Nach der Präsidentschaftswahl

Ein Tintenfisch für alle

Brasilien wird künftig von dem ehemaligen Gewerkschaftsführer Lula regiert. Der radikale Linke wandelte sich zum Sozialdemokraten und machte einen reaktionären Milliardär zu seinem Stellvertreter.

In BMWs rauschten Luis Inácio da Silva und sein Gefolge zum Präsidentensitz Brasilias, davor standen jubelnde Massen mit Spruchbändern: »Willkommen, mein König, in deinem Palast.« Das war nicht mal ironisch gemeint.

Drinnen umarmten sich der frisch gewählte, von jedermann nur Lula, Tintenfisch, genannte und der noch amtierende Staatschef Fernando Henrique Cardoso wie alte Kumpels. Wie damals, als Cardoso, der heutige Ehrendoktor der FU-Berlin, noch Mitglied der KP war, sich mit Figuren wie Lula abgab und die Folterdiktatur bekämpfte. »Vergesst alles, was ich bisher geschrieben habe«, verkündete Cardoso bei seinem Wahlsieg vor acht Jahren. Er verbündete sich mit rechtsextremen Aktivisten des einstigen Regimes sowie mit reaktionären Oligarchen und holte sie in die Regierung.

Und Lula? Der radikale Linke und ehemalige Gewerkschaftsführer wandelte sich zum harmlosen Sozialdemokraten und machte ausgerechnet den Milliardär und Großunternehmer José Alencar aus der rechten Sektenpartei PL zum stellvertretenden Staatschef. Schon im Wahlkampf fiel er den Oligarchen und Freunden der Diktatur um den Hals und bettelte sie um Unterstützung an.

Da dreht sich nicht nur Anita Prestes in Rio de Janeiro der Magen um. Sie ist die Tochter von Olga Benario (1942 im KZ Bernburg vergast). Der Jungle World sagt die linke Universitätsprofessorin, es sei nahezu unglaublich, dass zum ersten Mal in Brasiliens Geschichte ein früherer Arbeiter zum Staatschef aufsteigt. Sie betont den »hohen symbolischen Wert«, aber auch die schwersten Bedenken. »Lulas Arbeiterpartei ist sehr heterogen, hochkompliziert, von inneren Kämpfen geschüttelt. Der die Parteiführung dominierende Flügel Artikulation will den brasilianischen Kapitalismus nur reformieren, will keinen Sozialismus mehr.«

Lula sitze in der Klemme, er müsse schnellstens populäre Maßnahmen treffen, um Wahlversprechen nicht zu brechen, doch gleichzeitig sehr vorsichtig sein: »Damit es ihm nicht so ergeht wie Allende.« Dann erinnert sie an Maximen ihres Vaters, des legendären Kommunisten Luis Carlos Prestes. Wenn das Volk so stark zersplittert und unorganisiert bleibe, werde nichts gelingen. Und genau das gelte auch für das heutige Brasilien.

Es gibt viele Erwartungen, man spürt es, aber keine Aufbruchsstimmung. Die Regierung Lulas, so Anita Prestes, müsse jetzt dringend die Volksmassen politisieren, mobilisieren, Rückhalt organisieren; sonst würden echte Reformen zu deren Gunsten nicht durchkommen. Noch dazu fehle eine Mehrheit im Nationalkongress, die Gouverneure der wirtschaftlich und politisch wichtigsten Teilstaaten seien Gegner Lulas.

Lula gewann in der Stichwahl mit 61 Prozent haushoch gegen den Regierungskandidaten José Serra von Cardosos konservativer Sozialdemokratischer Partei (PSDB). Doch von 27 Gouverneuren gehören künftig nur drei der Arbeiterpartei (PT) an, sie stammen aus unbedeutenden Regionen. Selbst die PT-Hochburg Rio Grande do Sul, wo der Weltsozialgipfel stattfindet, wird ab Januar nicht mehr von Lulas Companheiros regiert.

