Krieg ist eine biopolitische Maschine

Toni Negri über die Grundlage der Politik im Empire und die Fluchtlinien der Multitudes | Interview Thomas Atzert

Der Krieg gegen den Irak ist weder die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln noch ultima ratio, wie die Herrschenden behaupten. Er ist aber auch nicht die Wiederkehr imperialistischer Kriegsführung oder allein Mittel zur Neuordnung der Machtverhältnisse in der Golfregion, wie es in Oppositionskreisen heißt. Der Krieg ist Teil einer neuen imperialen Kriegsordnung, so lautet vielmehr die These von Toni Negri. Der fortgesetzte Krieg im Empire verlangt eine neue Form von sozialer Kriegsopposition, die weder von den dominanten Kräften der globalisierungskritischen Bewegung noch allein von Friedensdemonstrationen zu erwarten ist.

Sie haben den Aufmarsch gegen den Irak, die Kriegsvorbereitungen vor allem der USA am persischen Golf vor kurzem einen »imperialistischen backlash« genannt. Ist so etwas in der Weltordnung des Empire denkbar?

Wahrscheinlich ist das Problem nicht so sehr ein »imperialistischer backlash«. Wir sehen hier vielmehr einen Widerspruch, der sich im Innern der imperialen Prozesse zeigt. Wenn wir von Empire sprechen, müssen wir im Sinn behalten, dass die Entwicklung in keiner Weise definitiv ist. Das Empire ist eine Antwort auf eine Reihe von historischen Prozessen, die von tiefsten Widersprüchen geprägt sind. Zu diesen Prozessen gehören die sozialen Kämpfe, die sich auf hohem Niveau entwickelt haben, wie die Kämpfe der Arbeiterklassen in den Ländern des kapitalistischen Zentrums. Dazu gehört die Unmöglichkeit, den Weltmarkt rational zu regulieren. Dazu gehören die Kämpfe gegen die Regimes in den kolonialen Ländern und deren Ende, wie auch die Unmöglichkeit, die nachfolgenden Regimes politisch und ökonomisch aufrechtzuerhalten. Dazu gehört in der Welt des realen Sozialismus das Scheitern aller Entwicklungswege und die Einschränkung der Freiheit … Diese Prozesse trieben etwas Neues hervor; es ging darum, für die Souveränität eine Struktur zu finden. Es ging um eine völlige Restrukturierung der Machtverhältnisse.

In Ihrer Analyse des Empire spielen, im Gegensatz zu Erklärungen, die von imperialistischen Konkurrenzverhältnissen ausgehen, Nationalstaaten nur eine untergeordnete Rolle. Welche Funktion besitzen nationale Interessen, welche Macht kommt nationalen Gesellschaftsformationen heute noch zu?

Um es deutlich zu sagen: Wir leben im Empire. Die Weltordnung ist eine politische Ordnung, die souveräne Ordnung des Empire. Im Empire, wie Michael Hardt und ich es beschrieben haben, findet sich das Zusammenwirken und die Synthese von verschiedenen Regierungsformen. Zu unterscheiden sind die imperiale Monarchie, eine Aristokratie oder vielmehr zahlreiche imperiale Aristokratien, schließlich gibt es demokratische Formen im Innern des imperialen Zusammenhangs.

Die monarchische Macht repräsentieren in erster Linie die USA, deren großes militärisches Potenzial ihnen allein die Möglichkeit und die Stärke gibt, mit ihren Streitkräften überall auf der Welt zu intervenieren. Die aristokratische Macht verkörpern die großen multinationalen Konzerne und, ihnen untergeordnet, was man im Allgemeinen als Nationalstaaten ansieht. Zwischen der monarchischen und der aristokratischen Macht gibt es eine Reihe von Instrumenten, die dazu dienen, ihre Aktionen abzustimmen und zusammenzuführen, etwa den Internationalen Währungsfonds oder die Welthandelsorganisation.

Das Verhältnis von Aristokratie und Monarchie ist für die imperiale Konstitution von höchster Bedeutung. Es ist beinahe unmöglich, dass beispielsweise die USA als Vertreter der monarchischen Macht eine Politik verfolgen können, die nicht in irgendeiner Weise mit den imperialen Aristokratien vermittelt ist. Eine Restrukturierung der Machtverhältnisse bedarf also zum Mindesten eines Zusammentreffens der monarchischen und der aristokratischen Macht. Eines Zusammentreffens, das historisch immer bedeutete, dass sich in der Konfrontation komplizierte Verhältnisse und schwierige Vermittlungen entwickeln, die wiederum in der Geschichte immer auf das dritte Moment verweisen, nämlich die demokratischen Kämpfe. Die Öffnung einer Konstellation, die Konfrontation, der historische Bruch vollzieht sich nur im Verhältnis zu den Kämpfen.

