Kommt doch, wenn ihr könnt

Die Erweiterung der EU zielt vor allem auf die Abwehr von Flüchtlingen und die Auslagerung des Billiglohnsektors nach Osten.

Wie jede Politik hat auch diejenige der Europäischen Union feste Rituale. Wäre ein Staat bei der Ost-Erweiterung der EU etwas später dran als die anderen, dann würde das bedeuten, dass er bei der Umstellung seines Apparats auf die Regeln der freiheitlichen Demokratie noch nicht so weit ist, oder weitaus schlimmer, bei der Anpassung seiner Ökonomie an die Normen der freien Marktwirtschaft. In jedem Fall aber würde es bedeuten, dass er von der Union weniger geliebt wird als jener andere, der schon vorher aufgenommen wurde.

Weil die EU aber in Richtung Osten vor allem ein Signal aussenden will, nämlich dass sie alle dort gleichermaßen liebt, muss auch die Erweiterung nach Möglichkeit auf einen Streich erfolgen. Und so werden nach der Verkündigung der Länder-Fortschrittsberichte durch die EU-Kommission am Mittwoch letzter Woche an einem schönen Tag in anderthalb Jahren von Limassol bis Tallinn die Kirchenglocken läuten, um die Ankunft des vermeintlich sicheren Wohlstands für vermeintlich alle zu feiern.

Lediglich Rumänien und Bulgarien, die wirtschaftlichen Schlusslichter unter den Bewerberländern, müssen noch weitere drei Jahre warten, ehe sich auch ihnen die Pforten zur EU öffnen. Der Türkei wurden immerhin Fortschritte bescheinigt. Die Länder des ehemaligen Jugoslawien (außer Slowenien) sowie Albanien warten noch immer auf ein positives Signal aus Brüssel. Obwohl die Politiker dort seit Jahren ankündigen, sie würden ihre jeweiligen Länder möglichst schnell in die EU führen.

Die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Beitrittsländern sind größer als diejenigen der alten EU-Staaten. Die Luxemburger, im statistischen Durchschnitt die weitaus reichsten EU-Bürger, verdienen 2,8 mal soviel wie die Griechen, deren Einkommen die geringste Kaufkraft hat. Noch größer ist aber die Kluft zwischen den Zyprioten und den Rumänen, den reichsten und den ärmsten unter den Beitrittskandidaten. Die Bürger des Offshore-Paradieses verfügen über 3,2 mal soviel Kaufkraft wie die Erben des Ceausescu-Regimes. Welche Spannungen auf die EU nach der Erweiterung zukommen, ahnt man erst, wenn man die Kaufkraft der reichsten EU-Staaten mit derjenigen der ärmsten neuen Mitglieder vergleicht. 7,7 mal soviel können die Luxemburger ausgeben wie die Rumänen.

Diese gewaltigen Unterschiede werden zur Folge haben, dass bald eine Menge westliches Kapital in den Osten fließt, wo sich vor allem arbeitskraft- und flächenextensive Industrien ansiedeln werden. Umgekehrt werden, so befürchten es zumindest Gewerkschafter, viele Arbeitssuchende aus den mitteleuropäischen Beitrittsstaaten nach Westen ziehen. Vor Jahren schon polemisierte die IG Bau mit dem Argument gegen die Ost-Erweiterung, billiges Personal aus dem Osten würde den deutschen Gewerkschaftsmitgliedern die Arbeit wegnehmen und die Löhne verderben.

Auf Vorbehalte, die in dieselbe Richtung gehen und hauptsächlich von Deutschland und Österreich geäußert wurden, reagiert die EU jetzt mit einer Klausel in den Beitrittsverträgen, die Arbeitskräften aus den Anschlussstaaten erst nach sieben Jahren die volle Freizügigkeit gewährt.

