Guerra urbana

Marta Suplicy, die Bürgermeisterin São Paulos, überlässt die Slumbewohner dem Terror der Banditenmilizen. von klaus hart, são paulo

Maryam Alekozai, 20, größtenteils in Aachen aufgewachsen, wollte ihr soziales Jahr eigentlich in ihrem Herkunftsland, in Afghanistan, ableisten. Dann kam der Krieg dazwischen, und sie entschied sich für ein Slumprojekt in São Paulo, das von der Thüringerin Ute Crämer gegründet wurde.

Alekozai betreut voller Idealismus Slumkinder und gerät dabei immer wieder in Lebensgefahr: »Es herrscht hier eine Art Bürgerkrieg«, sagt sie der Jungle World, »gar nicht mal so anders wie damals in Afghanistan, als ich klein war. Tagsüber und nachts fallen Schüsse, immer wieder wird jemand umgebracht, Kinder verlieren ihre Väter. Das ist hier eines der gewalttätigsten Gebiete ganz São Paulos.«

Seit über zwei Jahren regiert die Präfektin Marta Suplicy, die ebenso wie der neue Präsident Lula der Arbeiterpartei PT angehört, die Metropole. Sie hätte die Machtmittel, um die kriminellen Strukturen in den Slums, den Favelas, zu brechen; zumindest könnte sie Druck auf den für die öffentliche Sicherheit des gesamten Teilstaates São Paulo zuständigen Gouverneur ausüben.

Doch es ändert sich nichts, die krassen Menschenrechtsverletzungen sind nicht einmal ein wichtiges Thema der Parteiführung, während der Amtszeit der PT-Gouverneurin Benedita da Silva in Rio de Janeiro war es nicht anders. In ihrem Amtsbereich wurden selbst den verschönerten offiziellen Statistiken zufolge monatlich über 600 Menschen im »Stadtkrieg« umgebracht.

Banditenmilizen sind auch in São Paulo weiterhin die unumschränkten Herrscher, sie terrorisieren die Bewohner, verhängen Ausgangssperren. Manche minderjährigen Kindersoldaten, bekannt und gefürchtet, töteten bereits 40 Menschen. Angst dominiert, jedermann spricht nur von »Guerra«. Monatlich kommen an der Slumperipherie São Paulos über 800 Menschen gewaltsam ums Leben. Auch unter der Präfektin Suplicy werden Kinder und Jugendliche von den Drogenkartellen oder ihren Milizen rekrutiert; nur zu oft sterben sie bei Gefechten mit rivalisierenden Banden oder bei Schießereien mit der Polizei.

Wer nicht oder nicht mehr mitmachen will, wird erschossen. Josè Grigorio de Jesus, 66, Präsident einer Bewohnerinitiative des Slums Capao Redondo, schildert, wie es seinem Sohn erging: »Er wollte endlich aussteigen und hatte schon eine feste Arbeitsstelle; doch am ersten Arbeitstag haben sie ihn erschossen. Jeder muss sich an das ›Lei do Silencio‹, das Gesetz des Schweigens, halten; zu niemandem ein Wort über Vorgänge im Slum. Wer als Informant der Polizei gilt, stirbt.«

Der dicht bevölkerte Slum Copacabana, unweit von Alekozais Arbeitsplatz, wirkt häufig sogar mitten am Tage wie eine Geisterstadt; Katen und Barracken sind verriegelt, kein Mensch befindet sich auf der Straße, nicht einmal spielende Kinder, im Gassenlabyrinth sind sämtliche Kramläden geschlossen, es herrscht eine eigenartige Stille. »Toque de recolher«, Ausgangssperre, lautet die Erklärung, verhängt wird sie von den Milizen des organisierten Verbrechens.

Einige Jungen aber lassen Drachen steigen. Wie passt das zusammen? Sie tun’s im Auftrag der hiesigen Warlords. Mit den Drachen werden Signale gegeben, falls Gefahr im Verzuge ist, sich bewaffnete gegnerische Milizen nähern. Auch in Copacabana stellt man sich mit den »Soldados« gut, heuchelt Unterwürfigkeit und Sympathie, bietet ihnen Getränke oder Essen an. Wer will schon zerstückelt, gar lebendig verbrannt enden?

