Das Europäische Sozialforum

Die Menge macht's

Auf dem ersten Europäischen Sozialforum war der Krieg gegen den Irak das dominierende Thema, das die Widersprüche der Bewegung überdeckte.

Es ist nicht viel los an diesem Samstagnachmittag in Florenz. Zumindest nicht vor den Uffizien. Unter den Arkaden, wo sonst die Touristen Schlange stehen, um Gemälde von Botticelli und anderen berühmten Malern zu bestaunen, sitzt nur Fabio aus Palermo: »Es werden heute viele Leute zur Demo gegen den Krieg kommen. Das ist sehr wichtig, denn es hilft, die Ohnmacht zu besiegen«, sagt er. Deshalb hat auch er mit seinen Freunden die Reise von Sizilien auf sich genommen.

Als er mit seiner Gruppe wenig später zum Treffpunkt an der Fortezza de Basso kommt, steht bereits fest, dass die Erwartungen der Organisatoren übertroffen wurden. »Es ist beinahe eine Million Menschen hier mit uns zusammen«, verkündet jemand aus dem Lautsprecherwagen, von immerhin 500 000 Teilnehmern spricht später die italienische Polizei. Vor der mittelalterlichen Festungsanlage, wo in den vergangenen drei Tagen das erste Europäische Sozialforum stattfand, sieht man ein Meer von Fahnen. Am auffälligsten sind die vielen tausend Mitglieder der ehemals kommunistischen Gewerkschaft CGIL sowie die Anhänger von Rifondazione Comunista. Auch die Grünen sind da, die Disobbedienti, die Anarchisten und die Anhänger der italienischen Friedensbewegung mit ihren bunten Bannern.

Die Demonstration gegen einen möglichen »Angriff auf den Irak«, die gleichzeitig den Abschluss des Forums markiert, ist die bislang größte in ganz Europa. Grund genug also für die Versammelten, um ausgelassen zu feiern. Menschen tanzen auf der Straße, rufen »pace, pace« (Frieden) oder »Gegen Rassismus, für die Revolution«. Von einer angespannten Atmosphäre wie in Genua keine Spur, was sich im Lauf der gesamten Veranstaltung nicht ändern wird. Dazu tragen auch die italienischen Sicherheitskräfte bei, die auf der Demonstration überhaupt nicht zu sehen sind.

Überall in der endlos wirkenden Masse wehen palästinensische Fahnen. Die Solidarität mit Palästina ist eine Selbstverständlichkeit, ein Teil der Bewegung hat sich offenbar die Intifada zum Vorbild auserkoren. Wenn es sein muss, erbittet man auch die Hilfe Gottes, wie es nicht wenige Protestierende tun: »Weg mit Sharon, Mann des Krieges - Intifada - Inschallah!«

Kritik daran üben nur wenige. »Diese Gleichsetzung von Intifada und linker Einstellung muss ein Missverständnis sein«, sagt Silvia Brunelli aus Florenz am Rande der Demonstration. Die antiisraelischen Parolen bereiten der Verlegerin, die Autoren wie Dario Fo betreut, sichtlich Unbehagen: »Das liegt wohl auch daran, dass die Menschen in Italien besonders schlecht über Israel informiert sind.« Brunelli unterstützt die Idee eines Europäischen Sozialforums. Aber sie kritisiert, »dass hier praktisch alle Opfer erwähnt wurden bis auf die Israelis, die für die Referenten praktisch gar nicht existierten«.

Während der Veranstaltungen des Europäische Sozialforums mit insgesamt 35 000 Teilnehmern sind nicht nur Ikonen wie Che Guevara und Abdullah Öcalan auf Postern, Fahnen und T-Shirts allgegenwärtig. Die Verdammung Israels scheint zur politischen Grundausstattung vieler Anwesender zu gehören. Eine Ausstellung zeigt Bilder einer Menora, eines siebenarmigen Leuchters, auf die Leichen aufgespießt sind. In zahlreichen Pamphleten wird das Existenzrecht Israels bestritten, ein reges Interesse herrscht an Aufklebern mit der Parole: »Wir sind alle Palästinenser!«

