Massenproteste gegen US-Truppen

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Der Präsidentschaftswahlkampf in Südkorea wird überraschend von Massenprotesten gegen die US-Truppen übertönt. von christian karl, seoul

Während die Präsidentschaftskandidaten der führenden bürgerlichen südkoreanischen Parteien, Roh Mu-hyon von der Millennium Democratic Party (MDP) des noch amtierenden Präsidenten Kim Dae-jung und Lee Hoi-chang von der konservativen Grand National Party (GNP), sich noch die üblichen Wahlkampfgeplänkel lieferten, donnerten schon unablässig die Minitransporter der kleinen, linksgerichteten Demokratic Labour Party (DLP) durch Seoul, geschmückt mit riesigen Portraits ihres Kandidaten Gwon Yeong-gil. Aus den Lautsprechern brüllte jedem, ob er nun hören wollte oder nicht, der mittlerweile überaus populäre Rocksong »Fucking USA!« entgegen.

Die Erneuerung der Wirtschaft und der Politik, die Beziehungen zu Nordkorea und Kampagnen gegen die Korruption, das sollten die wichtigsten Themen für die am 19. Dezember stattfindende Präsidentschaftswahl sein. Stattdessen aber bestimmt den Wahlkampf eine Flut von Protesten gegen die US-Truppen im Lande.

Seit nahezu drei Wochen kommt es täglich zu Protesten, bei denen die Präsenz der USFK (United States Force Korea) und die von ihnen ausgehenden Gefahren verurteilt werden. Der Ausgangspunkt war ein tragischer Unfall am 13. Juni in der Nähe von Yangju, nördlich von Seoul, als zwei 14jährige Schülerinnen von einem gepanzerten, 45 Tonnen schweren US-Militärfahrzeug überfahren wurden.

Die blutigen Bilder der Szene machten schnell die Runde im Lande. Entscheidend für die Entrüstung war die sofortige Unschuldsbehauptung der USFK-Sprecher und deren Plan, die Tatverdächtigen auf dem schnellsten Weg in die Vereinigten Staaten zu verfrachten. Nach monatelangen Protesten im ganzen Land erklärten sich die zuständigen US-Stellen bereit, Prozesse in Südkorea durchzuführen und die koreanischen Medien zuzulassen.

Am 21. November sprach das Militärgericht der US-Basis in Dongducheon im ersten Prozess in der Sache den Sgt. Fernando Nino frei. Hunderte versuchten daraufhin, das Gelände von Camp Casey zu stürmen. Nur durch einen harten Einsatz von Polizeieinheiten konnte das verhindert werden. Auf Pressekonferenzen sprachen sich die Präsidentschaftskandidaten Rho und Lee gegen das »unfaire Verfahren und den brutalen Polizeieinsatz« aus.

Doch es waren die jetzt Regierenden und ihre Vorgänger, die mit dem »Status of Force Agreement« (Sofa), welches u.a. den rechtlichen Status der USFK regelt, Verfahren wie die jetzt kritisierten erst ermöglichten. Demzufolge darf Südkorea Straftaten von US-Soldaten nur dann verfolgen, wenn sie nicht im Dienst begangen wurden; und selbst dann können die US-Soldaten bis zur Erschöpfung aller Rechtsmittel in US-Gewahrsam verbleiben.

Zwei Tage später kam es zum Verfahrensende, der ebenfalls angeklagte Sgt. Mark Waller wurde auch freigesprochen. Die Präsidentschaftskandidaten aller Parteien beteuerten daraufhin, im Falle ihrer Wahl würden sie das »zutiefst ungerechte Sofa«, so Roh Moo-hyun, kündigen. Doch die Proteste wurden immer größer. Waren es bis vor kurzem noch hauptsächlich »extreme, von Nordkorea beeinflusste Organisationen«, die gegen die US-Truppen opponierten, spricht man seit den Urteilen vom »Beginn einer immer selbstbewusster auftretenden, sich von den politischen Parteien emanzipierenden Massenbewegung«, so die südkoreanische Tageszeitung JoongAng Ilbo.