Jahrzehntelang hielt sich bei Wohlmeinenden in Brasilien und in Europa die These, man müsste die Slums nur mit einem Netz von Sozialprojekten überziehen, um die entsetzlich hohe Mordrate drastisch zu senken und die Herrschaft der brasilianischen Warlords zu schwächen. Kinder und Jugendliche würden sich dann nicht länger von den Milizen anwerben lassen, den Drogen entsagen, einer glücklicheren Zukunft entgegengehen.

Auch europäische Hilfsorganisationen starteten deshalb solche Projekte, investierten hohe Spendensummen. Indessen wurden selbst nach Angaben der Unesco weder die Gewaltrate noch der Banditenterror gegen die Bewohner gebremst. Nur allzu viele Sozialprojekte werden von den Banditenmilizen kontrolliert, was Spender in Europa nicht erfahren sollen.

Auch Lula und seine Minister sprechen beschönigend von einem Sicherheitsproblem, um das sich die Polizei zu kümmern habe. Doch die erwarteten Maßnahmen bleiben aus. Menschenrechtsexperten und selbst der Schweizer Uno-Sonderberichterstatter Jean Ziegler weisen auf unumstößliche Tatsachen hin:«Für die Vereinten Nationen sind 15 000 Gewalttote jährlich in einem Land ein Hinweis auf Krieg, doch in Brasilien werden sogar gemäß offiziellen Statistiken rund 40 000 umgebracht.«

Die Tageszeitung Folha de São Paulo machte im Januar 2003 folgende Rechnung auf: »In den letzten 20 Jahren wurden 1,9 Millionen Brasilianer getötet – 1,5 Millionen davon waren junge Menschen. Hätte Brasilien in diesen Jahren an einem Krieg teilgenommen, wären garantiert nicht so viele Opfer zu beklagen gewesen.«

Bereits 1992 betonte Carlos Minc, ein Abgeordneter der PT: »In Rio de Janeiro sind Straftäter und Autoritäten Komplizen – das organisierte Verbrechen, das Drogenkartell herrscht in den Slums, pflegt enge Beziehungen zur Geschäftswelt, zur Stadtregierung, zur Polizei und Justiz, die daher Straffreiheit walten lassen, die Gesetze nicht anwenden, die Menschenrechte der Bewohner Rios missachten.« Mincs Analyse wurde unlängst von einer parlamentarischen Untersuchungskommission für andere Großstädte Brasiliens bestätigt.

Immerhin werden allein in Rio de Janeiro Polizeiangaben zufolge vom Comando Vermelho (Rotes Kommando) und dem Terceiro Comando (Drittes Kommando), den beiden wichtigsten Gangsterkartellen Brasiliens, monatlich sechs Tonnen Kokain verkauft, in Lateinamerikas Wirtschaftsmetropole São Paulo etwa ebenso viel. Gleich nach den USA ist Brasilien zweitgrößter Kokainverbraucher. Die rivalisierenden Milizen sind zudem auf illegalen Waffenhandel, Serienentführungen, Frachtraub und Banküberfälle spezialisiert.

Würde, wie viele erwarteten, der Präsident sofort nach seinem Amtsantritt die Armee einsetzen, um den Stadtkrieg zu stoppen? Immerhin schlug das der neue Staatssekretär für öffentliche Sicherheit, Josias Quintal, gleich im Januar vor. Doch die Regierung lehnte ab. Auch Sozialexperten ist es deshalb ein Rätsel, wie Lula sein groß angekündigtes Antihungerprogramm und andere Maßnahmen zur Elendsbekämpfung verwirklichen will. Schließlich lassen die Verbrechersyndikate bislang staatliche Präsenz in den riesigen Slums kaum zu, häufig verbieten sie sogar kirchlichen Sozialwerken und NGO den Zutritt.