Bei Handyklingeln Mord

Auf der Berlinale spielen sich die wahren Dramen im Umgang mit den Mitmenschen ab. Viel angenehmer wäre es ohne sie. von elke wittich

Manchmal, wenn ein Film nicht so richtig in die Gänge kommt, fängt man im Kino an zu träumen. Dann handelt es sich aber meist nicht um die einschlägigen »Ich und der Leinwandstar«-Phantasien, sondern um echte Alpträume. Ausgelöst werden sie im Normalfall durch Darsteller, die man einfach nicht ansehen mag.

Im Eröffnungsfilm der Berlinale, der Musical-Adaption »Chicago«, trat dieser Ernstfall ein. Wer es vermeiden wollte, Renee Zellwegger anzuschauen – obwohl sie ihre Rolle als dummdreiste, hamsterbackige Blondine, die durch einen Mord zum Liebling der Boulevardzeitungen wird, geradezu kongenial ausfüllte –, musste sich zwangsläufig Gedanken über irgendetwas machen, das mit ihr möglichst wenig zu tun hat.

Zum Beispiel über die seltsame Frau gleich auf dem Platz nebenan. Trotz der Hitze im Kino hockte sie, in einen voluminösen Pelzmantel gehüllt, steif in ihrem Sitz, umklammerte ihre Handtasche und zeigte während des gesamten Films keinerlei Regung. Irgendwann ist es angesichts solcher Nachbarn unweigerlich so weit, der Verfolgungswahn setzt ein. Denn die Frau kann nur, so viel stand bereits nach Zellweggers zweitem Sologesangspart fest, komplett irrsinnig sein. Sie wird sich daher gleich in die Luft sprengen, vielleicht um gegen Pelztierschützer zu protestieren, vielleicht, weil sie damit ein Zeichen gegen die Erwärmung des Planeten setzen möchte, oder vielleicht auch nur, weil ihr eine bei »Chicago« beschäftigte Köchin den Mann weggenommen hat, wer weiß das schon.

Wenn in einem Film aber keine Zellwegger auftaucht und der Streifen einfach nur langweilig ist und sich beim besten Willen kein geeigneter Umsitzender zum Hervorrufen paranoider Vorstellungen findet, dann tut es zur Not auch jemand, der sich schlecht benimmt. Wie die Frau, die sich bereits vor Beginn des spanischen Streifens »El Traje«, der im Forum lief, sehr echauffierte. »Ausmachen, sofort ausmachen!«, schrie sie den Besitzer eines unschuldig vor sich hin klingelnden Handys an, denn Laut gebende Mobiles stehen auf der Pfui-Bäh-Liste von Kulturinteressierten und solchen, die sich dafür halten.

Die Frau zog also ihre Erregungsnummer durch, um später dann selbst ganz gewaltig zu stören. »Guck mal, der benutzt Parfüm!« kommentierte sie eine Szene, in der der Protagonist, ein schwarzer Einwanderer, dem gerade ein teurer Anzug geschenkt worden war, sich mit einer Duftprobe versorgte. Wäre der Film um die verzweifelte Suche nach einem besseren Leben auch nur ein kleines bisschen inspirierter gewesen, hätte man vielleicht auf derlei Bemerkungen nicht reagiert.

Nun aber, wo abgelatschte Witze und urbane Mythen ohne Ende ausgebreitet wurden, bot sich wieder die Gelegenheit, die eigene Phantasie schweifen zu lassen. Ein »Pscht!« funktionierte bei der Ziege nicht, so viel war schnell klar. Was dann? Verschiedene Interventions-möglichkeiten mussten in Gedanken durchgespielt werden. »Möchtest Du meine Popel sehen?« Oder: »Noch ein einziges Wort, und ich werde dich mit deinen eigenen Gedärmen erwürgen«? Doch es wäre ohnehin zwecklos gewesen, Kulturkühe kennen keine Horrorfilm-zitate.

Anderer Film, andere Vorstellung: »The Life of David Gale«. Ein Gegner der Todesstrafe wird zum Tode verurteilt, wegen eines Verbrechens, das er nicht begangen hat. Nach langem Hin und Her und viel preaching to the converted – im Saal sind eigentlich alle gegen die Todesstrafe und daher sehr gut drauf, weil sie auf der richtigen Seite stehen – setzt der unvermeidliche Hollywood-Schmus ein. Der seit seiner Scheidung des Lebens überdrüssige Gale hatte von Anfang an alles so geplant, um mit seiner Exekution gegen die Todesstrafe zu protestieren. So viel Glitsch muss vielleicht sein, um Rednecks zu überzeugen, aber wer schon beim Anblick eines Hinrichtungsraums kotzen muss, hatte wieder viel Zeit zum Abschweifen.

