Ein Hamlet by doing

Zum Tode Rudolf Augsteins. Ein Nachruf

Vor einiger Zeit kam irgendwo, vielleicht aber bloß im Internet, eine »weltweite Equipe von Journalisten« zusammen. Ja, auch so etwas gibt es, zumindest in der weiten Welt Frank Schirrmachers, des für das Feuilleton, das Genom und die Rechtschreibung zuständigen Herausgebers der FAZ.

Dieses globale Team, diese unseren Planeten bedeckende Crème der Branche - denn nichts Geringeres darf man vermuten - stellte sich der Aufgabe, unter den lebenden und den toten Kollegen den besten des soeben vergehenden 20. Jahrhunderts auszulesen. Tucholsky und Ossietzky verfehlten damals die Medaillen und kamen auf den Plätzen 9 bzw. 11 ein, Karl Kraus belegte weit hinter Franz-Josef Wagner und Georg Gafron, aber noch vor Günther Schabowski den 82. Rang. Der Sieger hieß Rudolf Augstein.

Ein Seelenbruder Hamlets sei er gewesen, heißt es nun, da er tot ist; der intelligenteste unserer Mediengiganten und deshalb auch der »gebrochenste« (Hellmuth Karasek), anspruchslos, hochmütig, belesen und gebildet wie kein anderer, ein Liebhaber der Philosophie und der Künste.

Für Schirrmacher war er »der Patriot, der die Bundesrepublik zivilisierte«. Er zähle vielmehr »zu den Gründungsvätern der Bundesrepublik Deutschland by doing«, widersprach Jürgen Busche in der taz und lobte ihn gerade dafür, dass er ein deutscher Patriot gewesen und bis zu seinem Tod geblieben sei: Er »hielt an seinen alten Abneigungen fest, die schwächere Charaktere längst aufgegeben hätten. In seiner Abneigung gegen Ziele und Methoden der amerikanischen Politik, die deutsch-national zu jeder seiner Lebensphasen passte, war er ungebrochen.«

Er war also, in einem Satz, ein ungebrochener Hamlet by doing. Und zugleich die kaum anderthalb Meter messende Allegorie der Pressefreiheit, der wir all dies und noch viel mehr verdanken.

Schiebt man die Lyrik des Nekrologs und die Legende vom »Sturmgeschütz der Demokratie« beiseite, so bleiben zwei große öffentliche Verdienste, die Rudolf Augstein sich in seinem Leben erworben hat: Die Engländer gaben ihm eine Zeitungslizenz und Adenauer ließ ihn verhaften.

Eine solche Lizenz kam am Ende der vierziger Jahre der Erlaubnis nahe, sich sein Geld gleich selbst zu drucken. Augstein war clever genug, die Chance zu ergreifen, und gründete ein Wirtschaftsunternehmen, das beständig wuchs und sogar heute noch floriert, obwohl die Schwierigkeit, die Seiten zwischen den Anzeigen mit irgendetwas Druckreifem zu füllen, in letzter Zeit immer empfindlicher wird.

Dass es sein Widerspruchsgeist und seine angeborene liberale Gesinnung waren, oder gar seine Erfahrungen unterm Naziregime und im Krieg, die ihn die Deutschen lehren hießen, was eine Opposition ist, machen uns seine Bewunderer mit großer Mühe weis. Ebenso gut könnte es die Ahnung gewesen sein, auch außerhalb der CDU und der Kirchen warte ein Marktsegment. Doch selbst wer darunter leidet, dass »Ich, Boris« ein gutes Geschäft ist, und deshalb den Spiegel nur noch hin und wieder aus einer perversen Lust am Ekel aufschlägt, wird gleichwohl zugeben müssen, dass »Die Affäre Barschel« ein noch besseres war.

Augstein war »im Zweifel links«. Das muss stimmen, er hat es selbst gesagt. Den Beweis durfte er schuldig bleiben, denn dieser Hamlet zweifelte halt nie. Er habe die Hälfte seines Unternehmens den Mitarbeitern geschenkt, heißt es. Man könnte allerdings dieselbe Tatsache auch anders beschreiben. Als am Beginn der siebziger Jahre einige Redakteure des Spiegel, verbündet mit dem Geist der Zeit, dem Herausgeber dreinreden wollten, feuerte er die Aufmüpfigen und kaufte die Wankelmütigen und die Braven mit einer Gewinnbeteiligung. Im Übrigen, so berichten es viele Anekdoten, herrschten im Hause Augstein der allerstrengste Komment, die Hierarchie der Chefs und ihrer Stellvertreter und der Formenzwang einer preußischen Besserungsanstalt.