Albert aus Barcelona ist ohnehin der Meinung, dass auch antisemitische Inhalte nicht aus dem Forum verbannt werden sollten, denn »nur der Dialog macht eine Lösung möglich«. Er wisse natürlich nicht über alle Gruppen Bescheid, doch will er »so viele Standpunkte wie möglich mitbekommen, schließlich ist niemand im Besitz der ganzen Wahrheit«. Überhaupt gehe es beim Forum um Verschiedenheit: »Jeder kann seine Ideen einbringen.«

Auch Bernard Cassen, der Herausgeber der französischen Zeitung Le Monde Diplomatique und einer der Initiatoren des ersten Weltsozialforums, pocht auf die »bella confusione«, die schöne Verwirrung, wie eine Radioreporterin von Rai Uno in ihrer Not das Spektakel in Worte zu fassen versucht. »Wir wollen keine gemeinsamen Forderungen verabschieden, es geht darum, uns auszutauschen und Kräfte zu bündeln«, sagt der Präsident der französischen Sektion von Attac der Jungle World.

Kräfte bündeln will auch die europäische Friedensbewegung. Der Irakkrieg ist ohnehin das dominierende Thema der gesamten Veranstaltung. Auf einer Konferenz zum Krieg, die in einem der mehrere tausend Menschen fassenden Säle stattfindet, will man herausfinden, ob die USA mit dem möglichen Feldzug eine Hegemonialpolitik betreiben, und zugleich darüber beraten, wie die sozialen Bewegungen dagegen vorgehen können.

Auf dem Podium sagt Susan George von Attac, die Regierung Bush plane ein neues »Weltreich, das sich auf wirtschaftliche Beherrschung stützen wird«. Deshalb, so befürchtet sie, müssten »alle amerikanisiert werden«. »Dieser Krieg wird sicher mit Massenvernichtungswaffen geführt«, weiß Alex Callinicos, ein Professor der Universität York. Das Kriegsziel der USA sei die Kontrolle über die Erdölvorkommen auf der ganzen Welt, damit sich »das kapitalistische Wirtschaftssystem durchsetzen kann«.

Rossana Rossanda, die Gründerin der Zeitung il manifesto und eine Ikone der italienischen Linken, stimmt ihm zu: »Die USA versuchen, ihr Wirtschafts- und Sozialsystem und Krieg in unser Land zu bringen.« Europa dürfe nicht dabei mitmachen.

Flavio Lotti von der italienischen Friedensbewegung sammelt Argumente, um Europa gegen die USA in Stellung zu bringen: »Dieser Krieg entspricht nicht den Interessen Europas.« Schon jetzt seien die Benzinpreise gestiegen. »Und wenn die USA erst einmal die Ölpreise kontrollieren, wird es noch schlimmer.« Allein sein Vorredner, der Tübinger Friedensforscher Tobias Pflüger, betont, dass das bestehende Europa keine Alternative biete. Sie sei nur mit einem friedlichen »Europa von unten« möglich.

Doch nicht nur dieser Veranstaltung mangelt es am emanzipatorischen Anspruch. So kann ein britischer Menschenrechtler die Diskriminierung der in Europa lebenden Muslime anprangern, um im nächsten Satz sich und sein Anliegen zu diskreditieren: Wer sich nicht mit Panzern und Kampfjets zur Wehr setzen könne, dem müsse man die Verwendung der zur Verfügung stehenden Mittel nachsehen. Doch anstatt kritisiert zu werden, bekommt er Applaus.

Das widersprüchliche Nebeneinander von nationalistischen, staatstragenden und radikal gesellschaftskritischen Ansichten wird entweder in der Hoffnung auf eine emanzipatorische Wirkung des Forums ignoriert oder gleich zum Programm erklärt.

Um all die Widersprüche zu überdecken, sind gemeinsame Aktionen umso wichtiger. Nach der Demonstration kündigen die Organisatoren für den 15. Februar »einen europäischen Tag gegen den Irakkrieg« an, an dem in allem europäischen Hauptstädten demonstriert werden soll.