Gebiss zeigen!

In Frankreich protestieren die Gewerkschaften gegen die angekündigte Rentenreform.

Raffarin schleicht um den heißen Brei«, lautete eine Schlagzeile der linksliberalen Tageszeitung Libération in der vergangenen Woche, während die Boulevardzeitung Le Parisien schlicht kommentierte: »Geschickt«. Die Schlagzeilen galten der Rede zur Rentenreform, die der konservativ-liberale Premierminister Jean-Pierre Raffarin am Montag der vergangenen Woche vor dem »Conseil économique et social«, einem Beratergremium der Regierung, hielt. Außerdem wandte sich der Regierungschef am selben Abend im Fernsehen an die Nation. Die beiden Auftritte sollten der Startschuss für die seit dem Regierungswechsel im Frühsommer des letzten Jahres angekündigte »große Reform« bei den Renten sein.

Seit dem Anfang des Jahrzehnts schüren Regierungsexperten, Medien und die Unternehmer Zukunftsängste. Die öffentlichen Rentensysteme, die auf dem berühmten »Generationenvertrag« aufbauen, würden komplett zusammenbrechen, die Altersversorgung sei nicht mehr gesichert, lauteten die Befürchtungen.

Bei einem gesetzlichen Rentenalter von 60 Jahren werden ab 2005 einige geburtenstarke Jahrgänge in Rente gehen. Damit wird das Rentensystem zeitweilig einen erhöhten Finanzierungsbedarf aufweisen. Er könnte aber auf sehr unterschiedliche Weise gedeckt werden. Beispielsweise durch eine Verringerung der Zahl der Arbeitslosen, die derzeit bei knapp drei Millionen liegt, und der prekären Beschäftigungsverhältnisse, was die Anzahl der Beitragszahler erhöhen würde.

Eine andere Möglichkeit wäre die »Legalisierung« des Aufenthaltsstatus mehrerer Zehntausend in die »Illegalität« gedrängter Immigranten, die gezwungen sind, schlecht bezahlt und sozial nicht abgesichert für französische Unternehmer zu schuften. Eine »Normalisierung« ihrer Arbeitsverhältnisse würde ebenfalls das Beitragsaufkommen erhöhen.

Diese vorübergehende Zunahme der Zahl von Pensionsberechtigten wird in den Folgejahren freilich durch die Pensionierung geburtenschwacher Jahrgänge wieder ausgeglichen. Doch jene, die die Individualisierung eines Teils des »Altersrisikos« wollen, benutzen die Situation, um düstere Prognosen abzugeben.

Daran hat auch Premierminister Raffarin in seiner Rede vor dem CES angeknüpft. »Der Aufprall im Jahr 2006 ist programmiert, aber solange das Schiff den Eisberg noch nicht gerammt hat, geht die Kreuzfahrt weiter«, erklärte er.

Dass sich Opfer nicht vermeiden lassen, deutet er schon mit seinem positiven Bezug auf die »Balladur-Reform« vom Sommer 1993 an. Damals führte der neokonservative Premierminister Edouard Balladur die erste größere »Reform« im Rentenbereich für die abhängig Beschäftigten im privaten Wirtschaftssektor durch.

Das Vorhaben, auch für die öffentlich Bediensteten schlechtere Bedingungen einzuführen, scheiterte unter der Rechtsregierung von Alain Juppé im Herbst 1995. Auf dem Höhepunkt der damaligen Streikwelle gingen zwei Millionen Demonstranten auf die Straße. Die Angestellten in der Privatwirtschaft, aber auch die Erwerbslosen solidarisierten sich mit den Beschäftigten im öffentlichen Sektor.

Die Regierung Raffarin, die eine solche Situation vermeiden möchte, geht deswegen weitaus vorsichtiger und behutsamer vor.

So versucht sie, stärker als ihre Vorgänger, auch die Gewerkschaften einzubinden. Seit dem 4. Februar hat deren »Konsultierung« durch die Regierung begonnen. Dabei ist abzusehen, dass es der Regierung gelingen dürfte, eine Art von Front aus »reformwilligen« Gewerkschaften rund um die sozialliberale und »modernistische« CFDT, aber auch unter Einbezug der christlichen CFTC und der »unpolitisch-unabhängigen« UNSA zu errichten.

Die Gewerkschaften demonstrierten bisher Stärke. Anfang Februar gingen zum ersten Mal seit langem die sieben größten Gewerkschaftsorganisationen gemeinsam auf die Straße. Im ganzen Land nahmen 350 000 Menschen an den Demonstrationen teil. Diese Aktion sei aber noch »keine Massenmobilisierung, nur eine Warnung« gewesen, kommentierte damals die Wirtschaftszeitung La Tribune.

Doch die gewerkschaftliche Einheit dürfte bald beendet sein, zumal der gemeinsame Aufruf zur Demonstration sehr moderat gehalten wurde, um sie nicht vorab in Frage zu stellen.

Vor allem die CFDT zeigt sich bereits deutlich von den Angeboten der Regierung beeindruckt. »Herr Raffarin ruft zu einem wirklichen ›Test für den sozialen Dialog‹ auf. Wir stehen bereit«, erklärte der Generalsekretär François Chérèque in der vergangenen Woche.

Radikale Positionen nehmen derzeit besonders die linke Basisgewerkschaft SUD, die Lehrergewerkschaft FSU und der populistische Gewerkschaftsbund Force Ouvrière ein. Hingegen sind die Dachverbände der CFDT, der UNSA sowie der Gewerkschaft der höheren Angestellten (CGC) offen für eine Verlängerung der Beitragsdauer im öffentlichen Dienst und in den öffentlichen Betrieben. Sie fordern lediglich bestimmte Gegenleistungen, etwa die Einbeziehung bestimmter Lohnzuschläge in die Bemessungsgrundlage der Rente.

Irgendwo in der Mitte steht die CGT. Einerseits sucht sie, um fast jeden Preis, an der »gewerkschaftlichen Einheit« mit der ungefähr gleich starken CFDT festzuhalten. Andererseits stellen einige ihrer Mitglieder und Branchenorganisationen radikalere inhaltliche Forderungen auf.

Die Regierung möchte grundsätzlich die Beitragsdauer der öffentlich Bediensteten auf 40 Jahre erhöhen, für die Lohnabhängigen in der Privatwirtschaft war jüngst auch schon mal von einer Erhöhung auf 41 Jahre die Rede. In der Realität sieht die Situation allerding anders aus. Statt mit 60 Jahren, wie in der Theorie, hören die Lohanbhängigen im privaten Sektor wegen Vorruhestandsregelungen und Entlassungen mit durchschnittlich 57,5 Jahren mit der Arbeit auf.

Daher steht nicht unbedingt die reale Dauer des Erwerbslebens auf dem Spiel, sondern eher die Höhe der sozialen Ansprüche, die ein Beschäftigter am Ende erheben kann. In vielen Fällen liegen die Bezüge nur knapp über der Arbeitslosen- oder gar der Sozialhilfe. Es sei denn, die Beschäftigten sichern sich nebenher privat gegen das »Altersrisiko« ab.

Denn auch darum geht es, um die Einführung privater Rentenfonds. Bislang schließt die Regierung zwar die Schaffung börsennotierter Aktienfonds für die Pensionen, wie etwa in den USA, noch aus. Gedacht wird aber daran, Ähnliches in anderer Form einzuführen. Die Regierung Juppé hatte im März 1997 bereits ein Gesetz zur Einführung privater Rentenfonds verabschiedet, das aber nach dem Regierungswechsel wieder in der Schublade verschwand.