Das Kapital der Frommen

Der Wahlsieg der AKP kann zu einer Demokratisierung des politischen Islam führen. In der Türkei ist schon eine Aufbruchstimmung zu spüren.

Wie soll man die Siegerin der türkischen Parlamentswahlen, die Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP), beschreiben? »Islamistisch«, »gemäßigt islamistisch«, »fundamentalistisch«? Solche Antworten treiben den Parteivorsitzenden, Recep Tayyip Erdogan, zur Verzweiflung: »Wir sind keine islamistische Partei, keine gemäßigt islamistische Partei, keine muslimische Partei. Wir sind eine konservativ-demokratische Partei.« Doch entspricht dieses Etikett den Tatsachen? Oder versteckt Erdogan seine Ziele nur geschickt und will in Wahrheit die säkulare Republik in einen Gottesstaat umwandeln?

Die türkischen Zeitungen zumindest glauben das nicht. Sie sprechen von einem Erdbeben. Tatsächlich gibt es in der Geschichte der türkischen Republik zwei politische Ereignisse, die mit der jetzigen Situation vergleichbar und aufschlussreich für die Entschlüsselung der türkischen Politik sind. Im Jahr 1950, bei den ersten freien Wahlen überhaupt, errang die Demokratische Partei einen großen Sieg über die Repräsentanten des kemalistischen Einparteiensystems. Und im Jahr 1983 wollten die Putschgeneräle nur zwei Parteien zulassen, eine als Regierungs-, die andere als Oppositionspartei. Dank einer Fehlkalkulation der Militärs durfte eine dritte Partei antreten. Und sie, Turgut Özals Mutterlandspartei (Anap), trug einen überraschenden großen Sieg davon.

In beiden Fällen handelte es sich um wertkonservative und wirtschaftsliberale Kräfte, denen aber das herrschende politische Regime nicht wohl gesonnen war. Der Erfolg der AKP folgt dem gleichen Muster; die TürkInnen wählen konservativ, und sie wählen jene, die vom Regime verfolgt werden.

Dem politischen Establishment hingegen wurden die repressiven Regeln des Militärs zum Verhängnis. Die Zehnprozenthürde sollte KurdInnen und IslamistInnen vom Parlament fernhalten, nun scheiterten an ihr sämtliche alten bürgerlichen Parteien. Die Demokratische Linkspartei des Ministerpräsidenten Bülent Ecevit brachte es auf etwas mehr als ein Prozent der Wählerstimmen, die bürgerlich-konservative Anap errang fünf Prozent. Selbst die Partei des Rechten Weges der früheren Ministerpräsidentin Tansu Çiller, deren bäuerliches Wählerpotenzial als stabil galt, scheiterte mit 9,5 Prozent. Das bedeutet wahrscheinlich den Todesstoß für diese Parteien, die sich nicht reformieren konnten.

Gescheitert sind auch die Hoffnungen der kurdischen Bewegung, zusammen mit Teilen der türkischen Linken im Bündnis Dehap ins Parlament einzuziehen. Obwohl es in den kurdischen Regionen, im Gegensatz zum Jahr 1999, kaum Wahlbehinderungen gab, konnte sie dort ihren Stimmenanteil nur geringfügig ausbauen, insgesamt reichte es für sechs Prozent. Ethnizität wirkt nicht mehr als politisches Mobilisierungsinstrument.

Die einzige Oppositionsfraktion des neuen Parlaments wird die Republikanische Volkspartei (CHP) stellen, die in der vergangenen Legislaturperiode nicht dem Parlament angehörte. Die CHP ist die ehemalige kemalistische Staatspartei, die sich jedoch mehr und mehr der europäischen Sozialdemokratie im Stile Tony Blairs und Gerhard Schröders angenähert hat.

Recep Tayyip Erdogan war ein Mitglied der islamistischen Bewegung unter der Führung Necmettin Erbakans, wurde 1994 Oberbürgermeister von Istanbul und verbrachte wegen einer Rede vier Monate im Gefängnis. Kurz vor den Wahlen wurde ihm das zum Verhängnis. Er durfte nicht kandidieren und kann deshalb nicht Ministerpräsident werden. Theoretisch könnte sogar seine Partei vom Verfassungsgericht verboten werden. Wahrscheinlich ist das jedoch nicht, schließlich fehlen der AKP nur wenige Stimmen an einer verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit im Parlament.