Wenn das Empire ein Prozess ist, wie Sie sagen, ein Übergang, in dem es um eine Restrukturierung der Machtverhältnisse geht, was determiniert dann die gegenwärtige Situation? Ist hier nach dem 11. September 2001 ein Wandel feststellbar?

Es steht außer Zweifel, dass die monarchische Macht nach dem 11. September 2001 versucht hat, auf den Angriff gegen sie eine Antwort zu finden, die monokratisch war. Genauso steht außer Zweifel, dass der »Kampf gegen den Terrorismus«, das Theorem vom Präventivkrieg, die Rede vom »lang andauernden Krieg«, um den imperialen Frieden zu schaffen, dass all das Momente sind, denen zwar von der Regierung Bush eine Form gegeben wird, die aber Momente einer Konfrontation im Innern ein und derselben kapitalistischen Welt sind. Was nach dem 11. September passierte, lässt sich als das sichtbare Hervortreten zugespitzter Widersprüche im Innern des imperialen Konstitutionsprozesses interpretieren.

Doch gilt es, die verschiedenen Dimensionen zu betonen: Zunächst gibt es einen Widerspruch, der zu den Voraussetzungen des 11. September gehört, den Widerspruch zwischen der US-Regierung, insbesondere dem Handeln der republikanischen Gruppe, die eng mit den Interessen der Erdöl- und Schwerindustrie verbunden ist und für die ein George W. Bush steht, auf der einen Seite und einem Teil der imperialen Aristokratien aus dem arabischen Raum auf der anderen Seite. Bin Laden ist ein Repräsentant dieser letzteren, die in der Entwicklung zum Empire, in der Endphase des Kalten Kriegs mit den USA zusammenarbeiteten: gegen die Sowjetunion und für die Kontrolle der Energiepolitik im globalen Maßstab. Der aktuelle Bruch trennt die monarchische militärische Macht und das Handeln der Aristokratien. Es ist gleichwohl kein Bürgerkrieg, denn um von einem solchen im Innern des Empire reden zu können, bedürfte es eines starken demokratischen Moments. Der Krieg ist viel eher mit denen im Frankreich des 16. Jahrhunderts vergleichbar, verheerende Kriege des Adels gegen die Monarchie. Es ging darum, innerhalb sich formierender imperialer Kräfteverhältnisse Positionen zu erobern. Soweit der Widerspruch vor dem 11. September.

Nach dem 11. September beginnt eine neue Art von Herausforderung der monarchischen Maschine. Eine ganze Reihe von Interessen kommt weltweit ins Spiel, die sich nicht mit den von Bush und seiner Gruppe repräsentierten decken. Letztere interpretieren die nationalen Interessen der USA als die Kontrolle über die globalen Energie-Ressourcen im Allgemeinen und das Erdöl im Besonderen und identifizieren sie mit den Interessen einiger Fraktionen der »alten« Industrien. Die Gruppe Bushs versuchte durch die Reanimation solcher Projekte wie der Raketenabwehr im Weltraum aus den Zeiten Ronald Reagans ein Bündnis auch mit Teilen des hochtechnologischen militärisch-industriell-informatischen Komplexes herzustellen, allerdings wesentlich weniger intelligent als der Kalifornier Reagan.

Besteht die Regression, die Reanimation strategischer Konzepte der Reagan-Administration nicht genau in der Hinwendung zu den »alten« Industrien, in der Hinwendung auch zu den bekannten strategischen Interessen?

Der imperiale Prozess entspringt einem Ringen zwischen Monarchie und Aristokratie, zwischen monarchischer Macht und imperialen Aristokratien, an dessen Ausgangspunkt der Bruch zwischen einem wesentlichen Teil des US-Kapitals und den arabischen Ländern stand.

