Neues von Andreas Neumeister

Echt falsch

In den späten Fünfzigern, als das Schreiben noch etwas geholfen hat bzw. Autoren noch glauben konnten, es helfe, lancierte die Zeit eine Serie, in der Schriftsteller über ihre »Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit« Auskunft gaben. Der Titel suggeriert ja, dass so etwas wie Wahrheit durchaus noch drin sei. Andreas Neumeisters jüngstes Buch »Angela Davis löscht ihre Website«, eine poetologische Collage, liest sich wie eine späte Antwort auf diese Fragestellung. Und die ist so pessimistisch, wie man es sich fast denken konnte, denn die Schwierigkeiten sind ja nicht weniger geworden in der durchvirtualisierten Welt.

Die hier versammelten Wortspäne, Fragmente, kurzen Satzfetzen, Slogans, zumeist sprachliche readymades, formieren sich um einen Kern. Wenn Realität nur medial vermittelt existiert, als bloße Abbildung, wie ist dann zu entscheiden, ob das, was da vermittelt wird, ursprünglich Realität oder Fiktion, also wahr oder falsch war? Gar nicht. Im Modus der Virtualität »besteht die wirkliche Welt aus wirklichen Bildpunkten auf wirklichen Bildschirmen in wirklichen Räumen«. D.h., unter den Bedingungen einer virtualisierten Welt ist es egal, ob etwas ursprünglich fiktiv oder real war, denn mediatisiert ist es jetzt ja ohnehin.

Im Grunde formuliert Neumeister eine nicht sehr originelle, aber fulminante Erkenntniskritik, das platonische Höhlengleichnis in zweiter Potenz sozusagen: »Die Vortäuschung falscher Tatsachen kann eindeutig kein Straftatbestand sein, allenfalls das Vortäuschen richtiger Tatsachen, was eben dem Vortäuschen von Tatsachen entspricht, kann unter Umständen ein Straftatbestand sein.«

Neumeisters Konsequenz daraus ist radikale Skepsis, das Denken und Schreiben in Gegensätzen und Widersprüchen, eine aus der Erkenntnisnot geborene Indifferenz dem Wort- und Weltmaterial gegenüber, die eigentlich nur noch die Collage als Form zulässt. Denn nur mit ihr lässt sich ja weiterschreiben, ohne dem Leser Sinnzusammenhänge, mithin eine Wahrheit zu präjudizieren: »täuschend echt / täuschend falsch // zwei Bilder in Echtzeit / drei Bilder in Falschzeit // täuschend echt wirkt einleuchtend falsch / täuschend falsch wirkt einleuchtend echt // Original Oberkrainer aus Oberkrain // täuschend echt wirkt einleuchtend falsch ist aber echt / täuschend falsch wirkt einleuchtend echt ist aber falsch // unecht ist falsch / nur unfalsch ist echt // Abb.: Der Dichter im Schilf seines Seegrundstücks.«

So etwas wie Sinn muss man sich hier schon selbst zusammenklauben, und der Sinn ist, dass es keinen gibt. Einen Ausweg liefert nur die Totalverweigerung: »Angela Davis löscht ihre Website«. Aber ein Ausweg ist das auch nicht, war Weltflucht nie.

Neumeisters Avantgardekonzept ist planvoll und konsequent durchgeschrieben, aber so richtig satt kann man von diesem Sprachmüsli nicht werden. Selbstredend liegt auch das in der Natur der poetologischen Sache, entschuldigt aber nichts. Man kann es nämlich auch anders sehen. Wenn ohnehin alles eine »Vortäuschung falscher Tatsachen« ist, dann hat sie wenigstens literarisch suggestiv zu sein. Muss ja nicht stimmen!

Andreas Neumeister: Angela Davis löscht ihre Website. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2002. 128 S., 8 Euro