Gratisabos der Tageszeitungen

Lesen für lau

Trotz der größten Medienkrise seit 1945 werden einige Verlage nicht müde, ihre Tageszeitungen an alle zu verschenken.

Ein Abend in Berlin. Ich sitze mit einem Freund, der ebenfalls Journalist ist, bei alkoholischen Getränken in einer Bar in der Kastanienallee. Die Stadt ist pleite, wir bald auch. Natürlich sprechen wir über die Zeitungskrise. Nicht ausschließlich, aber doch intensiv.

Was bisher geschah: Die Auflagen sind stabil, aber ein stark rückläufiges Anzeigenvolumen nach dem Boom im Jahr 2000 führte in den vergangenen 18 Monaten zu immer drastischeren Maßnahmen in der Zeitungsbranche. Es gab Kürzungen und Entlassungen selbst bei Blättern, die bislang immer als stabil und krisensicher gegolten hatten, manche Publikationen mussten sogar eingestellt werden. Niemand schien verschont zu bleiben. Wir bestellen die nächste Runde und tauschen Neuigkeiten aus. Wo hat es jetzt wieder gekracht? Weißt du, wo der Soundso inzwischen gelandet ist?

»Sigsdas! Des is die Krise!« (Monaco Franze), die Zeiten sind schlecht. So schlecht, dass mittlerweile schon die Worte Süddeutsche und »Insolvenz« in einem Satz fallen können, ohne dass es jemanden wirklich überrascht; so schlecht, dass die FAZ, die sonst stets mit dem Bau neuer und größerer Geldspeicher beschäftigt schien, 100 weitere Redakteure an die Luft setzen und ihr »Businessradio« einstellen muss.

Was insofern eine neue Dimension eröffnet, als dass es mittlerweile nicht mehr nur die »young guns« erwischt. Waren bei der Einstellung des Jugendmagazins jetzt (SZ) und der »Berliner Seiten« (FAZ) vorwiegend Twentysomethings auf die Straße gesetzt worden, müssen jetzt langsam auch Familienväter gehen, die ihre Eigentumswohnung noch nicht abbezahlt haben.

Um so überraschter ist man dann jedoch, dass einem immer noch nahezu sämtliche Zeitungen, vom Tagesspiegel über die Süddeutsche bis zur Berliner Zeitung ständig und überall gratis angeboten, wenn nicht aufgedrängt werden. Auch an diesem Abend hat unsere Diskussion gerade erst so richtig begonnen, als eine Studentin an den Tisch kommt und Gratisabos der SZ loswerden möchte.

Als mein Begleiter einwendet, das letzte Probeabo der SZ sei erst vier Wochen her, schlägt sie vor, einfach den Namen eines Mitbewohners anzugeben. »Oder du schreibst einen ganz neuen Namen an den Briefkasten, machen fast alle so.« Selbst bei der korrekten Anschrift würde der Abovertrieb oft nichts merken und immer wieder neue Gratisabos versenden. Als ich zu Hilfe komme und erkläre, wir hätten sowieso kein Interesse beziehungsweise auch kein Geld für einen dauerhaften Bezug, bietet sie an, das Abo beizeiten für uns zu kündigen.

Spätestens hier stellt sich die Frage, was genau sich die Vertriebs- und Marketingabteilungen der großen Zeitungsverlage eigentlich von einer solchen Vorgehensweise versprechen. Wenn schon vorher klar ist, dass keine »echten«, also bezahlten und dauerhaften Abos gewonnen werden. Wenn die Aboverkäufer jeden Trick anwenden, um ihre Scheine und Karten ausgefüllt und unterschrieben zu bekommen. Wenn schließlich das Medium Tageszeitung durch ständiges Verschenken eine Entwertung erfährt, die der durch die viel geschmähten Gratisblätter wie 20 Minuten Köln verdächtig nahe kommt.

Denn wer kommt sich nicht blöd dabei vor, dem Kioskbesitzer morgens Geld in die Hand zu drücken für etwas, das einem am Abend vorher in der Kneipe dreimal umsonst angeboten wurde. »Was nichts kostet, ist nichts wert«, lautet ein Spruch, den Großeltern gerne von sich geben. Und auch wenn sie gerne und häufig irren, hier tun sie es nicht.