Daneben entstehen immer neue Widersprüche. Bush bezeichnete mit »Achse des Bösen« in negativer Weise drei Knotenpunkte dieser Entwicklung. Der erste Punkt ist der Irak: Es geht dort auch und vor allem um die Energieversorgung Europas, das heißt, der Irak steht aus Bushs Sicht für das Problem Europa, für die Verhältnisse rund ums Mittelmeer, den israelisch-palästinensischen Konflikt, die allgemeinen Fragen der Energieressourcen. Der zweite Punkt Bushs war der Iran, und dieser Punkt verweist auf die Einflusszonen der ehemaligen Sowjetunion, also genauer auf die Entwicklung und die Ressourcen in Vorderasien. Und dann, als dritter Punkt, Nordkorea, was direkt China betrifft und den gesamten asiatisch-pazifischen Raum einschließt.

Doch es ist undenkbar, dass die USA Krieg gegen den Irak führen, ohne dass sie von den imperialen Aristokratien unterstützt werden. Man muss sehen, ob Chirac und Schröder, als nationale Repräsentanten wichtiger Fraktionen dieser Aristokratien, geneigt sein werden, die Rechnung dieses Kriegs zu bezahlen. Angesichts der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation glaube ich das nicht. Weder sie noch die Japaner werden zahlen, und noch weniger die »gemäßigten« arabischen Regimes. Kurz: Die USA stehen vor großen Schwierigkeiten, realen Schwierigkeiten, die ein schneller Krieg, ein Blitzkrieg im Irak, kaum zu überwinden in der Lage sein wird.

Konstituiert der Krieg also das Empire? Handelt es sich um einen permanenten Krieg? Welche Bedeutung wird er in Zukunft haben?

Der imperiale Krieg ist ein »ordnender Krieg«: Er ist destruktiv und errichtet gleichzeitig eine Ordnung. Das eine geht aus dem anderen hervor, ein wenig wie bei einer Matrjoschka. Wir sehen in diesem Krieg ein Moment der imperialen Souveränität. Es geht um den Übergang von Disziplin zu Kontrolle, von der Disziplinierung individueller Verhaltensweisen zur Kontrolle der »Massen«. Die Souveränität präsentiert sich als ein Set von Regierungstechniken, die sich nicht länger nur auf die Individuen richten, sondern auf den gesamten Zusammenhang, in denen das Leben sich reproduziert. Diese Biomacht interveniert immer mehr in die Verhältnisse des Lebens, indem sie versucht, sie zu konstruieren, zu artikulieren und zu dominieren, und zwar von Beginn an, in ihrer gesamten Entwicklung, in allen Formen.

Krieg fügt sich in dieses Muster ein. Er ist eine biopolitische Maschine, die sich über die Zerstörung der feindlichen Armeen hinaus bewegt; sie entwickelt sich im Versuch, das Leben der Massen, der Bevölkerungen, der Multitudes, mit denen sie in Berührung kommt, vollständig zu organisieren.

Der Krieg definiert Grenzen, das heißt, und wir konnten das am Krieg im ehemaligen Jugoslawien sehen, dass der Krieg die politische Geografie einer Region völlig neu konstruiert. Krieg interveniert, um Regierungen einzusetzen, er interveniert, um Gerichte einzusetzen und die Besiegten abzuurteilen, um Nichtregierungsorganisationen einzusetzen. Das Leben der Bevölkerungen wird durch Krieg in neue Formen und in eine neue globale Hierarchie der Kontrolle eingefügt, der Kontrolle über die Produktion, über die Mobilität, über Ressourcen und so weiter.

Krieg als »biopolitische Maschine«: Bedeutet das eine Militarisierung der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit, die Militarisierung der Politik?

Die Kriege seit dem Ende des Kalten Kriegs zeigen die Perfektionierung der biopolitischen Dimension des Kriegs. So betrachtet war der Irakkrieg von 1991 eine Art Matrix der Gesamtheit der Techniken, die in der neuen Art des Kriegs Verwendung finden und die ihn definieren.

Diese Techniken verwischen die Differenz zwischen Polizeimaßnahmen und Krieg. Das Empire ist global, es kennt kein Außen. Die Armeen müssen in der Lage sein, die Ordnung im Innern durchzusetzen oder neu zu errichten. Die Polizei- und die militärischen Funktionen bilden eine Art Kontinuum und es ist schwer zu unterscheiden, wo eine Polizeiaktion hoher Intensität endet und eine militärische Aktion niedriger Intensität beginnt. Was wir beispielsweise in Genua erlebt haben, während der Demonstrationen gegen das Treffen der G 8, zeigte wie unscharf die Unterscheidungen zwischen diesen Aktionen sind.