Migrationsexperten und auch der Erweiterungskommissar Günter Verheugen verweisen indes auf Erfahrungen aus dem Anschluss der südeuropäischen Staaten. Auch damals war in Mitteleuropa die Angst vor Horden von Arbeitssuchenden geschürt worden. Tatsächlich passierte so gut wie nichts. Deswegen soll die Einschränkung der Freizügigkeit für Arbeitnehmer erstmals zwei Jahre nach der Erweiterung und nach weiteren drei Jahren nochmals geprüft und eventuell aufgehoben werden.

Auch jenseits der Oder herrschen oftmals berechtigte Befürchtungen. Deutsche und österreichische Revanchisten lauern bereits darauf, nach dem EU-Anschluss die 1945 verlorenen Ostgebiete wieder zurückzuerobern, sei es durch Kauf, sei es mithilfe der Gerichte.

Etwas gedulden müssen sich die Deutschen jedoch, da die polnische Regierung lange Übergangsfristen für den Grundstückserwerb durch Ausländer ausgehandelt hat. So gilt für den Erwerb landwirtschaftlicher Flächen in den ehemals deutschen Gebieten Westpolens eine Wartefrist von zwölf Jahren nach dem EU-Beitritt Polens. Bis dahin, so die Hoffnung, hat sich die wirtschaftliche Lage im Land stabilisiert.

Die alten EU-Staaten haben keinerlei Interesse daran, dass die landwirtschaftliche Überproduktion in der Gemeinschaft durch neue agrarindustrielle Großbetriebe im Osten noch gesteigert wird. Die EU will die Anzahl der Bauern im stark landwirtschaftlich geprägten Polen verringern. Die Agrarförderung soll zunächst nur ein Viertel der Summe betragen, die Bauern im Westen erhalten. Polens Regierung steht und fällt mit den Stimmen der ländlichen Bevölkerung und fordert deshalb das Recht, entgegen der geltenden Regelung Fördermittel aus den EU-Strukturfonds direkt zur Subventionierung der Landwirtschaft einzusetzen.

Das Interesse der beiden Blöcke lässt sich so zusammenfassen: Sowohl die alten EU-Staaten als auch die neu hinzukommenden sind durchaus für Freizügigkeit, solange die Reise von ihrem jeweiligen Staatsgebiet weg gehen soll. Vereint sind sie in dem Interesse, die künftige Außengrenze der Union gegen Zuwanderung dicht zu machen, und zwar am besten gemeinsam. Für die reichen Staaten im Westen der Union hat das den Vorteil, dass sie die Grenzsicherung nicht allein der verhältnismäßig schlecht ausgestatteten Polizei der Neumitglieder überlassen müssen. Die Staaten entlang der neuen Ostgrenze rechnen mit erheblichen Finanzhilfen aus Brüssel, wenn sie künftig im Verbund mit einer EU-Grenzpolizei diese Aufgabe übernehmen.

Eine ähnliche Motivation dürfte seitens der EU-Kommission den Ausschlag dafür gegeben haben, den Umgang mit der Bevölkerungsgruppe der Roma in Tschechien und der Slowakei, in Ungarn, Bulgarien und Rumänien zu kritisieren. Nur wenn die Integration der Roma funktioniert, werden sie in den Ländern bleiben, in denen sie jetzt leben.

So zeigt sich ein großer Teil der Erweiterungspolitik als eine logische Fortsetzung der bisherigen Politik; es geht um die effektive Flüchtlingsabwehr zu einem möglichst geringen Preis, um die zollbegünstigte Auslagerung des Billiglohnsektors aus den alten EU-Staaten Westeuropas, um die Beseitigung der Überreste des kollektivierten agrarindustriellen Sektors und um die Schaffung von Absatzmärkten unter stabilen politischen Bedingungen.

Da scheinen die paar Milliarden Euro, die die Erweiterung kosten wird, nicht falsch angelegt. Nach einer Schätzung der EU-Kommission wird die gesamte Erweiterung etwa zehn Prozent dessen kosten, was Deutschland für seine Wiedervereinigung bezahlt hat.