Denn es ist so einfach geworden, sich von einem Gratisabo zum nächsten zu hangeln, dass uns bis zur dritten Runde bereits mehrere Leute aus unseren Bekanntenkreisen eingefallen sind, die mittlerweile auf ein reguläres Zeitungsabo verzichten, das sie sich normalerweise leisten würden.

Jens (27) und seine Freundin Lena (25) sind so ein Fall. Die beiden wohnen zusammen in Berlin-Friedrichshain. Früher waren sie treue Leser der Berliner Zeitung, heute hoppen sie von einem Gratisabo zum nächsten. »Meistens kommen die Zeitungen sowieso ein paar Tage länger als zwei Wochen, und wenn man den Bogen raus hat, sind kaum Lücken zwischen den verschiedenen Abos«, berichtet Jens. Und so lesen sie jetzt reihum die Berliner, die Süddeutsche, den Tagesspiegel und ab und zu die FAZ. »Die bekommt man aber nur selten aufgedrängt«, sagt Lena, »da muss man sich richtig drum bemühen. Dafür wird sie dann im Hausflur nie geklaut. Genauso wenig wie die taz übrigens.«

Ein schlechtes Gewissen haben die beiden nicht, warum auch. Sie freuen sich über die plötzliche Meinungsvielfalt in ihrem Briefkasten. »Manchmal ist es ja auch ganz spannend, in Fraktur zu lesen, was der Feind so denkt«, philosophiert Jens über seine regelmäßig wiederkehrenden zwei Wochen mit der FAZ.

Natürlich wäre es vermessen und falsch zu behaupten, die Zeitungskrise sei durch das massenhafte Verschenken von Abonnements sozusagen hausgemacht. Tageszeitungen leiden erwiesenermaßen überdurchschnittlich stark unter dem Einbruch der Werbeumsätze. Während das Fernsehen im Jahr 2001 nur mit Rückgängen von etwa fünf Prozent im Vergleich zum Vorjahr zurechtkommen musste, sorgten vor allem fehlende Stellen-, Immobilien- und KFZ-Anzeigen bei der Tagespresse für einen Rückgang von rund 15 Prozent im selben Zeitraum.

Doch selbst diese Einbußen hätten nicht zu den gegenwärtigen Katastrophen führen müssen, hätten die Verlage die Rekordumsätze der fetten Jahre nicht als normal angesehen und monströse Verlagsneubauten in Auftrag gegeben anstatt Rücklagen zu bilden. Die Analysten sind sich einig, dass die gegenwärtige Flaute und die Entlassungen mindestens ebenso stark auf Managementfehler der Verlage zurückzuführen sind wie auf den Rückgang der Anzeigenerlöse.

Zurück zu den Bodentruppen. Vor den Schönhauser Arkaden im Prenzlauer Berg steht Daniel und schlürft Milchkaffee aus dem Pappbecher. Wenn er sich nicht gerade so wie jetzt mit einer Bekannten unterhält, bietet er den Einkaufenden Gratisabos der Berliner Zeitung an. 4,20 Euro bekommt er für jeden geworbenen Abonnenten. Natürlich nur, wenn »der Schein durchgeht«, das bedeutet, wenn sich die Adresse und die Telefonnummer als korrekt herausstellen.

Daniel wirkt entspannt. Er macht den Job seit sechs Jahren, hat sich damit sein komplettes Studium finanziert. Jetzt macht er eine Ausbildung, kann deshalb nur noch samstags hier stehen. In vier bis fünf Stunden verdient er trotzdem um die 100 Euro. Das habe zum einen mit dem guten Standort zu tun, zum anderen damit, »dass ich einfach gut bin«. Viele seiner Kollegen, die woanders stehen, müssen sich mit zwei ausgefüllten Scheinen pro Stunde zufrieden geben. Bei Daniel jedenfalls ist von Untergangsstimmung nichts zu spüren.

Anderswo hingegen schon. Viel wird in diesen Tagen darüber philosophiert, ob die Tageszeitung per se noch ein zeitgemäßes Medium darstellt. Das tut sie zweifellos, wenn sie zwei Dinge beachtet. Die Tageszeitungen müssen sich wieder mehr um ihre jüngere Leserschaft bemühen. Das geht nicht mit halbherzigen und verquasten Alibi-Jugendseiten, sondern nur mit spezifischen Angeboten. Die gibt es nicht zum Nulltarif.

Und damit klar wird, dass Zeitungen mehr sind als ein Stapel bedrucktes Altpapier, müssen sie zuerst aufhören, sich wie welches zu verschleudern.