Sky Nonhoffs »Die dunklen Säle«

Das Surren des Projektors

Sky Nonhoff nimmt uns mit in die Provinzkinos der Siebziger.

Sky Nonhoff ist ein Romantiker, und zwar im eigentlichen Sinne des Wortes. Nach der schönen Erzählungssammlung »Boy meets Girl« und einem Essay über seine Schallplattenpassion - nicht zu vergessen die Drehbücher für die Krimiserie »Die Zwei« - hat er mit »Die dunklen Säle« seinen ersten Roman geschrieben. Dieses Buch, das einen zarten, elegisch-verhangenen, gelegentlich etwas säuseligen, aber eben auch ganz eigenständigen Ton anschlägt, löst die romantische Programmatik noch einmal ein. Es poetisiert den Alltag, eleviert die Prosa der Verhältnisse und ist damit auch ein groß angelegter Widerruf von Adornos Kalenderspruch, demzufolge es kein richtiges Leben im falschen geben könne.

Nonhoff und seine beiden jugendlichen, später erwachsenen Protagonisten Albert Unversucht und Johannes Levka beweisen das Gegenteil, dass ein Lied in allen Dingen schläft, wenn man nur den Zauberton trifft. Nur bekommt hier nicht die Musik eine Erlösungsfunktion zugesprochen, sondern das Kino, aber auch das steht ja nur pars pro toto für die Kunst, für die Macht der Phantasie. Wie viel so ein Beweis allerdings tatsächlich wert ist, wenn er sich selbst im Rahmen der Fiktion bewegt, wollen wir hier einmal nicht fragen.

Albert hat ein Muttermal auf der Stirn, den »Storchenbiss«, und deshalb keine Freunde. Dann kommt der Neue in die Klasse, Johannes, ein Träumer, der malt und schreibt, der seine Imaginationen mindestens genauso ernst nimmt wie die Wirklichkeit außerhalb seines Kopfes. Noch bevor die beiden Freunde werden, flüchten sie gemeinsam vor dem Klassenschläger in ein Kino, und hier erlebt Albert gar Österliches: »Eis am Stiel«, den ersten Teil! »Mit einem Mal war jeder Rest von Beklommenheit von mir abgefallen, als hätte es sie nie gegeben, und bereits nach den ersten Szenen (...) strömte eine Großmut durch meine Adern, die alles verzieh, allem voran meine eigene Leichtgläubigkeit, eine ungekannte Herzensweite, die mit einem fast körperlosen Zustand einherging; was mir nur um so natürlicher vorkam, als Johannes Levka im blauen Widerschein selbst wie ein stummer Geist anmutete, der im versöhnlichen Surren des Projektors seinen Frieden gefunden hatte (...) Während sich die Bilder in meinen Pupillen spiegelten, verschwand alles andere in der Dunkelheit des Saales, all die Menschen und Ungeheuer (...), bis nur noch ein gewisser Albert übrig blieb.«

Der ist nun endlich ganz bei sich, hat sein Refugium gefunden, den Ausweg aus dem irdischen Jammertal und »die unbeirrbare Gewissheit, dass es vielleicht nicht sofort eine Antwort auf all die Fragen gab, die ich kaum richtig formulieren konnte, aber doch immer eine Vorstellung«. Und zwar vor allem eine im Kino, die Doppeldeutigkeit ist beabsichtigt, »die einen mit einem Luftsprung über die eigene Einfalt und die ringsum gezogenen Einfriedungen hinwegsetzen ließ. Ich musste einfach nur nach vorne sehen. Und das Beste daran war: Ich konnte es immer wieder tun.«

Auch Johannes, der seine Lektion in Phantasie längst gelernt hat, erlebt eine Epiphanie. Ausgerechnet im berüchtigten Pornokino, in das er sich wegen einer Wette geschlichen hat, stößt er auf Siri, das Mädchen, das er sich zuvor schon imaginiert hat, beide sind plötzlich von Liebe entflammt, werden aber vom Schicksal getrennt und begegnen sich nie wieder, obwohl er und sein Freund noch lange nach ihr suchen.

