Abschiede von einem entsetzlichen Knast

Ende als Spaßgefängnis

Carandiru war Lateinamerikas entsetzlichster Knast, jetzt wird er zu einem »Park der Jugend«.

Man sah sie immer schon von der Hochbahn: Hunderte brasilianische Unterschichtsfrauen zwischen achtzehn und sechzig, sonntags angetreten zur »Visita intima« an der Carandiru-Gefängnismauer, mitten in stinkendem Müll, Essensresten, Pappe, Zeitungen, leeren Coca-Cola-Flaschen - von ihnen selber hingeworfen. Jeder wusste, was denen bis halb vier Uhr blühte: Enge Spezialzellen, mit einem stabilen harten Tisch in der Mitte, und dann zack, zack - schnell ausziehen, oder wenigstens den Rock hoch, hinlegen und los, sozusagen Kaltstart mit dem ausgehungerten Companheiro, für die wenigen kostbaren Minuten. Denn nur zwei Meter entfernt, hinter der gar nicht schalldichten Tür, drängelten ja schon die nächsten.

Seit September ist das alles Geschichte. Lateinamerikas gewaltigster Knast aus grauem, hässlichem Beton wird größtenteils abgerissen und zum »Parque da Juventude« umgebaut. Denn São Paulos Eliten ging dieses Pulverfass mit seinen endlosen Häftlingsaufständen, Massakern und Massenausbrüchen zunehmend auf die Nerven. Es schadete dem Image der lateinamerikanischen Banken- und Industriemetropole, für den größten deutschen Wirtschaftsstandort außerhalb Deutschlands. Die aufsässigen Menschenrechtler von amnesty international und von der Kirche bemerkten immer schon von draußen, von der Hochbahn, wenn es drinnen brodelte, Häftlingshorden alles kurz und klein schlugen, Matratzen, Verwaltungsbüros in Brand steckten, auf den Dächern mit Spruchbändern gegen Folter und grauenhaft überfüllte Zellen protestierten. Die ganze Stadt sah zu, denn nebenan liegt der riesige Busbahnhof.

Jetzt sind die fast 8 000 Prisioneiros endlich von der Bildfläche verschwunden und verteilt worden auf kleinere, bereits chronisch überfüllte Gefängnisse, möglichst fern der drittgrößten Stadt des Erdballs. Für die wenigen couragierten Gefangenenseelsorger und amnesty-Aktivisten ist es ab sofort viel komplizierter, Folterfälle aufzuspüren, den Überblick zu behalten. Im Teilstaat São Paulo lebt nicht einmal ein Viertel der 170 Millionen Brasilianer, doch über die Hälfte der 230 000 brasilianischen Strafgefangenen ist hier konzentriert, über hunderttausend mit Haftbefehl Gesuchte laufen noch frei herum.

1956, bei der Einweihung, wurde die »Casa da Detenção« als Riesenfortschritt gefeiert; höchstens 3 000 Untersuchungsgefangene für begrenzte Zeit waren geplant. Der deutschstämmige Boxer Luiz Camargo Wolfmann fing als Knastwärter an, wurde später sogar Direktor. »Machten welche Ärger, stieg ich mit denen in den Ring, prügelte mich rum; da wurden sie rasch wieder zahm.« Wolfmann trainierte Unmengen von Häftlingen, einer wurde sogar Landesmeister im Halbschwergewicht. »Früher arbeiteten alle, lernten einen Beruf. Heute ist der Knast eine Verbrecherschule. Hätte damals ein Wärter Drogen reingelassen«, sagt der 71jährige Rentner Wolfmann, »hätte er sofort die Fresse voll gekriegt. Damals gabs nicht so viel Korruption.« Die regiert heute drinnen und draußen, mit Crack und Kokain wird offen gedealt.