Vor drei Wochen marschierten rund 4 000 Demonstranten im Anschluss an eine Kundgebung des Gewerkschaftsverbandes KCTU zur Botschaft der USA. Kurz bevor sie von den Einheiten der Polizei gestoppt werden konnten, wurden sie von hunderten Menschen, die Kerzen trugen, empfangen. Der Weg zur Botschaft blieb aber weiterhin versperrt. In der Woche darauf wurden an jedem Abend an gleicher Stelle »candlelight rallies«, wie sie von der hiesigen englischsprachigen Presse genannt werden, mal mit einigen hundert, mal mit über 1 000 Teilnehmern durchgeführt.

Am vorletzten Samstag, im Anschluss an eine Kundgebung im Zentrum von Seoul, kam es erneut zu einem spontanen Marsch zur Botschaft, an dem sich anfangs über 5 000 Menschen beteiligten. Nach einigen hundert Metern war die Straße von Polizisten blockiert. Während sich einige Demonstranten ein kurzes Scharmützel mit ihnen lieferten - um, wie es sich später heraustellte, den übrigen die erforderliche Bewegungsfreiheit zu verschaffen -, nutzte die Masse der Demonstranten die Situation, umrundete das Geschehen und nahm sich einige Meter weiter wieder die Straße. Die Menge wuchs auf etwa 10 000 Menschen an. An derselben Stelle, wo in der Woche zuvor noch kein Durchkommen war, wurde nun mittels Schiebens und Drückens eine Blockade nach der anderen überwunden.

Auf der Gwanhwamun-ro, Seouls größtem Boulevard, konnten dann auch die 10 000 eingesetzten Riot Cops die Masse von jetzt fast 20 000 Demonstranten nicht mehr aufhalten. Innerhalb kürzester Zeit war das Gelände vor der US-Botschaft eingenommen. In einer Atmosphäre, die den koreanischen World-Cup-Partys ähnelte, wurde eine große Kundgebung abgehalten, auf der man die Revision des Abkommens mit den USA und eine offizielle, an die koreanische Bevölkerung gerichtete Entschuldigung des US-Präsidenten George W. Bush verlangte; aber auch die Rufe nach einem generellen Abzug der US-Truppen wurden immer lauter. Als diese Forderungen am vergangenen Samstag erneut von mehr als 100 000 Menschen im Zentrum Seouls erhoben wurden, hatte die Polizei den Weg zur US-Botschaft kurzerhand mit Hunderten Bussen versperrt.

Gegen den in der südkoreanischen Presse erhobenen Vorwurf des Anti-amerikanismus wurde eingewandt, dass sich die Proteste gegen die Präsenz der US-Truppen, aber auch gegen die Kriegspolitik des Irak richteten. Der Präsidentschaftskandidat Gwon Yeong-gil, der eine Ansprache halten wollte, wurde mit der Begründung, man wolle sich nicht für den Wahlkampf missbrauchen lassen, am Reden gehindert. Kurz zuvor war Lee Hoi-chang mit Eierwürfen verjagt worden.

Mittlerweile haben sich die komplette südkoreanische Fußballmannschaft, Musiker wie die gefeierte Popsängerin Lee Jung-hyun, buddhistische Mönche, katholische Priester, Lehrer, Professoren und viele andere den Protesten angeschlossen. Seit einigen Tagen kursieren im Internet Aufrufe, Institutionen und Produkte, die »besonders den US-Imperialismus repräsentieren«, wie McDonald's und Coca-Cola, zu boykottieren.

Bei aller Euphorie sind sich viele Aktivisten darüber im Klaren, dass eine solche Bewegung Gefahren in sich birgt, etwa den Nationalismus. Dazu meint Kim Gi-boh, einer der Initiatoren der Internetkampagne, in die sich mittlerweile Hunderttausende eingeloggt haben: »Wir Koreaner sind Menschen wie alle anderen auch, also nichts Besonderes. Wir wollen einfach nur als solche behandelt werden und lehnen daher jegliches neokoloniale Verhalten ab.«