Nur nicht schwarz sehen
Morgens, Viertel nach sieben im Township Inanda am Stadtrand von Durban. Vorsichtig klopft es an die Zimmertür der Pension »Ekhaya«, was auf Zulu »Daheim« heißt. Im Flur steht eine junge schwarze Frau im blauen Sommerkleid. »You wanted a wake-up call?«, fragt sie mit schüchternem Lächeln. Und wo soll sie das Frühstück servieren? Vorsichtig schaue ich an mir herab. Die Boxershorts sind zerknittert, das Shirt ist durchgeschwitzt. Vieles erwartete ich, als ich mich auf einen Abstecher in einige der schwarzen Vorstädte Südafrikas vorbereitete. Das Gefühl, nicht gut genug angezogen zu sein, gehörte definitiv nicht dazu. Zügig schließe ich die Tür und krame den Koffer hervor.
Später am Küchentisch erzählt die Angestellte, dass sie Jackie heißt, 23 Jahre alt ist und Jura studiert. Bis sie im nächsten Jahr alle Prüfungen abgelegt haben und eine Stelle als Wirtschaftsjuristin suchen wird, verdient sie sich ein bisschen Geld als Aushilfe bei den Wirtsleuten. Nach dem Studium will sie auf jeden Fall in Inanda bleiben. Einige Kommilitoninnen haben sich zwar eine Wohnung in den Mittelklassesiedlungen von Durban gesucht. Doch die meisten von ihnen sind schon wieder zurück. Während sie erzählt, jagt im Vorgarten ein Welpe ebenso eifrig wie erfolglos einigen Hühnern hinterher.
Wer in Europa überhaupt etwas mit dem Wort »Township« anfangen kann, stellt sich in der Regel einen Vorhof der Hölle vor: endlose Ansammlungen von Hütten aus Wellblech oder Pappkartons, voll mit Gewalt und Drogen, Hunger und tödlichen Krankheiten. Weiße, die sich hierhin verirren, sind binnen 30 Minuten ausgeraubt, vergewaltigt und tot.
Wer die politische Geschichte Südafrikas in den deutschen Medien verfolgt hat, dem fallen vielleicht noch die Schüleraufstände in Soweto aus dem Jahr 1976 ein oder die endlosen, bürgerkriegsähnlichen Kämpfe der achtziger Jahre, die von der um ihre Macht fürchtenden weißen Regierung immer wieder angezettelt wurden.
Orte wie das Zentrum von Inanda beweisen, dass diese Vorstellung bestenfalls einem Teil der Realität entspricht. Neun Jahre nach dem offiziellen Ende der Apartheid sind auch in diesen Stadtteilen Veränderungen spürbar. Seit einiger Zeit organisieren einheimische Unternehmen sogar Führungen durch die meisten südafrikanischen Townships. Reisende, für die ein Trip durch Südafrika nicht nur aus dem Tafelberg und dem Krüger-Nationalpark besteht, können sich – unter Beachtung einiger Verhaltensregeln – gefahrlos ein realistisches Bild vom Leben in den von Schwarzen bewohnten Stadtteilen machen.
Draußen hupt es. Langa Dube fährt mit seinem Kleinbus vor. Der gut gelaunte 40jährige, der mich gestern hier abgesetzt hat, wohnt in der Nachbarschaft. Die kann sich in Inanda wirklich sehen lassen:
Mahatma Gandhi lebte hier bis zu seiner Übersiedlung nach Indien im Jahr 1914, und sein Haus ist heute als Museum zu besichtigen. Einer seiner Nachbarn war John Dube, der den nun regierenden ANC gründete. Die Namensgleichheit mit meinem Führer ist kein Zufall, Langa ist tatsächlich der Enkel und wohnt bis heute im Haus seines Großvaters. Nur einige hundert Meter entfernt befindet sich in einem von amerikanischen Missionaren erbauten Haus Südafrikas bedeutendste Mädchenschule.
Viele der Touristenführer sind ehemalige ANC-Aktivisten, die ihre Aufgabe nach dem Ende der Apartheid erfüllt sahen und in einen bürgerlichen Beruf wechselten. Langa macht da keine Ausnahme. Von 1985 bis 1991 war er im Exil. »Irgendwann war ich Ende 30 und ohne Einkommen«, sagt er. »Außerdem hatten wir den Kampf gewonnen, und Politiker wollte ich nicht werden. Jetzt zeige ich Leuten wie dir lieber meine Heimat, damit ihr ein bisschen Geld in meiner Nachbarschaft ausgebt und zuhause sagen könnt, wie es wirklich hier aussieht.« Was er während der Führung erzählt, ist dann auch kein auswendig gelernter Vortrag, sondern eine engagierte Einführung in die Geschichte des Townships.
