Am Wochenende wird gewählt

Brasiliens gerupfte Linke

Der Wahlkampf nimmt bizarre Formen an. Stimmenkauf und Wählermanipulation spielen eine wichtige Rolle. Der Gewerkschafter Lula liegt vorn.

Lula hat Rasse und Klasse« steht dick auf den Wahlkampf-T-Shirts der sozialdemokratischen Arbeiterpartei PT. Ob ihr Präsidentschaftskandidat schon am ersten Oktobersonntag das Rennen macht und nicht erst in der Stichwahl, erregt die Nation beinahe mehr als der Karneval. Für die Machteliten kaum zu fassen: Erstmals hat keiner aus ihren Reihen, sondern ein armer Teufel von der Werkbank, aufgestiegen zum Gewerkschaftsführer, dann zum Vorsitzenden der größten Oppositionspartei die besten Chancen. Und selbst in der Wahlkampf-Materialschlacht übertrifft Lula die Elite-Kandidaten: der teuerste, bisher nur von Rechten eingekaufte Wahlmanager, die besten, aufwändigsten TV-Spots, die zugkräftigste, teuerste Sertaneja-Band für die Kundgebungen, die meisten Poster, Aufkleber, Fahnen. Selbst in São Paulo, der drittgrößten Stadt der Welt, ist er eindeutig dominierend. Überall flattern große Plastikposter im Wind, eins immer frech vor die anderen gehängt, manchmal gleich fünf, sechs, sieben hintereinander.

Und wenn Lula nicht gewinnt, dann etwa doch »das Schwein Serra«, die Kanaille, der Bandit, Räuber, Strauchdieb, Judas, Volksverräter? Fett gedruckt, wie die Bild-Zeitung geißelt das pseudo-linksradikale Blatt Hora do Povo (Die Stunde des Volkes) seit Monaten unerbittlich den zweitplatzierten Präsidentschaftskandidaten der Mitte-Rechts-Regierung, den ehemaligen Gesundheitsminister José Serra von der konservativen Sozialdemokratischen Partei (PSDB).

Aber gewählt werden auch die Parlamentsabgeordneten und die Gouverneure der Teilstaaten. Die Eliten sind gespalten: Sie hätten lieber Serra und damit Kontinuität, domestizierten aber, wie es aussieht, die PT-Spitze bereits so weit, dass ein Staatschef Lula erstmals akzeptiert, gar willkommen wäre.

Doch Teile des Establishments, darunter transnationale Konzerne, versuchen derzeit gemeinsam mit der Regierung, Lula per »Finanzterrorismus« den Teppich unter den Füßen wegzuziehen. Wegen spekulativer Attacken ist die Landeswährung Real erstmals weniger wert als der argentinische Peso, fallen die Börsenkurse, ziehen transnationale Unternehmen Kapital ab. Die Banken, so lauten Analysen, kaufen und verkaufen untereinander nur deshalb Dollars, um den Kurs künstlich hochzutreiben.

Allein im September stürzte der Real um etwa 30 Prozent ab, verheerend auch für die Staats- bzw. Außenverschuldung. Erstmals zählt Brasilien nicht mehr zu den zehn für Direktanleger interessantesten Ländern. 2001 rangierte es nach den USA und China auf Platz drei, Ende September nur auf Platz 13. In Brasiliens Wirtschaft wächst deshalb der Pessimismus; allein in São Paulo wurden im August über 15 000 Angestellte gefeuert, im September dürfte die Zahl ähnlich hoch liegen. Selbst im benachbarten Venezuela wird die Rechte nervös, weil Lula bereits im ersten Wahlgang gewinnnen könnte. Sie drängt darauf, heißt es, Präsident Hugo Chavez unbedingt noch vor Lulas Amtsantritt zu stürzen. Andernfalls entstünde eine linke Achse Brasilia-Caracas, und Chavez würde seine Macht deutlich konsolidieren.

All dies geht selbst einem Frontmann des brasilianischen Establishments, dem Großunternehmer und Millardär Antonio Ermirio de Moraes in São Paulo, über die Hutschnur. »Ich wähle Serra, obwohl Lulas Sieg fast sicher scheint, aber die jetzige Finanzspekulation verurteile ich heftig. Diese Leute denken nur ans Geldscheffeln, nicht an Landesinteressen. In der ganzen Welt kämen solche Spekulanten hinter Gitter, hier stehen sie weiter hoch in Ehren. Unsere Eliten, die dieses Land kommandieren, haben nichts dazugelernt; sie sind so egoistisch wie immer.«