Der Aufstieg der AKP ist nicht nur eine Folge des Zersetzungsprozesses der korrupten bürgerlichen Parteien, sondern auch ein Ausdruck der Transformation des politischen Islam. Die Partei Erbakans, die den traditionellen politischen Islam verkörpert, erhielt nur 2,5 Prozent. Doch den Kadern der AKP geht es nicht um die Religion, sondern um die Frage, wie der türkische Kapitalismus effizienter gestaltet werden kann. Und die WählerInnen sind Opfer der Wirtschaftskrise, die Arbeit verlangen und dasselbe wollen.

Dennoch ist die religiöse Orientierung nicht unwesentlich. Im Deutschland der Weimarer Republik hatte die Zentrumspartei nie die Chance, zur stärksten politischen Kraft zu werden, sie blieb die Partei des deutschen Katholizismus. Erst in der CDU verlor das religiöse Bekenntnis nach und nach an Bedeutung.

Ein ähnlicher Prozess vollzieht sich nun in der Türkei. Teile des Personals und der WählerInnen der AKP mögen fromm sein, doch sie wollen keine religiöse Politik. Ihnen geht es um die Steuersätze und die Energiepreise. In der Türkei könnte es nun zu einer Normalisierung kommen, der Islam wäre keine politische Alternative zum Regime, sondern das kulturelle Beiwerk in einer kapitalistischen Demokratie.

So ist denn nach den Wahlen viel von der Privatisierung und der Deregulierung die Rede. Davon, dass man unbedingt die Verpflichtungen gegenüber dem Internationalen Währungsfonds einhalten und den Haushalt sanieren werde, dass man die Steuern senken wolle. Mit einem ausgesprochen prowestlichen, europafreundlichen Programm hatte Erdogan den Wahlkampf geführt. Nach seinem Erfolg kletterten die türkischen Börsenwerte binnen weniger Tage um mehr als 30 Prozent. Die Industriellenverbände jubelten, und die Manager des IWF sicherten der neuen politischen Führung ihre Unterstützung zu.

Erdogan wird die Beziehungen zur EU pflegen. Noch vor dem EU-Gipfel am 12. Dezember in Kopenhagen, auf dem entschieden wird, ob die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beginnen, will er durch die westlichen Hauptstädte reisen. Wiederholt versicherte er in der vergangenen Woche, dass er die Grundrechte und Freiheiten erweitern wolle. Begrenzen will er hingegen die parlamentarische Immunität, die korrupte Politiker in der Vergangenheit wiederholt missbrauchten.

Es ist ein nationales Konsensprogramm, das sich der Zustimmung der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung gewiss sein kann und dem sich auch die Sozialdemokraten schlecht entziehen können. Deren Vorsitzender Deniz Baykal kündigte bereits eine »konstruktive Opposition« an. Ausgerechnet als ein ehemaliger Islamist die Wahlen gewann, machte sich im Land eine demokratische Aufbruchstimmung breit.

Die Frage lautet nun, inwieweit das herrschende politische Regime, in dem zweifelsohne die Generäle ein gewaltiges Wort mitzureden haben, diesen Transformationsprozess blockieren könnte. Allerdings befürworten fast alle gesellschaftlichen Kräfte eine enge Anbindung an die EU. Und große Zustimmung findet Erdogan auch, wenn er vor laufenden Fernsehkameras ruft: »Die Folter muss aufhören! Nicht weil die EU das will, sondern weil unsere Bürger das wollen.«

Was allerdings die Kriegspolitik der USA im Nahen Osten betrifft, so ist Kontinuität angesagt. Denn die Türkei war und bleibt neben Israel der wichtigste Verbündete der USA in der Region. Ein erster Konflikt zwischen der Regierung und dem Regime wurde in der letzten Woche beim Thema Zypern deutlich. Das Parteiprogramm der AKP strebt einen Kompromiss auf der geteilten Insel an. Nach den Wahlen sprach Erdogan von einem »belgischen Modell«. Begeistert horchten die Griechen auf, während die Sprecher des türkischen Außenministeriums mitteilten, an der Zypernpolitik der Türkei werde sich nichts ändern. Erdogan machte einen Rückzieher. Sich mit dem Militär anzulegen, will er vorerst nicht riskieren.