Als 1910 die südafrikanische Union gegründet wurde und schon lange vor dem offiziellen Beginn der Apartheid nach dem Zweiten Weltkrieg begann die weiße Regierung, die Schwarzen durch immer rigidere Rassentrennungsgesetze aus den Innenstädten zu vertreiben. Spätestens seit den dreißiger Jahren hatten alle Großstädte des Landes prinzipiell den gleichen Aufbau. In den Innenstädten lebten die Weißen, Menschen anderer Hautfarbe durften nur als Arbeitskräfte hinein. Sofern sie über einen entsprechenden Ausweis verfügten.
Um die Innenstädte herum zogen sich die Siedlungen der Inder und anderer »Coloured People«. Sie hatten zwar keine demokratischen Rechte, verdienten aber genug, um sich kleine Häuser zu bauen, die mit Strom und Wasser versorgt wurden. Die Schwarzen wurden an die äußerste Peripherie gedrängt. Und trotz der mittelalterlichen Bedingungen und der fast völlig fehlenden Versorgung mit öffentlichen Gütern wuchsen die Ansiedlungen rasant; in ländlichen Gebieten ging es der schwarzen Bevölkerung noch schlechter.
Nachdem wir die großzügige, im Kolonialstil erbaute Anlage der Mädchenschule verlassen haben, setzt Dube ein gespielt besorgtes Gesicht auf. »Wir gehen jetzt ins Vergnügungsviertel. Leider habe ich die kugelsicheren Westen vergessen.«
Tatsächlich haben sich in Inanda mittlerweile einige traditionelle Restaurants und »Shebeens« genannte Kneipen angesiedelt, die sogar schon in regionalen Gastroführern erwähnt werden. Wer als Weißer hier zwischen Gemüseständen, Amulettverkäufern und in Blechcontainern angesiedelten Frisiersalons flaniert, braucht nicht nur keine kugelsichere Weste, sondern wird auch nur noch mäßig erstaunt betrachtet.
Zumindest an den großen Straßenkreuzungen, die allerdings selbst in einem bevorzugten Township wie Inanda fast immer aus Sandpisten bestehen. Wo häufig Kleinbusse voller Touristen halten, werden auch Stände mit Holzskulpturen und ähnlichem Kunsthandwerk aufgestellt. Für die schwarzen Südafrikaner ist Kunst mittlerweile zum Verdienstfaktor geworden. Und auch die Touristen profitieren. Die gleiche Skulptur, die hier für wenige Euro den Besitzer wechselt, kostet in deutschen Ethnoshops leicht das Zehnfache.
Erst bei der Fahrt zurück in Durbans Innenstadt wird deutlich, dass auch in einem Vorzeige-Township wie Inanda die Spuren der Apartheid noch lange nicht verwischt sind. An den Rändern des Bezirks spielen magere Kinder mit billigen Plastikbällen, und die Häuser links und rechts der staubigen Wege sehen eher aus wie Sandburgen mit Dächern. »Die sind aus getrocknetem Fluss-Schlamm gemauert«, sagt Langa und beeilt sich zu erklären, dass diese Bauwerke unter der neuen Regierung nicht mehr zulässig sind. Doch Südafrika ist arm, die Landeswährung Rand verfällt rasant, und so kann trotz allen guten Willens immer nur an wenigen Stellen Aufbauarbeit geleistet werden.
»Waaait!« Aus einer Bretterbude, die auf einer Art Sanddüne neben der Straße errichtet wurde, schreit uns ein Mann hinterher. Mittlerweile habe ich mich in Kapstadt mit dem Fotografen Peter von Felbert getroffen, und er hält irritiert auf den zerlumpten Mann, der auf uns zutorkelt. In der Hütte hinter ihm hocken einige dumpfe Gestalten um ein Plastikfass, in dem aus Getreidemaische und Wasser »African Beer« hergestellt wird.
Die Shabeens von Langa, dem zweitgrößten Township Kapstadts, stehen nicht in Gastroführern. »Come on!«, grölt der Mann weiter. »I’m black, you’re white – let’s shake hands!« Er streckt uns seine Rechte entgegen, auf deren Rücken eine große eiternde Wunde verläuft. Irgendwie bringen wir die Begrüßung hinter uns, und triumphierend lachend wankt er zu seinen Saufkumpanen zurück.
