Brasilien nach der Wahl

Lula kommt, Satan geht

Seit den Wahlen in Brasilien stellt die Arbeiterpartei die stärkste Fraktion, doch wegen des Bündnisses mit dubiosen Sekten verlor sie in Rio de Janeiro den Gouverneursposten.

Dem Präsidentschaftsanwärter Luiz Inácio »Lula« da Silva saß der Frust, wider Erwarten den Sieg im ersten Durchgang verfehlt zu haben, noch in den Knochen. Aber als Pragmatiker bettelte er schon am Montag vergangener Woche, nur einenTag nach der Wahl, telefonisch bei rechtsgerichteten Freunden der Diktatur von einst um Unterstützung für die Stichwahl, die Ende Oktober stattfinden soll.

Romeu Tuma war Leiter der politischen Polizei Dops in São Paulo, er war mitverantwortlich für die Folter und die Ermordung von Regimegegnern, für das »Verschwindenlassen«, für das Verprügeln demonstrierender Studenten. Lula hätte nur zu gerne, dass ihm der neu gewählte Kongresssenator sein beträchtliches Wählerreservoir zutreibt. Die Unterstützung anderer berüchtigter Führungsfiguren der landesweit stärksten Rechtspartei PFL hat er schon sicher, dazu die von Oligarchen und Großgrundbesitzern.

Wichtige Wahlhilfe bekommt Lula auch von der großen Rechtspartei PPB, deren illustrer Vertreter Ubiratan Guimarães demnächst ein weiteres Mal als Abgeordneter den Teilstaat São Paulo, immerhin die bedeutendste lateinamerikanische Industrieregion, mitlenken darf. Vor zehn Jahren brachte Guimarães als Polizeioberst in São Paulos Gefängnis Carandiru mit seiner gefürchteten Spezialeinheit mehr als 100 rebellierende Insassen sadistisch um (Jungle World, 41/02). Im Wahlkampf betonte er, er würde immer wieder so handeln. Dass die PT-Führung ausgerechnet die Rechte umgarnt, wird an der Basis vielerorts als »absolut schockierend« verurteilt.

Bislang deutet vieles auf einen Sieg Lulas hin. Am 6. Oktober votierten von den 115 Millionen Pflichtwählern über 39 Millionen für ihn, nur 19,7 Millionen für den ehemaligen Gesundheitsminister Josè Serra, den Kandidaten der Mitte-Rechts-Regierung. Die Opposition ist erfreulich im Aufwind. Von den 513 Sitzen der Abgeordnetenkammer des Nationalkongresses besetzt Lulas Arbeiterpartei (PT) künftig 91, sie stieg von der viertgrößten zur stärksten Fraktion auf. Doch für eine Mehrheit im Parlament fehlen etwa 60 Stimmen.

In zwei von 26 Teilstaaten errang die Arbeiterpartei Gouverneursposten, sie stellt sich in weiteren sieben, darunter São Paulo, sowie im Bundesdistrikt Brasilia der Stichwahl. Im zweitwichtigsten Teilstaat Rio de Janeiro, dessen Bruttosozialprodukt über dem Chiles liegt, verlor die Partei jedoch wegen taktischer Fehler und des von der Führung forcierten Kurses hin zur politischen Mitte den Gouverneursposten.

Die schwarze PT-Gouverneurin Benedita »Benè« da Silva von der Sektenkirche Assembleia de Deus (Gottesversammlung) unterlag der Linkspopulistin Rosinha Garotinho, die kurioserweise ihren Sieg vor allem Sektenanhängern der verelendeten Unterschicht verdankt. Sie wurden besonders von der rechten Sektenpartei PL (Partido Liberal) und deren »Bischöfen« mobilisiert, die sich nicht an die Bündnisabmachungen mit der Arbeiterpartei hielten. Denn Lulas Vize - und eventuell demnächst stellvertretender Staatschef - ist der PL-Senator, Milliardär und Großunternehmer Josè Alencar.

