Den Wind im Gesicht

Das Tarifergebnis für den öffentlichen Dienst ist nicht gut und nicht schlecht. Verdi fehlte der Mut für höhere Ziele. von günter frech

Zum Feiern zu schlecht, zum Jammern zu gut, so etwa lässt sich das Tarifergebnis für den öffentlichen Dienst zusammenfassen. Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) wollte unbedingt eine Nullrunde und die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) stritt für »deutlich über drei Prozent« mehr Lohn und Gehalt für die Beschäftigten, wie ihr Vorsitzender Frank Bsirske beteuerte.

Wirklich durchgesetzt hat sich keiner von beiden. »Realitätssinn« wurde Verdi im vergangenen Herbst von verschiedenen Seiten bescheinigt, als die Tarifrunde mit der so genannten »ergebnisnahen« Forderung von drei Prozent plus x eröffnet wurde. Damit habe Verdi das Ritual durchbrochen, das Doppelte des möglichen Abschlusses zu fordern.

Zu diesem Tarifritual gehört, dass das Ergebnis je nach Bedarf als zu hoch oder zu niedrig bewertet wird. Schily und Bundeskanzler Gerhard Schröder reden von einem »gerechten und guten« Ergebnis. Der Mitverhandler für die Länder, Bayerns Finanzminister Kurt Falthauser (CSU), klagt, dass die Tariferhöhung der öffentlichen Hand in diesem Jahr eine Nettomehrbelastung von 1,76 Prozent und im nächsten von 0,88 Prozent einhandele.

An den »Rand der Belastbarkeit« bringe der Abschluss die Städte und Gemeinden, behauptet deren Verhandlungsführer, Ernst-Otto Stüber, der Oberbürgermeister von Bochum. Aus Verdi-Kreisen ist zu hören, man könne von einer »guten Drei« sprechen. Total daneben liegen diejenigen Beobachter, die von 4,4 Prozent mehr Lohn und Gehalt für die Bediensteten des öffentlichen Dienstes sprechen.

So sieht der Abschluss aus, der nach zwei Verhandlungsrunden im November und Dezember 2002 in Stuttgart und Kassel, einer viertägigen Schlichtung um die Jahreswende in Bremen und einer 30 Stunden dauernden Verhandlungsrunde Mitte der vergangenen Woche in Potsdam erzielt wurde: Es gibt in diesem Jahr 2,4 Prozent mehr Lohn und Gehalt, und zweimal je ein Prozent mehr für das Jahr 2004. Das sind zwar in der Summe 4,4 Prozent, doch die Laufzeit des Tarifvertrags beträgt 27 Monate. Hinzu kommt eine einmalige Zahlung für die Monate November und Dezember zwischen 50 und 185 Euro.

Darüber hinaus gibt es eine soziale Komponente. Die niedrigeren Lohn- und Gehaltsgruppen bekommen die Erhöhung um 2,4 Prozent ab 1. Januar 2003, und diejenigen, die etwas mehr verdienen, erst ab 1. April. Die Bediensteten in den neuen Bundesländern erreichen je nach Vergütungsgruppe das Lohnniveau im Westen zwischen den Jahren 2007 und 2009. Also kann man erst zum 1. Januar 2010, 20 Jahre nach dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, von Gerechtigkeit bei der Bezahlung im öffentlichen Dienst sprechen.

Bei einem solchen Zahlenrätsel sind die wahren Rechenkünstler gefragt. So dürften diejenigen Recht haben, die vorrechnen, dass die Besserverdienenden insgesamt 2,95 Prozent und die schlechter Gestellten 3,34 Prozent mehr bekommen. Anders ausgedrückt, 60 Euro wird eine Krankenschwester brutto mehr auf ihrem Abrechnungszettel finden, netto bleibt davon nicht viel übrig.

Als die Forderung für die gut drei Millionen Beschäftigten im Bund, in den Ländern und den Gemeinden aufgestellt wurde, war das Tarifjahr 2002 bereits gelaufen. Alle Abschlüsse, von der Chemie-, Metall- und Druckindustrie über die Dienstleistungssektoren Einzelhandel, Postdienste und Telekommunikation bis zum Baugewerbe, bewegten sich um drei bis 3,5 Prozent. So gesehen war die Forderung von Verdi für den öffentlichen Dienst fast originell. Warum nicht einmal so viel fordern, wie auch tatsächlich herauszuholen sein könnte?

