Dienst ist Dienst

Der Berliner Senat hat den Flächentarifvertrag für den öffentlichen Dienst teilweise aufgekündigt. Doch die Verlierer, die direkt beim Land Berlin Beschäftigten, sind nicht sehr kampfeslustig. von günter frech

Vor Jahren sei er verärgert aus der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) ausgetreten. Da er aber fortan der »erste Angestellte« dieser Stadt sei und vielleicht irgendwann Rechtsschutz brauche, trete er nun der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) bei. Das erklärte der frisch gewählte Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, im Sommer 2001 vor Gewerkschaftern im Estrel-Hotel in Neukölln. Für diese Bemerkung und für sein Bekenntnis, er werde einen »Mentalitätswechsel« einleiten und Berlin werde künftig »neue Wege« gehen, erntete Wowereit frenetischen Beifall. Ein neuer Senat und eine neue Gewerkschaft – die Hauptstadt erlebte einen Hauch von Aufbruchstimmung.

Obwohl Wowereit bis heute in kaum einer Ansprache den »neuen Weg« oder die »andere Mentalität« zu erwähnen vergisst, kann von Aufbruchstimmung keine Rede mehr sein. Zum ersten Jahrestag des Amtsantritts des Senats aus SPD und PDS am 17. Januar im Berliner Abgeordnetenhaus sprach Wowereit auch vom »Mut zur Wahrheit«, den die Berliner Bevölkerung aushalten müsse. Denn zu den Ergebnissen des ersten Regierungsjahres gehören eine Arbeitszeitverlängerung für Beamte, Kürzungen im Schul- und Kindertagesstättenbereich und die Fusion der beiden öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten SFB und ORB zum »Rundfunk für Berlin und Brandenburg« (RBB) mit eingeschränkter Mitbestimmung für die Beschäftigten.

Dazu kommt als jüngster Coup der Austritt Berlins aus dem Arbeitgeberverband für den öffentlichen Dienst, der von der zuständigen Bundestarifkommission scharf verurteilt wurde. Unmittelbar vor dem Abschluss der bundesweiten Tarifverhandlungen kündigte der Senat seine Mitgliedschaft im Kommunalen Arbeitgeberverband (KAV) und in der Vereinigung der Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes (VAdÖD).

Deshalb gilt für den größeren Teil der Angestellten im öffentlichen Dienst, etwa 100 000 Personen, der in Potsdam beschlossene Vertrag nicht. Gültig ist er dagegen weiterhin für die Beschäftigten der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), der Stadtreinigungsbetriebe (BSR) und für Teile des Krankenhauspersonals. »Ja, das ist in der Tat ein neuer Weg, allerdings einer rot-roten Landesregierung unwürdig«, kommentierte Susanne Stumpenhusen, die Verdi-Vorsitzende für Berlin und Brandenburg, den Ausstieg aus dem Flächentarifvertrag.

Dass Berlin pleite ist, streitet niemand ab. Diese Tatsache ist nicht zuletzt der Geschichte der Stadt geschuldet. Bis zum Jahre 1989 war Ostberlin die Haupt- und Vorzeigestadt der DDR, wo es immer ein bisschen mehr gab als im Rest der Republik. Westberlin war die Frontstadt des Westens und wurde vom Bund hoch subventioniert. So konnte sich dort die politische Klasse der Stadt unter komfortablen Umständen etablieren.

Nach dem 3. Oktober 1990 war Schluss mit den Vergünstigungen. Subventionen wurden gestrichen, und die Regierenden mussten mit der neuen Situation fertig werden. 65 000 Menschen wurden seither aus dem öffentlichen Dienst entlassen, so genannte Strukturanpassungsmaßnahmen wurden eingeleitet. Aber neben dem Abbau der Beschäftigung im öffentlichen Dienst ging es auch mit dem industriellen Sektor abwärts. Denn viele Firmen hatten sich nur wegen der großzügigen Berlinförderung und der Steuerbefreiung hier niedergelassen.

