahlreiche ProtagonistInnen von Noam Chomsky über Arundhati Roy bis zu Jean Baudrillard, noch bevor die ersten Toten beerdigt waren, mit starken Deutungen aufwarteten, die dem zerstörten Leben allenfalls als Material für Statistiken Beachtung schenkten und die Taten in Zeichen verwandelten.

Weil diese Autoren sich längst lieber, als sich mit der Wirklichkeit, den Interessen dort und den Geschichten, die in ihr erlebt werden, auseinanderzusetzen, in eine Welt der Symbole, Interpretationen und Inszenierungen begeben, geht Terkessidis auch der Satz glatt aufs Papier, bei dem Anschlag handelte es sich um »einen Massenmedien-Akt (...), eine Handlung also, die Körper mit Hilfe von medialer Aufmerksamkeit in Aussagen transformierte«.

Nun wurden die Körper der Opfer aber nicht »transformiert«, sondern mit Hilfe eines entführten und in die Twin Towers gesteuerten Flugzeuges zerrissen, zerfetzt und zerquetscht. Je konkreter man sich aber vergegenwärtigt, was genau die Tat ausmacht, desto schwieriger erscheint es, sie, wie im Diskurs weiter Teile der Linken üblich, wenn auch befremdet in ein antiimperialistisches Raster einzuordnen, das die Verantwortung für den Massenmord am Ende den USA selbst zuweist - wenn eine Kategorie wie Verantwortung überhaupt noch gedacht wird.

Aber nicht nur die Linke, dieses amorphe, aber dann doch erstaunlich konsistente Gebilde, auch die auseinander strebende westliche Staatengemeinschaft hat sich mit dem 11. September auf ihre Art bemerkenswert schnell und erfolgreich arrangiert. Der gemeinsame Krieg gegen das Taliban-Regime in Afghanistan hat dokumentiert, wie schnell und reibungslos in den Nato-Staaten der Wechsel vom »Militäreinsatz für Menschenrechte« zum »Kampf gegen den Terrorismus« vollzogen werden kann.

Die in allen großen Demokratien, deren Regierungen und staatstragenden Eliten stolz auf ihre zivilgesellschaftlichen Errungenschaften sind, vollzogenen Gesetzesverschärfungen haben die Abkehr von einem freiheitlichen Straf- und Staatsrecht erheblich vorangetrieben. Damit ist keine neue Entwicklung eingeleitet worden, die Tendenzen der letzten Jahre wurden aber auf eine neue Stufe gehoben.

Besonders deutlich ist das in den USA zu sehen. Das kann einerseits nicht verwundern. Gerade hier, so ließe sich argumentieren, kann die Regierung gute Gründe für Verschärfungen der Gesetze vorbringen. Andererseits sind die USA der Staat, dessen Gesellschaft nachdrücklicher als die der meisten anderen Länder auf der unbedingten Geltung von Verfahrensrechten bestand. In den USA konnte noch in den neunziger Jahren ein Mensch, in dessen Kofferraum Drogen gefunden wurden, straffrei ausgehen, weil ein Bezirksgericht befand, dass die Polizei kein Recht dazu hatte, ihn anzuhalten und auf einen bloßen Verdacht hin seinen Wagen zu durchsuchen.

Die Behandlung der Gefangenen von Guantanamo, der über tausend Menschen arabischer Herkunft, die als bloße Zeugen über Wochen in US-Gefängnissen, teilweise ohne jeden Kontakt zur Außenwelt, festgehalten wurden, die Ankündigung der Militärtribunale für Tatverdächtige, die keine US-Bürger sind, aber auch das gegenwärtig laufende Verfahren gegen den in den USA geborenen Yaser Esam Hamdi, dem als »unrechtmäßigem feindlichen Kombattanten« der Zugang zum US-Rechtssystem verwehrt wird, zeigt, dass gerade diese Verfahrensrechte als obsolet betrachtet werden.

Charakteristisch ist in diesem Zusammenhang aber auch, dass es hierbei nicht einfach um die Preisgabe rechtlicher Grundsätze geht, die die Grenzen des staatlichen Anspruches markieren, die gesellschaftliche Funktionalität zu definieren und auf Kosten verdächtiger oder beschuldigter Individuen aufrecht zu erhalten. Eine Vielzahl der in den westlichen Industrienationen als Reaktion auf den 11. September beschlossenen, tatsächlich aber bereits viel länger vorbereiteten Gesetze richten sich nicht gegen alle Teilgruppen der Gesellschaft, sondern vornehmlich oder gar ausdrücklich nur gegen die als »Fremde« bezeichneten Menschen, wobei, wie der Fall Hamdis zeigt, das, was als »fremd« bezeichnet wird, unter eine weite Definition fallen kann. Die Staatsbürgerschaft allein schützt immer weniger vor dem weit reichenden Sonderzugriff des staatlichen Apparats.

Während gerade in den USA, aber auch in anderen westlichen Gesellschaften, also im zivilen Alltag Anti-Diskriminierungsregelungen eine erhebliche Bedeutung haben - Deutschland holt gerade auf -, ist der Trend im Verhältnis von Staat und Gesellschaft gegenüber dem einzelnen Bürger gegenläufig. Hier wird der fundamentale Grundsatz des Rechts auf Gleichbehandlung nicht mehr nur faktisch, sondern zunehmend auch programmatisch und prinzipiell in Frage gestellt.

Dabei geht es nicht um die Schaffung eines Ausnahmezustandes, sondern um die Veränderung dessen, was als Normalzustand wahrgenommen wird. Charakteristisch für die gegenwärtige Entwicklung ist nicht der punktuelle Bruch des bestehenden Rechts, sondern dessen systematische Veränderung. Dieser Umbau des Rechts stellt Legitimität, anders als Terkessidis meint, nicht her, und sie ist auch nicht erforderlich, um ihn zu stützen; der Umbau des Rechts hat vielmehr die Legitimität der existierenden Herrschaft zur Voraussetzung.

Dabei geht es nicht um die persönliche Reputation des jeweiligen Repräsentanten der Macht. Nicht Ussama bin Laden hat George W. Bush mit Legitimität ausgestattet, sodass er so handeln konnte, wie er es getan hat. Im Moment des Anschlags konnte sich Bush, der Amtsinhaber, auf die Machtfülle seiner Position stützen, die keine ernst zu nehmende innerstaatliche Interessengruppe je angezweifelt hatte.

Auch der Ausnahmezustand kennt nämlich seinen Normalfall - und der Ausnahmezustand nach dem 11. September, der nur kurzzeitig als solcher wahrgenommen wurde, funktionierte wieder einmal so regelmäßig und reibungslos, wie es gedacht war. Allerdings, dafür sind die Veränderungen des Rechts nach dem 11. September die Boten, die Normalität von Alltag und Ausnahmezustand unterliegt Veränderungen.

Während auf der Agenda von weiten Teilen der Linken der Kampf gegen die Globalisierung steht, haben die westlichen Gesellschaften einen Nationalisierungsprozess eingeleitet. Nationale Interessen, die Sicherheit des engen Kerns der jeweils nationalen »Wir-Gemeinschaft« werden immer deutlicher buchstabiert. Der 11. September war dafür kein Auslöser. Aber es spricht viel dafür, dass er ein Teil der mittleren Hauptbewegung ist und sich nicht bloß als Wirbelbewegung erweisen wird.

Von Oliver Tolmein ist gerade erschienen: »Vom Deutschen Herbst zum 11. September - Die RAF, der Terrorismus und der Staat«, Konkret Literatur Verlag, 256 S., 17,50 Euro