Häuser aus Schlammziegeln gibt es in Langa nicht. Dazu ist das Areal, obwohl es nur einige Kilometer vom Meer entfernt liegt, zu trocken. Schätzungsweise 800 000 Menschen leben in dieser 1927 gegründeten Siedlung. Genauer lässt es sich nicht sagen; die Anzahl der Einwohner wird von niemandem erhoben.
Für den derzeitigen Zustand der Townships ist Langa ein weit besseres Beispiel als die Vorzeigesiedlung Inanda. Das alte, bitterarme Chaos und ambitionierte neue Projekte stehen unmittelbar nebeneinander. Der Führer heißt hier Jimmy Jimta. Er ist klein, unsicher, und weil er erst seit einigen Jahren im Township lebt, wird man das Gefühl nicht los, dass ihn die anderen Bewohner mit gutmütigem Spott behandeln.
Doch davon lässt Jimta sich nicht abschrecken. Er könnte als gelernter Elektrotechniker woanders mehr verdienen, auch er führt Touristen, um sie mit der Realität zu konfrontieren. Und er beschönigt nichts. »Bitte geben Sie den Leuten nichts. Sie werden sie sonst nicht mehr los«, sagt er gleich zum Beginn der Führung.
Sicherlich zeigt er lieber die Kunsthandwerkmärkte, die vor allem in der Umgebung der Gemeindesäle und Kirchen in den letzten Jahren entstanden sind. Oder das Kulturzentrum, in dem sogar Schauspielunterricht geboten wird.
Aber mit einer Art ängstlicher Unbarmherzigkeit führt er eben auch durch die billigen Mietskasernen, die die alte Regierung für auswärtige Arbeiter bauen ließ, und in denen bis zehn Personen auf 30 Quadratmetern wohnen. Sieben Rand kostet hier die Monatsmiete, ungefähr 75 Cent. Dafür wird immerhin der Müll abtransportiert, und die Bewohner leben nicht in Bretterverschlägen oder unter abenteuerlichen Konstruktionen aus Holz, Blech und Plastik.
Gegenüber gibt es sogar einige wenige Eigentumswohnungen und sogar Einfamilienhäuser zu kaufen. Die billigsten kosten 46 000 Rand, weshalb diese Straße von den übrigen Bewohnern in einer Mischung aus Spott und Neid »Beverly Hills« genannt wird. Jimta warnt weiter: Wenn Kinder sich zum hartnäckigen Betteln an die Hände der Touristen hängen, erzählt er vom Tuberkulose-Problem, weil genau diese Kinder sich vielleicht infiziert haben, als sie Dinge vom Boden in den Mund genommen haben.
Allmählich werden wir von einer seltsamen Faszination erfasst. Obwohl fast alle Menschen auf der Straße arm sind, viele zerlumpt und nicht wenige krank, scheint fast niemand schlecht gelaunt zu sein. Wir entschließen uns, eine Nacht hier zu verbringen, und Jimta vermittelt uns an eine nahe Pension namens »Ma Neo’s«.
Die Fenster des einstöckigen Steinhauses sind vergittert. Obwohl die Kriminalitätsrate in den letzten Jahren dramatisch gesunken ist, liegt sie noch immer hoch genug, um Sicherheitsmaßnahmen nötig zu machen. Bei geschätzten 50 bis 80 Prozent Arbeitslosigkeit ohne jegliche Sozialhilfe ist ein Fernseher in einem schlecht gesicherten Gästezimmer immer Grund genug für einen Einbruch.
Im Laufe des Abends kommt die Tochter der Wirtin nach Hause, die Neo heißt und als Lehrerin im benachbarten Township Khayelitsha arbeitet. Da wir die ersten Weißen sind, die hier seit der Eröffnung der Pension übernachten, ist das Interesse beiderseitig. Irgendwann im Laufe des Gesprächs sagt sie: »Die Leute verzweifeln nicht, weil das nichts ändern würde. Wenn du mit ein paar Freunden zusammen sitzt, ist immer einer mit HIV dabei oder einer anderen Krankheit. Du kannst traurig sein, bis er stirbt, oder du kannst mit ihm fröhlich sein, bis er stirbt. Es ist besser, fröhlich zu sein.«
Später am Abend macht sie mit uns einen nächtlichen Spaziergang. Ein paar Kiffer springen in Deckung. Neo lacht: »Die hatten Angst. Du mit der Kamera, und du mit dem Schreibblock. Die haben euch für Zivilpolizisten gehalten!« Dann lädt sie uns ein, sie morgen in der Schule zu besuchen.
