Wolfgang Sofsky "Zeiten des Schreckens"

Die Zukunft der Gewalt

Wolfgang Sofsky ist der Nahkämpfer unter den Gewaltsoziologen.

Ground Zero in New York. Giftgas in Tokio. Geiseldrama in Moskau. Amok in Erfurt. Völkermord in Ruanda. Heckenschützen in Maryland. Man gewinnt den Eindruck, die Welt als Summe ihrer Gräueltaten sei dabei, den Ereignisraum brutaler Realitäten immens zu erweitern. Doch ist das wahrscheinlich nicht der Fall. Wohl verändert sie sich, so wie sich die Formen der Berichterstattung über das Konstrukt Welt und damit auch über die Gewalt verändern. Aber ob sie jemals besser war? Man darf daran zweifeln. Im zweiten Band seiner Essays notiert Michel de Montaigne (1533-1592) angesichts der blutigen Bürgerkriege: »Ich hätte es kaum geglaubt, ehe ich es gesehen hatte, dass es so scheußliche Seelen geben könnte, die um reiner Mordlust willen Mord begehen: andere Menschen zerhacken und ihnen die Glieder abhauen; ihren Geist anspannen, um unbekannte Foltern und neue Todesarten zu erfinden.«

Der Göttinger Soziologe und Publizist Wolfgang Sofsky, dessen jüngstes Buch »Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg« gleichzeitig mit zirka hundert weiteren Titeln zum Thema erschienen ist, zitiert die Erschütterung des Philosophen Montaigne in einem Aufsatz über »Zivilisation, Organisation, Gewalt« (Mittelweg 36, 1994). Mit diesem programmatischen Essay und dem zwei Jahre später veröffentlichten »Traktat über die Gewalt« wird der Name Sofsky im Zentrum einer längeren Diskussion zur Lage und zukünftigen Form der Gewaltsoziologie in Deutschland stehen. Wie bei lose geführten akademischen Debatten üblich, wird auch hier nicht zu Ende diskutiert. Und wenngleich nicht ganz erledigt, so ist die Diskussion inzwischen doch längst wieder erkaltet. Sofskys zahlreiche Publikationen indes, allen voran »Zeiten des Schreckens«, passen ganz vorzüglich in diese vermeintlich schlimmen Zeiten.

»Auf den ersten Blick ist Montaignes Beobachtung von bedrückender Aktualität«, fährt Sofsky fort. Doch »schlimmer noch«, auf »den zweiten Blick wirkt Montaignes kurzes Notat eigentümlich antiquiert. An die Seite der Krieger und Schächer sind mittlerweile Handwerker des Todes getreten, die ihre Arbeit scheinbar ohne innere Leidenschaft verrichten.« Die moderne Technik und Organisation habe Kriegsgewalt und Verfolgungsterror in ungeahnter Weise gesteigert. »Der Prozess der Disziplin und Zivilisation hat die Gewalt nicht eingedämmt, im Gegenteil, er hat sie vervielfacht.« Es sind in diesem Theorem die Gedanken Zygmunt Baumanns, vor allem aber Adornos und Horkheimers zu Zeiten ihrer »Dialektik der Aufklärung« zu erkennen. Doch geht es Sofsky nicht darum, sich im Spektrum kritischer Zivilisationstheorien zu verorten. Sie dienen ihm lediglich als Negativ für die Entwicklung einer so eigenen wie eigenwilligen Variante der Gewaltsoziologie.

Sofsky meint, Theorien der Zivilisation würden generell viel zu hoch ansetzen, um die Wirklichkeit der Gewalt erfassen zu können, erst recht um das Tatgeschehen in seinen Einzelheiten verständlich zu machen. Genauso wenig hält er von der so genannten Mainstreamgewaltforschung, die, in erster Linie befasst mit der Enthüllung von Motiven als der Ursache von Gewalt, notwendig auf Distanz zum Gewaltgeschehen bleiben muss.

Er fordert für Gewalt, was Foucault einst für die Macht reklamierte, dann aber nicht realisierte: eine Analyse von unten, allerdings mit mikrosoziologischen Mitteln und ohne aufsitzende Theorie. Die Gewaltsituationen selbst sollen endlich in den Blick genommen werden. Kein einfaches Programm, beobachtende Teilnahme kommt eher nicht in Frage, und mit Fragebögen ist Gewaltphänomenen wie dem Massaker nur schwer zu Leibe zu rücken. Was tun?

Im Jahr 1996 erscheint sein »Traktat über die Gewalt«, Sofskys unter Gewaltforschern weithin umstrittener Versuch dichter Beschreibungen extremer Gewalt. Das Extreme an sich ist allerdings schon länger sein Thema. In seiner luziden Studie über die Konzentrationslager des dritten Reichs, »Die Ordnung des Terrors« (1993), befasst er sich mit der wohl extremsten Form von Macht. Dieser von ihm als »absolut« bezeichnete Machttypus lebt von der eingebauten Möglichkeit willkürlicher Entgrenzung, von der Freiheit der Aufseher, jederzeit und ohne Rechtfertigung alles mit den Gefangenen tun zu können, ihre Ermordung eingeschlossen. Der Tod markiert die einzige Grenze absoluter Macht. Wer darin eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit zu der jüngst von Giorgio Agamben beschriebenen »Macht über das nackte Leben« ausmacht, liegt vermutlich nicht verkehrt.

Zu den Erscheinungsformen extremer Gewalt zählen all jene blutigen Praktiken, die mindestens die körperliche Verletzung, meist aber den Tod des Opfers oder eines der Kontrahenten zur Folge haben. Und weil Gewalt laut Sofsky prinzipiell die Tendenz zur Entgrenzung in sich birgt, wendet er sich im »Traktat« wie auch später vor allem Formen entfesselter, enthemmter und verselbständigter Gewalt zu: der Tortur, dem Kampf, der Jagd und Flucht sowie dem Massaker.