Der alte Tarifvertrag, der im Frühjahr des Jahres 2000 abgeschlossen wurde, hatte eine Laufzeit von 31 Monaten. Der damalige ÖTV-Vorsitzende Herbert Mai wollte seinem Bundeskanzler wohl ein Geschenk machen und terminierte den Tarifvertrag so, dass vor der Wahl im September 2002 keine Tarifrunde mehr stattfand. Zudem brauchte er Zeit für den Fusionsprozess der fünf Verdi-Vorgänger, der ÖTV, der Postgewerkschaft, der Gewerkschaft für Handel, Banken und Versicherungen (HBV), der IG Medien und der Deutschen Angestelltengewerkschaft (DAG).

Verdi war vor allem mit sich selbst beschäftigt. Viele Angehörige des öffentlichen Diensts wussten wahrscheinlich gar nicht mehr, dass es eine Gewerkschaft gibt. Das gefiel den Kämpfern unter den Mitgliedern überhaupt nicht. Die politischen, wirtschaftspolitischen und gewerkschaftlichen Pazifisten dagegen wollten nur den sozialen Frieden. Schließlich zählt der Umstand, dass es in Deutschland nur zu wenigen Streiktagen kommt, zu den besten Standortfaktoren.

Vermutlich befürchteten die Strategen in der Hauptverwaltung am Potsdamer Platz in Berlin auch, dass ihnen der Wind bei höheren Forderungen noch mehr ins Gesicht geweht hätte. Schließlich wird nur zu gern den Gewerkschaften die Schuld an der Pleite des Bundes, der Länder und der Gemeinden gegeben. Streiks gehören sich in Anbetracht der Lage einfach nicht.

Nicht zum ersten Mal hat sich die Gewerkschaft für den öffentlichen Dienst von den Arbeitgebern in die Schlichtung treiben lassen. 1992 wurde ein Schlichterspruch von der gewerkschaftlichen Tarifkommission nicht akzeptiert, aber der anschließende zwölftägige Streik brachte keinen Prozent mehr Lohn und Gehalt. Dann setzte sich die damalige ÖTV-Vorsitzende Monika Wulff-Matthies über das Votum der Basis für einen neuen Streik hinweg und wurde vom Gewerkschaftstag abgewählt. Kurz darauf wurde sie EU-Kommissarin in Brüssel. So funktionieren deutsche Karrieren.

Indem Verdi schon das Schlichterergebnis von Bremen akzeptierte, war klar, dass man sich trotz der Ablehnung durch die Arbeitgeber bei den Verhandlungen einigen könnte. Wobei den Arbeitgebern das Schlichtungsergebnis überhaupt nicht gefiel. Schily beschimpfte sogar den eigenen Schlichter, Hinrich Lehmann-Grube, weil er mit dem von Verdi ernannten Schlichter Hans Koschnik stimmte.

Ein Schurkenstück allerdings leistete sich der Berliner Senat. Unmittelbar vor der Aufnahme der Verhandlungen in Potsdam erklärte er seinen Austritt aus dem Arbeitgeberverband der Länder. So ist die Hauptstadt jetzt tarifpolitisch viergeteilt: Einerseits in den Osten und den Westen, andererseits besteht ein Unterschied zwischen den Landesbeschäftigten und den übrigen Beschäftigten. Für Lehrer, Polizisten und Feuerwehrleute, die Angestellte des Landes sind, findet der Abschluss von Potsdam keine Anwendung. Dagegen bekommen Krankenhausangestellte der Vivantes-Gruppe, Bus- und U-Bahnfahrer der BVG und die Müllmänner der BSR die Tariferhöhung.

Dem Beispiel von Berlin könnten andere Arbeitgeber im öffentlichen Dienst folgen. Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz, das Saarland und mehrere ostdeutsche Länder erwägen ebenfalls den Austritt aus dem Arbeitgeberverband. Dem Berliner Senat käme somit das Verdienst zu, de facto die Aufhebung des Flächentarifvertrages im öffentlichen Dienst eingeleitet zu haben.

Es wäre zu schön gewesen, Verdi hätte eine kämpferische Tarifrunde zur Politisierung der eigenen Mitglieder und der Bevölkerung nutzen können. Dann hätte man in Zukunft Themen wie die Wiedereinführung der Vermögenssteuer angehen können. Doch am Ende ging den Gewerkschaftern die Puste aus, wohl weil man sich nicht zutraute, auf Dauer selbstbewusst der öffentlichen Meinung entgegenzutreten. Frank Bsirske hat viel riskiert, aber dann den Kopf doch wieder eingezogen.