Frankreich liefert ein ehemaliges Mitglied der Brigate Rosse an Italien aus

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Der Hauptnachrichtensendung im italienischen Fernsehkanal Rai uno war es sogar einen Aufmacher wert: »Nach zehn Jahren Unterschlupf in Paris wurde der Terrorist Paolo Persichetti von den Behörden gefasst und an Italien ausgeliefert.« Die Bilder dazu zeigen Persichetti, ein ehemaliges Mitglied der Roten Brigaden (BR), im Hof des Polizeipräsidiums von Turin, von wo ihn eine Antiterroreinheit der Staatspolizei ins römische Gefängnis Rebibbia bringt. Silvio Berlusconi sprach von einer »brillanten Operation«.

Die Bilder und ebenso Formulierungen wie die vom »brigatista rosso latitante« (Corriere della Sera), dem untergetauchten Rotbrigadisten, gehören zu einem Bedrohungsszenario. Seit im März der Wirtschaftswissenschaftler Marco Biagi in Bologna ermordet wurde, werden in Italien von der Rechten Gerüchte genährt, dass eine Auslandsorganisation der BR den Neuaufbau der Gruppe betreibe und Verbindungen zu Militanten der sechziger und siebziger Jahre habe, die sich im Exil in Paris aufhielten. Justizminister Roberto Castelli, ganz Lega-Populist, warf seinem französischen Amtskollegen erst jüngst vor, Mitgliedern der BR Unterschlupf zu gewähren.

Tatsächlich leben bis heute über 140 politische Exilierte der italienischen radikalen Linken in Paris. Anklagen und Verurteilungen wegen Gewaltdelikten, häufig aber wegen »bewaffneter Subversion« und ähnlicher Tatbestände der in den siebziger Jahren geschaffenen italienischen Antiterrorgesetzgebung, machen ihnen bis heute eine Rückkehr unmöglich. Zu den Prominenten zählen Giorgio Pietrostefani (Lotta continua), Maurizio di Marzio und Anna Mutini (BR), Cesare Battisti (Proletari armati), Andrea Morelli (Potere operaio) und nicht zuletzt Oreste Scalzone (Autonomia).

Auch Persichetti lebte seit 1992 mit bekannter Anschrift in Paris, arbeitete als Autor und auch als Lehrbeauftragter an der Universität Paris VIII. Er gehörte zur so genannten Unione dei combattenti comunisti (Vereinigung der kämpfenden Kommunisten). Die UCC konstituierte sich 1985 in einem Richtungsstreit als eine Fraktion der BR. Persichetti war angeklagt, an der Erschießung des Luftwaffengenerals Licio Giorgieri im März 1987 beteiligt gewesen zu sein. Das Gericht verurteilte ihn wegen der Aussage eines Kronzeugen zu 22 Jahren Haft.

Die Auslieferung Persichettis nach Italien ist die erste, seit der damalige französische Staatspräsident François Mitterand 1985 erklärte, die italienische Antiterrorgesetzgebung sei mit den Menschenrechten unvereinbar; er versprach, dass es keine Auslieferungen nach Italien geben werde. Die französische Justiz handelte seither diesem Diktum entsprechend und wies die zahlreichen Auslieferungsersuchen aus Italien ab.

Auch Persichetti, der 1993, unter der Regierung des konservativen Premiers Edouard Balladur, bereits einmal in Auslieferungshaft saß, ließ man wieder frei. Mit dem Schengen-Abkommen aber sei die Zeit reif, »die Mitterand-Doktrin zu überdenken«, wie es Dominique Perben, der französische Justizminister im Kabinett von Jacques Chirac und von Jean Pierre Raffarin, jetzt ausdrückt. Seit einem Jahr gibt es Verhandlungen zwischen den italienischen Anklagebehörden und Vertretern der zuständigen französischen Ministerien, begleitet von der Rhetorik des Kampfs gegen den Terror. Perben spricht heute von der Notwendigkeit, von Fall zu Fall über Auslieferungsersuchen zu entscheiden.

Persichetti hat gemeinsam mit Scalzone ein Buch geschrieben, »La révolution et l'État« (1999), und darin die sozialen Kämpfe der siebziger Jahre und den Notstandsstaat analysiert. Das Buch endet mit der Frage: »Wer hat Angst vor einer Amnestie?« Eine Amnestie aber steht nicht gerade in Aussicht.