»Tudo imprevisivel«, nichts ist voraussehbar, konstatiert Anita Prestes: »Der Widerstand des Großkapitals und der Latifundistas, aller traditionellen Eliten wird heftig sein. Die gut organisierten herrschenden Klassen haben in der ganzen Welt ihre historischen Erfahrungen gemacht, wie man sowas effizient durchzieht«, fügt sie bitter lachend hinzu. »Die wollen doch ihre Privilegien nicht verlieren.«

»Jetzt ist die Bourgeoisie gefickt«, skandieren Studentengruppen indes unentwegt zwischen den Massen auf der Wahlfete vor den Bankenpalästen São Paulos. Beim Kurzauftritt auf der Bühne umarmt Lula den Milliardär Alencar und preist das Bündnis mit ihm als glückliche Verbindung zwischen Kapital und Arbeit. Unten gellen Pfiffe. Viele Anhänger Lulas lehnen diese Allianz ab.

Die gut organisierte Landlosenbewegung MST ließ im Wahlkampf Lula zuliebe die Latifundistas, die neofeudalen Sklavenhalter, in Ruhe. Doch jetzt argumentiert der intellektuelle MST-Führer Pedro Stedile, dass überfällige Veränderungen weniger von Lulas Bereitschaft abhängen als vielmehr von der Mobilisierung des Volkes, das auf einen wirklichen Bruch mit dem Bestehenden hinwirken müsse.

Stedile meint damit vor allem Brasiliens archaische Sozialstrukturen. Die zwölftgrößte Wirtschaftsnation der Welt wird, wenn es um den Abstand zwischen Reich und Arm geht, nur von Sierra Leone, der Zentralafrikanischen Republik und Swasiland übertroffen, sie steht auf dem Uno-Index für menschliche Entwicklung nur auf dem 73. Platz.

Der MST, sagt Stedile, werde daher die Massen mobilisieren, damit das alles aufhöre. »Wenn Lula diese Botschaft versteht, wird er den Änderungsprozess vorantreiben, von den Volksbewegungen unterstützt werden. Falls er aber versucht, das brasilianische Volk zu täuschen, indem er um Geduld bittet, wird er wie Argentiniens Präsident de la Rua enden.« Der trat im letzten Jahr nach Straßenprotesten zurück. Gilmar Mauro, ein anderer Landlosenführer, schloss nicht aus, dass der MST in Opposition zu Lula gehen könnte.

Für ihre Forderungen an die neue Regierung ist die Linke bereits auf die Straße gegangen. Über 4 000 Mitglieder der Landlosenbewegung, des Gewerkschaftsdachverbandes CUT, linker Parteien sowie katholischer Bistümer, aber auch einige neu gewählte Kongressabgeordnete der PT-Linken legten am Donnerstag der vergangenen Woche vor dem Sitz der brasilianischen Zentralbank in São Paulo den Verkehr lahm.

Sie protestierten gegen die geplante Beteiligung an den Verhandlungen über die amerikanische Freihandelszone Alca und forderten einen Bruch der Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF). Die Alca sei ein Projekt des Hegemoniestrebens der USA. »Lula, brich mit Alca und dem Weltwährungsfonds!« war auf Transparenten zu lesen. Alencar wurde als übler Ausbeuter gebrandmarkt, der beispielsweise in Fabriken des unterentwickelten Nordostens an 90 Prozent seiner Arbeiter bei Zwölfstundenschichten monatlich umgerechnet 70 Euro zahle.

Der PT-Vorsitzende Josè Dirceu, den die Parteilinke für die Entpolitisierung, die Sozialdemokratisierung und die Annäherung an die Sekten verantwortlich macht, räumt ein: »Das erste Amtsjahr 2003 wird ein Krisenjahr, mit geringen Manövriermöglichkeiten. Wir rechnen mit Streiks und Protestkundgebungen.« Denn auch wegen der harten Auflagen des IWF sind die Haushaltsmittel für Soziales, für den zur Priorität erklärten Kampf gegen den Hunger, für überfällige Lohnerhöhungen, Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen sehr gering.

Ein Unternehmer machte unverblümt klar, dass die Unternehmerschaft sofort »in Opposition« gehen werde, »falls die Lula-Regierung falsche Dinge tut«. Doch bisher läuft mit Lula alles wunschgemäß. Der Markt und die Börse reagierten optimistisch, da die Auslandsschulden auch weiter brav beglichen werden sollen. Richtig zufrieden über den Kurswechsel der Arbeiterpartei ist indessen nicht nur das Kapital, sondern auch die Sozialistische Internationale. »Lula ist ein wahrer Sozialdemokrat«, schwärmt Frankreichs Sozialistenführer François Hollande, »die PT hat ihren Platz in der SI, sie wird ihr nützlich sein.«