»Good Morning!« Die Erstklässler von Neo krakeelen uns fröhlich entgegen, während wir uns unsicher gegen die Tafel lehnen. Beim letzten Getränk gestern Abend hat Neo uns noch erzählt, dass mehrere ihrer Schüler bereits bei der Geburt HIV-positiv waren. Jetzt schauen wir von Gesicht zu Gesicht. Als ob sich irgend etwas an der Situation änderte, wenn wir die Infizierten entdecken könnten.
Genau wie die Innenstadt von Kapstadt liegt auch Khayelitsha im Schatten des Tafelbergs. Nur eben am falschen Hang. Khayelitsha ist vier Kilometer breit, drei Kilometer lang und hat ungefähr 1,2 Millionen Einwohner. Weit über die Hälfte lebt in so genannten »unformal settlements«, wie die Regierung Siedlungen ohne Strom, Wasser und Straßen beschönigend nennt. Auch hier sind die selbst gebauten Hütten vorwiegend aus Blech und Holz.
In der Schule, in der Neo arbeitet, haben die Klassen durchschnittlich 40 bis 50 Schüler, und wenn ein Lehrer krank wird, muss eben ein anderer zwei Räume beaufsichtigen. »Wir haben sogar eine Zusammenarbeit mit einer weißen Schule. Die schicken uns alte Möbel und Bücher, wir dürfen ab und zu einen Schüler schicken. Aber natürlich kommt nie jemand von denen. Das würden die Eltern auch gar nicht zulassen.«
Eine Kreuzung vom Schulgebäude entfernt brennt auf offener Straße ein Feuer. Die Assistenten eines Zauberdoktors sind dabei, Wurzeln und Blätter für Teemischungen zu trocknen. Der Doktor selbst sitzt in seiner Hütte neben einem von der Wand hängenden Affenskelett. Auch hier hält ein Touristenbus; mit wohligem Grusel lassen sich einige Australier neben dem stoisch blickenden Mann fotografieren.
Nahezu jede Führung durch die Townships hat einen dieser Zauberdoktoren im Programm. Dabei bringen diese Männer entsetzliches Leid über ihre Gemeinschaft. Weil sie kein Mittel haben gegen die rasende Verbreitung des HIV-Virus, aber dennoch nicht ihr Gesicht verlieren wollen, verschreiben sie als Kur gegen Aids Geschlechtsverkehr mit einer Jungfrau. Jeder Zweite bis Dritte hier ist mittlerweile HIV-positiv, und für diese »Kur« wird vor Vergewaltigung und Entführung nicht zurückgeschreckt. Auf keinen Fall sollten Reisende ihre kleinen Töchter mit in die Townships nehmen.
Nachdem wir uns von Neo verabschiedet haben, führt unser letzter Weg zu Khayelitshas bekanntestem Künstler. Auch dieser Mann, der sich »Golden« nennt, wohnt mit seiner Frau und den fünf Kindern nur in einer Holzhütte. Und doch exportiert er seine Ware mittlerweile bis nach Deutschland und in die USA.
Der Legende nach, die der geschäftstüchtige Mann sich selbst geschrieben hat, träumte er mehrere Nächte lang von einer Stimme, die ihn bat, auf der nächsten Müllkippe Blumen zu pflücken. Natürlich wuchs dort nichts, doch als der Traum immer wieder kam, verstand Golden schließlich. Seitdem sammelt er leere Getränkebüchsen, und mit einer Blechschere schneidet er sie zu Blumen zurecht.
Egal, ob diese Geschichte wahr ist oder nicht: Mit dem Geld, das ihr Mann verdient, hat Goldens Ehefrau mittlerweile eine Kinderkrippe eröffnen können.
Eine Stunde später sind wir wieder auf der Stadtautobahn. Heute Abend wartet ein Termin mit einem Juwelier auf mich, und mein Kollege Felbert ist zu einer Weinprobe eingeladen. Und, so müssen wir es uns eingestehen, nach drei Tagen in den Townships tut es gut, auf der weißen Seite des Tafelbergs anzukommen.