Der Tanz der Debütanten

In Kopenhagen hat die EU mit der Aufnahme von zehn osteuropäischen Ländern die größte Erweiterung ihrer Geschichte beschlossen.

Für einen kurzen Augenblick sah es so aus, als ob aus dem historischen Ereignis doch nichts werden würde. Die Staats- und Regierungschefs aus 15 europäischen Ländern hatten sich Ende der vergangenen Woche in Kopenhagen versammelt, um die größte Erweiterung der Europäischen Union seit ihrer Gründung zu beschließen. Die Aufnahme der zehn osteuropäischen Beitrittskandidaten sollte zugleich eine historische Zäsur markieren, die endgültige Vereinigung Europas nach dem Ende des Kalten Krieges.

Doch gleich zu Beginn drohte die polnische Delegation die große Stunde zu verderben. Ohne eine deutliche Erhöhung der finanziellen Beihilfen stehe der Beitritt in Frage, hieß es düster. »Eine Erweiterung ohne Polen« sei für ihn »nicht vorstellbar«, erklärte der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder daraufhin.

»Bis zum Letzten«, sagte der polnische Regierungssprecher Michael Tober später, habe die Delegation in Kopenhagen um höhere EU-Finanzhilfen gekämpft. Die Union will in den nächsten Jahren zunächst 43 Milliarden Euro an die zehn Kandidaten zahlen. Ein bescheidener Betrag, verglichen mit den schätzungsweise 500 Milliarden Euro, die allein die deutsche Wiedervereinigung bislang gekostet haben soll. Ursprünglich sollte die Hilfe großzügiger ausfallen, doch wegen der akuten Wirtschaftsflaute in Europa senkten die Mitgliederländer im vergangenen Jahr die Summe um über zwei Milliarden Euro.

Die dramatische Inszenierung half den polnischen Vertretern am Ende nicht viel. »Wer jetzt zu keinem Abschluss mit der EU kommt«, erklärte der dänische EU-Ratspräsident Anders Fogh Rasmussen am Donnerstag lapidar, müsse eben bis zur nächsten Erweiterungsrunde warten. »In diesem Moment habe ich nicht mehr Geld«, wies er die polnischen Forderungen barsch zurück.

Die Aussicht, in fünf Jahren gemeinsam mit Bulgarien und Rumänien wieder bei der EU anzuklopfen, stellte für die polnische Delegation einen wahren Alptraum dar. Sie gab sich schließlich doch mit einem bescheidenen Zugeständnis zufrieden. Polen bekommt nun eine Milliarde Euro früher als geplant, das Geld wird jedoch später wieder von den EU-Subventionen abgezogen, sodass sich das Gesamtbudget nicht erhöht.

Zerknirscht akzeptierte Ministerpräsident Leszek Miller das Ergebnis, das er nun zuhause mit viel Pathos präsentieren wird. »Wir haben jetzt endgültig die Fessel von Jalta abgestreift«, sagte er nach dem Gipfel, die Teilung Europas sei endgültig überwunden.

Die polnischen Vertreter hatten gute Gründe für ihre zaghafte Rebellion in Kopenhagen. Sie wollten die Bürger überzeugen, dass einfach »nicht mehr zu erreichen war«, um damit die »Chancen für einen Sieg beim Referendum« zu erhöhen, kommentierte die konservative Tageszeitung Rzeczpospolita das Ergebnis.

Im kommenden Frühjahr sollen die Polen dem Beitritt zustimmen, und es sieht derzeit nicht so aus, als ob eine Mehrheit zustande käme. Die Parole »Jetzt oder nie«, die der EU-Kommissar für die Erweiterung, Günter Verheugen, vor dem Gipfel ausgab, traf vor allem auf Polen zu.

Denn dort ist die Union alles andere als beliebt, eine Verzögerung des Beitritts hätte vermutlich die Stimmung endgültig verdorben. So unterrichtet der katholische Sender Radio Maryja seine fünf Millionen Zuhörer täglich von den Gefahren, die nach dem Ende des Realsozialismus nun vor allem aus dem »liberalen, zügellosen Westen« kommen. Pornografie, Abtreibung, hemmungsloser Konsum und Genuss kennen nach dem Beitritt keine Grenzen mehr.