Nicht nur deshalb ähnelte die Spiegel-Redaktion dem vorgeblich bekämpften Adenauerstaat, mindestens solange es ihn gab. Wie Adenauer sich seine Globkes hielt, so beschäftigte Augstein allerhand schwer belastete Nazis. Den ehemaligen persönlichen Referenten des Reichspropagandaministers Goebbels schickte er als Korrespondenten nach Südamerika.

Rudolf Diels, »der unerschrockene Abenteurer zwischen den Regimen«, wie Augstein ihn nannte, war bis 1934 der erste Leiter der Gestapo gewesen und durfte 1949 im Spiegel eine achtteilige Serie über die segensreiche Tätigkeit dieser Behörde schreiben: Bis zum Röhm-Putsch geschah nichts Schlimmes, und danach war »die Geschichte des Dritten Reiches die Geschichte eines Einzelnen«. Diese letztere Meinung verbreitete auch Augstein immer wieder in seinen historischen Betrachtungen.

Eine andere Artikelserie des Spiegel beschäftigte sich 1949 mit dem Kaffeeschmuggel, der von displaced persons betrieben wurde, von ehemaligen Häftlingen der Konzentrations- und Zwangsarbeitslager. Die Autoren hießen Georg Wolff und Horst Mahnke. Beide hatten im SD an der Gegnerbekämpfung gearbeitet und Material über Juden, Marxisten und Freimaurer gesammelt und ausgewertet. Im Auftrag des Spiegel fanden sie nun heraus, dass auch hinterm Schwarzhandel mit Kaffee vornehmlich Juden und Freimaurer steckten. Mahnke hatte dem Vorauskommando Moskau der Einsatzgruppe B angehört, 1952 leiteten er und sein Kollege Wolff die Ressorts »Ausland« bzw. »Internationales« des Spiegel.

Womöglich gelang der investigative Journalismus in jenen Jahren auch deshalb so prächtig, weil Augstein sich ehemaliger Fachleute aus dem SD und ihrer Kontakte zum eben entstehenden BND bedienen konnte. Er selbst schrieb damals, gemeinsam mit einem ehemaligen Hauptsturmführer aus dem Reichssicherheitshauptamt, eine 30teilige Serie über Arthur Nebe, den Kommandanten der Einsatzgruppe B, und die deutsche Kriminalpolizei.

Von Heydrich wusste Augstein, er sei »in der Tschechei besser als sein Ruf« gewesen. Und Nebe ist nach dem Mord an einer Gruppe überflüssiger Menschen mithilfe von Auspuffgasen »vollends am Ende. Er tröstet sich mit dem Gedanken, ordentliche Männer seiner Einsatzgruppe vor der Durchführung einer Exekution bewahrt zu haben.«

Otto Köhler, der diese Seltsamkeiten in Augsteins Personalpolitik entdeckte, durfte sie nach einer Intervention Theo Sommers in der Zeit nicht mehr veröffentlichen, und in Konkret wurden sie nicht wahrgenommen. Erst als die taz dieselben Enthüllungen ein paar Jahre später noch einmal enthüllte, wurde Augstein ins Studio der »Tagesthemen« zitiert, wo er sich darauf herausredete, die alten Kamellen seien doch längst bekannt und Ähnliches habe es in allen westdeutschen Zeitungsredaktionen gegeben. An der Aufklärung im eigenen Betrieb war der große Aufklärer, der die Geschichte des Dritten Reichs von der SS schreiben ließ, nicht interessiert.

Ungebrochen wie sein Antisemitismus, der an dieser Stelle des Öfteren dokumentiert wurde, blieb Augsteins Leben lang die nationale Gesinnung. An Adenauers Politik missfiel ihm weniger die Rehabilitation der alten Eliten als die Bindung an den Westen, schien sie doch die Teilung Deutschlands zu verewigen. Nur wer ihn besser kannte als alle seine Bewunderer, wird ahnen, ob im Jahr 1990 die Freude über die Wiedervereinigung größer war als der Ärger darüber, dass ihm sein Herzenswunsch ausgerechnet von Kohl erfüllt wurde.