Es folgt ein Zeitsprung. Jahrzehnte sind vergangen, Johannes ist mittlerweile ein gut beschäftigter Restaurator, Albert ein anerkannter Filmkritiker (Kirche und Kino, wenn das nicht dasselbe ist!), als er für eine Reportage über das Kinosterben in der Provinz seine Heimatstadt aufsucht. Zufällig stößt er bei seinen Recherchen auf Siri, die eigentlich Iris heißt und von Geburt an blind ist.

Albert besucht sie und verliebt sich, er erzählt ihr das Märchen von den beiden Liebenden, das sie sich selbst schon oft erzählt hat, und gibt sich selbst als Johannes aus. Gerade möchte man ihm zurufen, dass er ablassen soll von solch schändlichem Tun, da entsagt er ganz von allein, weil ihm klar wird, dass Johannes nach all den Jahren immer noch nach der Einzigen sucht, und so bringt er ihn mit Siri zusammen. Das Märchen wird also wahr am Ende. Und wo? Natürlich im Kino!

Wahrscheinlich ist diese Geschichte nicht, aber zutiefst anrührend, und sie macht einen für Momente zum besseren Menschen, so wie es auch ein wirklich guter Kinofilm kann. Vielleicht nur für Momente. Aber immerhin. Und sie beschwört die Idee, die wir alle gern glauben würden: dass dieses mühselige Existieren zumindest manchmal von Poesie illuminiert wird.

Nonhoff gibt sich Mühe, uns davon zu überzeugen, und bietet dafür einiges an Kunstfertigkeit auf, strukturiert etwa den Text mit wörtlichen, beinahe chorusartigen Reprisen und nimmt immer wieder anspielenden Bezug auf das klassische wie triviale Kino, am offensichtlichsten noch, wenn er an einer Stelle die zwischen Luzidität und Irrwitz oszillierenden Filmplakatsentenzen collagiert: »Sie gelobten, nie zu töten, doch sie brachen ihren Schwur. Für Dope gehen sie auf den Strich. Ein Junge macht sein Bett-Abitur und ein Luxusmädchen seine zärtlichste Erfahrung (...) Oft sind es die schrägen Vögel, die aufwärts fliegen. Siegen ist gar nichts, überleben ist alles. Wenn in der Hölle kein Platz mehr ist, kommen die Toten auf die Erde zurück.« Nun ja, ich kenne auch nur den letzten Slogan von George A. Romeros »Zombie«. Wer sich besser auskennt, hat hier vermutlich noch mehr Spaß.

Vor allem aber sollte man aufmerksam lesen - obwohl das Buch passagenweise durchaus pageturning nahe legt -, sonst entgeht einem etwas. Denn auch Details haben hier einen artifiziellen Sinn: die Berufswahl der beiden Protagonisten, die Namen der Provinz-Kinos und natürlich auch das Palindrom der blinden Göttin, die Iris heißt, aber vorausdeutend Siri genannt wird, was die Semantik des Namens ihrer Behinderung gemäß verschiebt vom optischen ins akustische Bedeutungsfeld, und nicht zuletzt, auch weil sie eine Sirene ist, die Johannes und Albert sogleich verzaubert hat.

Nonhoffs im besten Sinne poetischer Realismus mag traditionell und vielleicht auch ein bisschen unzeitgemäß sein, aber er ist allemal adäquat, weil er auf der formalen Ebene noch einmal das große und nun wirklich überzeitliche Thema des Buches spiegelt. Nur mit den Mitteln der Kunst ist es möglich, das Profane zu sublimieren. Und nur mit ihr ist das überhaupt auszuhalten.

Sky Nonhoff: Die dunklen Säle. Europa Verlag, Hamburg/Wien 2002, 239 S. 19,90 Euro.