Über den Kampf und die ihm immanente Logik schreibt er, dass es in seiner Natur liege, »Kräfte in Gang zu setzen, die alle Hindernisse niederwalzen. Der Exzess absoluter Gewalt ist keine Verfallsform des Kampfes, er ist in seiner Struktur selbst angelegt«. Schon möglich, doch beweisen lässt sich das natürlich nicht. Nicht eskalierende, sich eigendynamisch gerade nicht bis ins Letzte fortschreibende Kampfverläufe sind jedenfalls genauso denkbar, und so man denn sucht, sind sie vermutlich auch empirisch auszumachen. Jedoch, das halb Entfesselte, Zurückgenommene oder gar Reglementierte interessiert Sofsky nicht.

Die »dichte Beschreibung« erscheint bei Sofsky anders als beim Kulturanthropologen Clifford Geertz, der diese Worte als Arbeitsbegriff für ein möglichst tiefes Eindringen in die Gedankenwelt und symbolische Ordnung fremder Kulturen prägte, in erster Linie als ein Manöver der Rhetorik, als eine Frage des Stils, und in zweiter Linie als eine besonders penible Beschreibung dessen, was man zwar nicht selbst beobachtet hat, aber so schildert, als sei genau das der Fall gewesen. Im Kapitel über das Massaker liest sich das so: »Unter einer Stiege drang das leise Wimmern eines kleinen Jungen hervor. Einer der Spießgesellen packte ihn lachend an der Gurgel, hob ihn hoch und drückte so lange zu, bis das Wimmern aufhörte.« Die halb erfundene, quasi literarische Schilderung dient der Analyse des Massakers als Anschauungsmaterial und dem Soziologen als Ersatz für die fehlenden Beobachtungen. Aber selbstverständlich will sie in ihrer ambitionierten Prosahaftigkeit noch etwas anderes, ganz Unsoziologisches: Entsetzen schüren und Spannung erzeugen.

Wenig geändert hat sich in »Zeiten des Schreckens«, Sofskys jüngstem Buch. Die Rhetorik ist dieselbe. Auch hier der markig knappe, bisweilen fast brutal zu nennende an Elias Canettis »Masse und Macht« geschulte Stil. Die Themen sind teilweise neu. Doch gilt der ausforschende Blick abermals den Abgründen extremer Gewalt. Das Buch schließt mit der Analyse des Attentats, Amoklaufs und Sturmangriffs, mit der Beschreibung innerer »Gesetzmäßigkeiten« von Kriegs- und Verfolgungsterror nahtlos an das »Traktat« an. Die Beiträge selbst stammen aus unterschiedlichen Zeiten, was man ihnen allerdings nicht anmerkt. Sie korrespondieren miteinander und sind stetig aufeinander bezogen.

Im Kapitel »Über das Töten« schreibt Sofsky in einer Art Weiterführung der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners: »Die Gewalt ergibt sich aus der spezifischen Menschlichkeit des Menschen. Weil er immer schon außer sich ist, ist er zu jeder Grausamkeit in der Lage. Weil er nicht aus seiner Mitte heraus von Instinkten gelenkt wird, sondern als geistiges Wesen ein Verhältnis zu sich selbst hat, kann er sich schlimmer aufführen als jede Bestie.« Er kann, aber er muss nicht.

Bei Sofsky aber erscheint genau diese Potenzialität als letzter und hinreichender Grund von und für Gewalt, vor allem weil er keine der Gewaltausübung vorgelagerten Gründe angibt. Gewalt braucht laut Sofsky weder Motive noch Rechtfertigungen. Die Frage wäre dann aber, warum sie sich nicht ohne Unterlass entlädt, warum wir nicht alle, Tag für Tag, Beine abhacken und Köpfe abschlagen gehen. Erst recht wenn Gewalt, wie Sofsky glaubt, den Tätern und Zuschauern einen so immensen Lustgewinn bereitet.

Dadurch, dass Sofsky die Gewaltsamkeit als anthropologische Grundausstattung des Menschen begreift, wird sie notwendig universal. So erklärt es sich auch, warum er sich herzlich wenig um ihre Geschichtlichkeit, um die Variationen ihrer Erscheinungsformen in der Zeit, kurz um historische Differenzierungen schert.

Für einen Gewaltsoziologen spricht Sofsky eine ungewohnt deutliche Sprache. Und so sie denn nicht gerade bloß Trivialitäten zutage fördern (»Wie das Attentat ist der Amoklauf Gewalt ohne Vorwarnung«), lassen sich einige der detaillierten Einzeluntersuchungen, etwa jene über den Marodeur oder die Vergeltung, mit einigem Erkenntnisgewinn lesen. Im Kapitel »Terror und Verfolgung« heißt es über die subjektiven Empfindungsweisen der Zeit: »Spezifische Zeitstrukturen weisen ferner die Gefühle und Empfindungen auf, welche die Gewalt begleiten: die komprimierte Zeit der Panik, die Dauer der Verzweiflung, die akzelerierte Angst der Flucht, die pulsierende Erregung des Jagdfiebers oder der Kampfeswut.« Unüberhörbar spricht da jemand, der sich tief versenkt hat in eine Phänomenologie der Gewalt.

In der Vergangenheit wurde Sofsky häufig als Zyniker bezeichnet. Das ist er nicht. Er ist ein finsterer Pessimist bis ins Mark seiner Knochen. Und wird es wohl auch bleiben.

Wolfgang Sofsky: Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg. S. Fischer Verlag, Frankfurt /M. 2002, 256 S., 19,90 Euro