Ein anderer Milliardär und Konzernbesitzer ist immerhin Lulas Vize, taucht jedoch im Wahlkampf so gut wie nie auf. Er ist der Masse der 115 Millionen Pflichtwähler so gut wie unbekannt, zieht aber im Hintergrund die Fäden und finanziert die Wahlschlacht: Der Kongresssenator José Alencar gehörte lange zur starken Zentrumspartei PMDB und wechselte letztes Jahr zur rechtsgerichteten Sekte Partido Liberal (PL), in der sich sogar Folterer aus der Diktatur zusammen mit Wunderheilern tummeln. Dank weiter bestehender Kontakte erreichte es Alencar, dass der PMDB in 13 von 26 Teilstaaten nun mit dem Regierungskandidaten Serra brach und zu Lula überlief. Das dürfte einen hohen politischen Preis haben, falls Lula tatsächlich gewählt wird.

Brasiliens Linke beobachtet das alles tief beunruhigt. Dem PT-Mitglied und führenden intellektuellen Kopf der Landlosenbewegung MST, João Pedro Stedile, zufolge redet Lula nicht mehr wie ein Linker, verteidigt nicht mehr ein linkes Programm unabdingbarer radikaler Reformen und pflegt den Diskurs der politischen Mitte. »Lulas Wahlbündnisse zerstören die linke Tradition und die Kohärenz des PT«, sagt er. Die Allianz mit PL und PDMB ist für die meisten einfach »furchtbar«, ebenso die Klarstellung des misstrauisch beäugten PT-Vorsitzenden José Dirceu: »Der PT ist bereits eine Mitte-Links-Partei.«

Andere prominente Linke befürchten, dass sich mit Lula als Staatschef am neoliberalen Modell Brasiliens nichts wesentlich ändert: »Um an die Macht zu kommen, werden Konzessionen gemacht, die später ein alternatives Umbruchprogramm verhindern.« Mit dem PT als »Partei echter Veränderungen« sei es vorbei.

Besonders auf dem Land herrscht wegen des Elends und des Analphabetismus wieder der Stimmenkauf. Bizarres fehlt nirgendwo. Wer offiziell mit seinem Spitznamen kandidieren will, bittesehr. Es gibt »die Fette vom Markt«, Ussama bin Laden, Beethoven, den Tiger, der Regenwurm, das Krokodil, die Klapperschlange, den Langhaarigen, Mohamed Ameise, die Ratte, den Weihnachtsmann. Einer hat im Fernsehen stets einen Esel dabei, ein anderer sitzt auf einem Löwen.

Manche Kandidaten lassen sich vom organisierten Verbrechen finanzieren. Wer in den riesigen Slums von Rio auf Stimmenfang gehen will, braucht die Erlaubnis der neofeudal herrschenden Gangstermilizen. Und sie ist nicht billig. Für einen einzigen Slumbesuch oder ein Meeting, heißt es, werden bis 15 000 Euro verlangt und auch gezahlt. Gangsterbosse schreiben Bewohnern ganzer Slums vor, wen sie zu wählen haben. Das Motto: »Wir unterstützen den Politiker, der uns unterstützt.« Rios PT-Gouverneurin Benedita da Silva will wieder gewählt werden, doch die haushohe Favoritin ist Rosinha Garotinho, eine auch von Sekten unterstützte Populistin. Nach einem Gottesdienst wird Benedita da Silva, Miss Samba 1965, von schwer bewaffneten Banditen umringt: »Weg mit Benedita, es lebe Rosinha!«

Der Umweltschutz und selbst die Menschenrechte werden von den rund 18 000 Kandidaten vernachlässigt. Amnesty international schickte deshalb eine Delegation, die auch Lula ins Gewissen redete. Ihr Leiter, Tim Cahill, erklärte der Jungle World: »Das Interesse an Menschenrechtsproblemen ist erschreckend gering. Immerhin gibt es systematische Folter, außergerichtliche Exekutionen durch die Polizei, Todesschwadronen, Sklavenarbeit; die Lage ist sehr ernst!«

Den meisten Brasilianern gilt die jetzige Mitte-Rechts-Regierung als von Korruption durchtränkt; dass man erstmals durchweg auf elektronischen Wahlmaschinen votieren muss, wobei man lediglich Nummernkolonnen einzutippen hat, erweckt deshalb höchstes Misstrauen. Experten sprechen von hohen Betrugschancen, früher undenkbaren Fälschungsmethoden. Über 20 Millionen Wähler, wird geschätzt, dürften beim Versuch der Stimmabgabe kapitulieren, die Eintipperei abbrechen und einfach weggehen. Doch längst kursieren fertige Nummernzettel gerissener Kandidaten, und man trainiert Leute an nachgebauten Wahlgeräten.