Die Pleite der Arbeiterpartei in Rio hat eine komplexe, skurrile Vorgeschichte. 1998 bestimmte die Parteibasis den angesehenen Linken Wladimir Palmeira, einen ehemaligen Widerstandskämpfer und Studentenführer während des Militärregimes, zum Gouverneurskandidaten. Doch die nationale Parteiführung verbot die Kandidatur, beugte sich auch dem zwielichtigen Linkspopulisten Leonel Brizola, dem Vizepräsidenten der Sozialistischen Internationale und Vorsitzenden der Arbeitspartei PDT. Brizola wollte Lulas damalige Präsidentschaftskandidatur nur unterstützen, falls sich Rios PT mit dem Posten des Vizegouverneurs begnüge, aber seinen PDT-Gouverneurskandidaten Anthony Garotinho akzeptiere. Zwar wurden er und Benè gewählt, doch der politisch gewiefte, machtbesessene Radiomoderator und Sektenprediger Garotinho trennte sich im Streit rasch von dem PDT, wechselte zur nur dem Namen nach Sozialistischen Partei PSB, kandidierte in diesem Jahr für die Präsidentschaft und attackierte aggressiver als jeder andere Bewerber die Arbeiterpartei und Lula.

Anfang dieses Jahres übergab Garotinho wegen des Wahlkampfs sein Gouverneursamt an seine Stellvertreterin Benè. Der Terror hoch gerüsteter neofeudaler Banditenmilizen gegen die Slumbewohner nahm stark zu. Wer sich nicht beugt, wer nicht kooperiert, wird zur Abschreckung gefoltert, verstümmelt, in Stücke gehackt, kommt in die so genannte Microonda (Mikrowelle): Um das gefesselte Opfer werden bis in Kopfhöhe Autoreifen geschichtet, sie werden mit Benzin übergossen und angezündet.

Die PT-Gouverneurin hätte mit ihren mehreren zehntausend Polizisten problemlos die Banditenherrschaft brechen können, tastete den »Parallelstaat« in den Slums aber nicht an. Als der damalige Justizminister des Bundesstaates Rio de Janeiro, Miguel Reale, den Einsatz der Streitkräfte anbot, lehnte Benè schroff ab, weitere Bürgerrechtler aus den Slums wurden umgebracht.

Lula ist von ihr begeistert, Rios Linke seit jeher nicht. Als Stadtverordnete setzte sie zwei ihrer Kinder und eine Stieftochter, teils mit gefälschten Diplomen, auf gut bezahlte Posten. Der Skandal kostete Benè den sicheren Sieg bei der Bürgermeisterwahl, die Basis war entsetzt. Als Kongresssenatorin sorgte Benè mit ihrer Komfort-und Privilegiensucht immer wieder für schlechte Schlagzeilen, als Gouverneurin feierte sie gerne mit der Schickeria.

Die Parteilinke kritisiert zudem, dass sie Regierungsposten nur an Leute vergebe, die dem eigenen Parteiflügel Articulação (Artikulation) angehören. Articulação wiederum begünstige Sekten, treibe die Entpolitisierung der Partei voran und suche Bündnisse mit der Rechten. Von den 91 künftigen Kongressabgeordneten des PT zählen 48 zur Articulação des Vorsitzenden Josè Dirceu, der es in diesem Jahr in Rio durchsetzte, dass ausgerechnet der schwulenfeindliche Sektenbischof Marcelo Crivella für den Senat kandidieren durfte. Nur 26 Abgeordnete des PT gelten als wirkliche Linke, sie wollen in der Partei einen Bloco de Esquerda (Block der Linken) gründen.

Nun gebärdet sich ausgerechnet der Populist Garotinho, für den im ganzen Land etwa 15 Millionen Menschen votierten, die meisten von ihnen Sektenanhänger, als Hüter linker Tugenden. Er prangert den PT wegen seiner Rechts-allianzen und wegen Prinzipienverrats an. Doch wie Benè besucht er die Sektentempel. Dort und selbst in Fußballstadien gehen die makabren Teufelsaustreibungen und Wunderheilungen weiter. Bischöfe des PL präsentieren unentwegt Leute, die durch den Allmächtigen soeben von Krebs oder Aids geheilt worden seien. Fast überall in Brasilien sind am Tag und in der Nacht Rufe und Schreie wie »Weiche, Satan!« oder »Gloria Deus« zu hören.

Benès neofundamentalistische Gottesversammlung gräbt sogar auf Friedhöfen Leichen aus, um sie wieder zum Leben zu erwecken. Doch nach wie vor steht die einstige »Miss Samba Copacabana« bei politisch korrekten deutschen Anwälten der Dritten Welt unglaublich hoch im Kurs.