Und so kam die Frage auf: Was wäre also, wenn 99 Prozent aller, die sich derzeit in Berlin aufhalten, plötzlich an einen anderen Ort gebeamt werden würden und man die Stadt für sich allein hätte? Weil auch die Filmvorführer bleiben dürften, gäbe es auf alle Fälle viel weniger Stress auf der Berlinale. Niemand müsste mehr früh aufstehen und sich abhetzen, um noch rechtzeitig einen Platz im Kinosaal zu erwischen, und weil diejenigen mit den schlechten Manieren längst unterwegs wären in Richtung »Solaris«-Vorstellung, wären alle Verbliebenen unglaublich entspannt.

Ein älteres Ehepaar, das sich gegenseitig mit »Mutti« und »Vati« anredete und gern mal einen Blick auf richtige Hollywood-Größen werfen wollte, war vom aufgebotenen Glamour, der einem auf der Berlinale versprochen wird, so mitgerissen, dass es wagemutig wurde. »Was meinst Du, Mutti, gehen wir noch ein Glas Sekt trinken?«, fragte Vati, woraufhin seine Frau ihn so breit anlächelte, wie es selbst Julia Roberts nur an ihren besseren Tagen gelingen dürfte. »Ja!«, kicherte sie und erwähnte, dass sie ja auch noch ein paar Euro extra ins Portemonnaie gesteckt habe und davon gern auch noch einen kleinen Imbiss spendieren würde.

Aber auch diejenigen, die einfach nur Karten für die Abendveranstaltung haben, sind auf der Berlinale meist sehr aufgeregt. Vor der Premiere von »Hero«, dem chinesischen Wettbewerbsbeitrag, erklärte ein junger Mann aus Hongkong seinen Freunden: »Wenn gleich wirklich Maggie Cheung hier über den roten Teppich geht, dann durchbreche ich alle Absperrungen und werfe mich ihr zu Füßen!« Damit die Security auch gleich wusste, womit sie rechnen musste, wiederholte er den Satz sicherheitshalber noch einmal auf Deutsch.

In »Hero«, der vor 2 000 Jahren spielt, als China noch in sechs selbständige Fürstentümer aufgeteilt war, geht es vor allem um Unschönes: um Selbstaufopferung zu höheren Zwecken, um die Unterordnung des Einzelnen und darum, dass Ideale und Ideen Vorrang vor Menschenleben haben. Der Film bietet dazu die altbekannten, extrem stilisierten Kampfrituale mit vielen sehr flugstarken Schwertkämpfern. Das Ganze wird wunderschön von leinwandfüllenden Landschaftspanoramen umrahmt.

Der Einzelne ist nichts, die Idee ist alles – das sind Vorstellungen, die normalerweise auch Security-Mitarbeitern in Fleisch und Blut übergegangen sind. Die Sicherheitskräfte der Berlinale präsentieren sich jedoch seit jeher äußerst entspannt. Die Ankündigung des Cheung-Fans ließ sie völlig kalt, stattdessen plauderten die Männer mit den versammelten Mädchen.

Es ist schließlich seit dem Start von »Deutschland sucht den Superstar« selbst für Menschen, die Pferden kein großes Interesse entgegenbringen, sehr einfach, mit einem durchschnittlichen weiblichen Teenie ein Gespräch anzufangen. Denn nun gibt es Daniel, Juliette, Vanessa und Alex. Ausdauernd wurden die Chancen der einzelnen Aspiranten diskutiert.

Welchen Superstar die Berlinale gerade sucht, ist den am Potsdamer Platz promiguckenden Pubertierenden im Normalfall ziemlich egal. Klar, Leonardo di Caprio, wegen dem sich ihre Vorgängerinnen vor ein paar Jahren noch die Stimmbänder wund kreischten, ist ganz unbedingt süß, aber eben auch nicht da, und irgendwie scheinen sie alle doch eher darauf zu hoffen, dass Daniel, Juliette und Co. gleich über den roten Teppich laufen.

George Clooney? Viel zu alt, meinte Clarissa. Und sie hat Recht, denn in »Solaris« ist der Schwarm der weiblichen Ü-30 ausgiebig nackt zu sehen. Kein schöner Anblick, der Po des Mannes ist absolut behaart. Und der dazugehörige Film? »Warum müssen Science-Fiction-Filme nur immer in blau gehalten sein?«, stöhnte ein Journalist angesichts der nicht mal mit optischen Schmankerln überzeugenden lahmen Geschichte über das Menschsein, in der kein Klischee ausgelassen wird. »Weil die Farbe Grün schon besetzt ist, grün ist der Irakkrieg«, antwortete ein anderer. »Oder der Krieg gegen Jugoslawien«, fährt er fort.

Andere Gelangweilte begannen schon mit der Überprüfung ihrer Nachbarn. Der rechts ist entschuldigt, der popelt, wahrscheinlich sitzt eine Handyhasserin hinter ihm. Aber was ist mit dem links? Warum bewegt er so rhythmisch seine Zehen? Um Signale zu geben, ganz klar. Wahrscheinlich an den Planeten Solaris, damit er längst Verstorbene wieder auferstehen lässt.