Die Stadtregierungen der neunziger Jahre reagierten nicht angemessen auf die veränderten Bedingungen. Vermutlich wollte man es sich mit den Gewerkschaften nicht verscherzen. So können Gewerkschafter heute groteskerweise sagen, Wowereits Vorgänger Eberhard Diepgen (CDU) sei den Gewerkschaften gegenüber verlässlicher gewesen.

Dagegen brüstet sich Wowereit nun damit, einen »Sonderweg« zu gehen, der anderen Bundesländern als Beispiel dienen könnte. Das stimmt, auch Bayern und Baden-Württemberg planen bereits die Tarifflucht. Verdi kritisiert neben dem Bruch des Flächentarifvertrages, dass die ehrgeizigen Sparpläne einseitig zu Lasten der Beschäftigten gehen.

Zur Hilfe kommt Wowereit die Tatsache, dass das gewerkschaftliche Bewusstsein innerhalb der mitregierenden PDS wenig ausgeprägt ist. Stillschweigend unterstützt sie ihn. »Für Gewerkschaftsargumente sind die Menschen im Ostteil der Stadt wenig zugänglich«, erklärt die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der PDS-Fraktion, Bärbel Holzheuer. Die aktuellen Tarife im Osten sind bezeichnend, der Flächentarifvertrag im gewerblichen und industriellen Bereich ist bereits löchrig, die Mehrzahl der Unternehmen ist nicht an den Tarif gebunden, und es gibt Öffnungsklauseln für Firmen, die finanzielle Probleme nachweisen können. Und nun unternimmt der Berliner Senat alles, damit es in der Hauptstadt bald ähnlich aussieht.

Bereits im vergangenen Jahr verlangte Wowereit eine Öffnungsklausel für den öffentlichen Dienst. Während der sechsmonatigen Verhandlungen um einen »Solidarpakt« zwischen dem Senat und den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes mahnte er sie sowohl beim Bundesinnenminister Otto Schily als auch beim Verdi-Vorsitzenden Frank Bsirske an. Aber Verdi lehnte ab, hätte doch die Gewerkschaft andernfalls eine Aufweichung des Flächentarifvertrags gebilligt.

Die Solidarpaktverhandlungen wurden von gegenseitigen Beschuldigungen begleitet: »Diktat«, schrien die Gewerkschaften, »Betonköpfe«, schallte es zurück. Susanne Stumpenhusen kritisierte, dass der Senat auf den Vorschlag von Verdi nicht eingegangen sei, freiwillige Maßnahmen wie Arbeitszeitverkürzungen und Vorruhestandsregelungen zu ergreifen. Auch habe die Steuerpolitik der rot-grünen Regierung zur Pleite des Landes beigetragen. Sie forderte die Unterstützung des Bundes.

Jetzt kommen die Vorschläge des Senats wieder auf den Tisch. Er fordert, die Löhne bis einschließlich 2006 einzufrieren, auf Urlaubsgeld bis 2005 zu verzichten und den höheren Lohnklassen zusätzlich das Weihnachtsgeld zu kürzen. Geboten werden dafür sichere Arbeitsplätze bis 2006 und die Garantie, Auszubildende weiter zu beschäftigen. Die Gewerkschaften dagegen fordern die Übernahme des Bundestarifvertrages.

Nun ist abzusehen, dass der Konflikt zu Ungunsten der direkt beim Land Beschäftigten beigelegt wird. Denn der Tarifvertrag gilt gerade für diejenigen Beschäftigten weiterhin, auf deren Streikbereitschaft sich die Gewerkschaft verlassen kann: für die Müllmänner, die U-Bahn- und Busfahrer und das Krankenhauspersonal.

Die Tarifflucht trifft Feuerwehrleute, die Polizei, Kitabeschäftigte und die Landesbediensteten in der Innenverwaltung. Sieht man von den in Kindertagesstätten Beschäftigten ab, ist die Kampfentschlossenheit dieser Angestellten eher unterentwickelt. »Wir haben noch keine Streikpläne«, sagte dann auch etwas kleinlaut ein Verdi-Sprecher zu Beginn der Tarifverhandlungen am vergangenen Freitag. Am 7. Februar geht es weiter.