1985 pfeifen Brasiliens rechtsgerichtete Machteliten die Militärs nach 21 Diktaturjahren zurück in die Kasernen, Carandiru wird aber zur Hölle erst in der »Demokratie«. São Paulos regimekritischer Kardinal Evaristo Arns ist Augenzeuge: »Über fünfzig Aidskranke im Endstadium liegen auf dem Boden und spucken Blut - schier unbeschreibliche Zustände!« Über 45 000 brasilianische Häftlinge haben inzwischen Aids, viele infolge sexueller Gewalt. Mangels Ärzten schneiden die Insassen mit Messern oder Rasierklingen fauliges Fleisch ab, streichen ein Gemisch aus Kaffee und Zucker auf offene Wunden. Rund 8 000 werden jetzt in die Zellen gezwängt. Überall Ratten, große, braune Tropenschaben, Wanzen. Aus gebrochenen, undichten Rohren fließen Abwässer, Scheiße und Urin über den Zellenboden. Bei Sommerhitze über fünfzig Grad werden Gefangene von dem Gestank ohnmächtig oder verrückt, rebellieren, attackieren die eigenen Zellennachbarn. »Es ist die kriminelle Antwort auf kriminelle Strukturen des Staates, die eben nicht umgekrempelt werden, trotz entsprechender Uno-Abkommen, die auch Brasilien unterzeichnete«, sagt der in São Paulo lebende Menschenrechtler und Gefangenenseelsorger Günther Zgubic aus Österreich zu den Rebellionen. Er schreibt Uno-Dossiers, kaum einer kennt Carandiru besser.

Doch erst im Oktober 1992 macht Carandiru weltweit Schlagzeilen. Wieder meutern Häftlinge, wieder rückt eine Spezialeinheit an - Robotergestalten teils mit Eisenhandflächen, aus denen Nägel starren. Aus Maschinenpistolen feuern sie über 5 000 Schuss auf die Männer ab, zersieben sie regelrecht, lassen viele von Hunden zerreißen. In den Zellen und Korridoren steht das Blut knöchelhoch. Kirchlichen Menschenrechtlern gelingt es hineinzukommen; sie zählen weit über 200 Tote, offiziell sind es nur 111.

Oberst Ubiratan Guimarães befehligte alles. Gar nicht so wenige Brasilianer, auch Politiker und Slumbewohner, finden das Massaker völlig okay und wählen ihn ganz demokratisch zum Abgeordneten; er unterstützt Staatschef Fernando Henrique Cardoso, einen Ehrendoktor der FU Berlin. Erst 2001 wird Guimarães zu 632 Jahren Gefängnis verurteilt, legt Berufung ein; er ist nach wie vor frei, arbeitet als Security-Consultor für die Upperclass und nimmt weiter sogar an Militärparaden teil. »Hätte Tony Blair die Operation geleitet«, behauptet sein Anwalt Vicente Cascione, »hätte er alle 2 069 Insassen des Traktes zum Abschuss freigegeben.« Blair habe unschuldige Afghanen bombardieren lassen, zähle zu den »Colonizadores e Imperialistas« ohne jegliche Moral.

Inzwischen diktieren die mit der Politik und der Wirtschaft verzahnten Verbrecherorganisationen Brasiliens in den Knästen die Regeln; sie starten 2001 an einem Sonntag von Carandiru aus eine Mega-Rebellion; 27 000 Gefangene des Teilstaats São Paulo müssen mitmachen, nehmen über zehntausend Besucher zeitweilig als Geiseln; Bomben explodieren vor Justizgebäuden. »Neuankömmlinge«, sagt der Seelsorger Zgubic, »können nur überleben, wenn sie sich einer Gangsterfraktion anschließen. Andernfalls drohen Abschreckungstaten wie Ohren- und Fingerabschneiden bis hin zu Mord.« Dazu kamen letztes Jahr rund 2 400 Gruppenfluchten, aus Carandiru durch Tunnel, manchmal gleich über 100 Insassen auf einmal. »Der Staat hat die Kontrolle über die Gefängnisse und die öffentliche Sicherheit total verloren.«

Der schwarze Menschenrechtsaktivist und Schriftsteller Paulo Lins aus Rio de Janeiro, dessen Roman »Cidade de Deus« (Gottesstadt) über einen Slum auf der brasilianischen Bestsellerliste steht und in zwölf Sprachen übersetzt wurde, kritisiert schonungslos: »Brasilien ist ein Mörderstaat. Die Gewalt hier ist keineswegs nur ein Fall für die Polizei. Hier geht es um Menschenrechte, um eine krass ungerechte Einkommensverteilung. Wie wollen wir die Gewalt beseitigen, wenn wir nicht den Hunger, das Elend abschaffen?«