Vor den Schrecken der Union warnt auch der extremistische Bauernführer Andrzej Lepper, der mit seiner Bauernpartei Samoobrona (Selbstverteidigung) zum Widerstand gegen die EU aufruft und darauf besteht, dass »in Polen die Polen regieren sollen«. Besonders in ländlichen Gegenden teilen viele solche Meinungen. Ein Viertel aller Beschäftigen ist in der Landwirtschaft tätig, während dieser Anteil in Frankreich nur drei Prozent beträgt.

Die meisten Bauern fürchten um ihre Existenz, wenn sie nach dem Beitritt ihre Märkte für alle EU-Landwirtschaftsprodukte öffnen müssen. Gleichzeitig sollen sie nur einen Teil der Subventionen erhalten, die im westlichen Europa gezahlt werden. Ähnliche Bedingungen gelten auch für andere Wirtschaftsbereiche, wie etwa für die Schwerindustrie, die Werften und den Bergbau. Auch dort wächst der Unmut über die Folgen der wirtschaftlichen Integration. Die Samoobrona und die klerikal-fundamentalistische Familienliga (LPR) erhielten bei den Kommunalwahlen Anfang November zusammen 15 Prozent der Stimmen, in manchen Industrieregionen wie Lodz sogar fast die Hälfte.

In den anderen Ländern, die ab 1. Mai 2004 der EU angehören werden, in den baltischen Republiken, Ungarn, Tschechien und der Slowakei, sind die Voraussetzungen ähnlich. Nur in Zypern, Slowenien und Malta, den mit Abstand reichsten Beitrittsländern, sieht es besser aus.

Während man im Osten fürchtet, dass ganze Wirtschaftszweige die Erweiterung nicht überleben werden, geht im Westen die Sorge um, vom Heer der Überflüssigen überrannt zu werden. Deshalb haben vor allem Deutschland und Österreich darauf gedrängt, Übergangsfristen bis sieben Jahre für die Freizügigkeit der Arbeitskräfte festzulegen.

Die rigide Maßnahme ist vermutlich überflüssig. Vier Millionen neue Arbeitssuchende aus dem Osten erwartet das renommierte Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) im Laufe der nächsten 30 Jahre. Wahrscheinlicher ist es, dass viele westeuropäische Unternehmen in den Osten ziehen werden. Die Löhne sind dort noch für lange Zeit wesentlich niedriger, die Facharbeiter gut ausgebildet, die Infrastruktur wird gerade mit Hilfe der EU modernisiert.

Gut möglich also, dass zumindest eine kleine Schicht in den neuen Beitrittsländern von der Integration profitieren wird. Wer jung und gut ausgebildet ist, hat gute Chancen. Der Rest muss sehen, wo er bleibt.

Große Hoffnungen auf die EU setzte auch eine andere Delegation, die aber sichtlich deprimiert am Wochenende wieder ihre Koffer packte. Er habe sich wesentlich mehr erwartet, sagte der türkische Ministerpräsident Abdullah Gül nach dem Gipfel. Man werde aber »auf dem Weg nach Europa nicht nachlassen«, fügte er trotzig hinzu. Voraussichtlich wird Gül noch viel Geduld aufbringen müssen, denn wie lang der Weg noch sein wird, ist auch nach dem Gipfel kaum absehbar.

Wenn die Türkei bis Ende 2004 die EU-Kriterien erfüllt, werde der Europäische Rat »unverzüglich die Beitrittsverhandlungen eröffnen«, heißt es zwar in der Abschlusserklärung des Treffens. Ein konkretes Datum, wie es die Türkei mit der Unterstützung vor allem der USA forderte, wurde jedoch nicht genannt. Falls Ankara bis zu diesem Termin keine »durchschlagenden Reformen« durchführt, wie es der französische Staatspräsident Jacques Chirac ausdrückte, könnte sich die Diskussion um einen möglichen Termin noch lange hinziehen.

Immerhin in einem Punkt kam es doch noch zu einer Einigung. Der jahrelange Streit mit der Türkei über die Nato und die Schnelle Eingreiftruppe der EU wurde beigelegt. Demnach dürfen nur diejenigen EU-Länder auf Nato-Strukturen zurückgreifen, die mit dem Militärbündnis so genannte Partnerschaften für den Frieden abgeschlossen haben. Die EU-Beitrittskandidaten Malta und Zypern wären damit ausgeschlossen, was die Türkei stets gefordert hatte. Es ist ein Zugeständnis, das deutlich macht, warum die EU doch nicht auf die Türkei verzichten will. Als strategischer und militärischer Verbündeter an den südöstlichen Grenzen ist das Land für die Union auf Dauer wohl unverzichtbar.