Doch ist diese Ununterscheidbarkeit nicht die einzige Veränderung. Das militärische Vorgehen ist heute eine Verallgemeinerung der Contraguerilla, die alltägliche Aufstandsbekämpfung mit sehr ausdifferenzierten Strukturen. Die Regierung Karzai in Afghanistan ist dafür ein Beispiel, sie besitzt keine Legitimität, sie muss sie sich vielmehr im fortgesetzten Krieg erobern.

Der Krieg wird so zum Ursprung der Legitimität. Während der Krieg in der Moderne ein Instrument blieb, dessen Anwendung nur legitim war, um die Ordnung wieder herzustellen, wird der Krieg nun ein Instrument, um die Legitimität zu fundieren. Das ist eine gravierende Veränderung. Clausewitz dachte – zu seiner Zeit zu Recht –, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik unter anderen Vorzeichen; heute hingegen ist der Krieg Grundlage der Politik. Der »ordnende Krieg« verteidigt nicht das Recht, sondern er setzt das Recht, begründet die Legitimität. Foucault hat das in den siebziger Jahren bereits verstanden, aber wir sehen nun diese Entwicklung in ihrer Praxis.

Was bedeutet es heute, gegen den Krieg zu mobilisieren? In der kommunistischen Tradition gibt es ein Gegenstück zum Pazifismus: die soziale Revolution oder der revolutionäre Bürgerkrieg. Welche Perspektive lässt sich nun bestimmen?

Die Bewegungen gegen den Krieg können nicht eine einfache Wiederholung von Pazifismus im Kalten Krieg sein, sondern müssen direkt in die biopolitischen Prozesse der imperialen Konstitution eingreifen und ihr zugleich im positiven Sinne etwas entgegensetzen. Es ist klar, dass beispielsweise der Krieg gegen den islamistischen Terrorismus, der Krieg gegen die »gemäßigteren« Diktaturen, wie die von Saddam Hussein – alle Welt weiß, dass Saddams Regime viel mehr mit einem »gemäßigten« wie dem von Mubarak gemein hat als mit dem islamistischen Extremismus –, dass dieser Krieg etwas ist, das uns zwingt, Position zu beziehen.

Krieg und Polizeimaßnahmen sind direkt gegen jeden Versuch der Multitudes gerichtet, sich zu organisieren. Wenn ich davon sprach, dass der Krieg ein »ordnender Krieg« ist, dann bedeutet es genau das: Das Problem ist, wie es gelingen kann, die allgemeine Reproduktion des gesamten Systems zu erschüttern. Es reicht nicht aus, es zu destabilisieren, es bedarf der Fähigkeit, es in seinen Strukturen zu zerstören. Das ist die Frage des Widerstands und des Exodus, der Verweigerung und des Gegenentwurfs. Es geht darum, wie es den Bewegungen und Bevölkerungen gelingen kann, den Nationalstaat zu durchkreuzen und sich die Metropolen anzueignen.

Die Multitude wird tatsächlich nicht dadurch zum Subjekt, dass man Organisationsformen vorschlägt, die mehr oder weniger demokratisch-zentralistisch sind, Netzwerke, die sich zentripetal auf eine Organisation konzentrieren. Das wichtigste Problem ist der Inhalt, und nicht die Form. Es muss gelingen, die Armut selbst als Subjekt zu verstehen, als ein Vermögen, als die Fähigkeit, die Welt neu zu erfinden. Nur wenn es gelingt, im Konzept der Armut die Potenzialität zu entfalten, wird es möglich sein zu begreifen, was Organisation heißen könnte. Wir müssen uns der Ausgangssituation des Kommunismus zuwenden. Seine Ausgangssituation ist die Fähigkeit der Armen zur Kooperation, zur Assoziation, zur Produktion, ob sie Arbeiter genannt werden oder Intellektuelle oder Migranten oder Prekäre. Das ist der Inhalt, diesen revolutionären Inhalt müssen wir wieder entdecken, das ist unser Bürgerkrieg.

Eine der Mobilisierungen gegen den Krieg, der Aktionstag am 15. Februar, wurde im vergangenen November auf dem Europäischen Sozialforum in Florenz verabredet. Kann von Foren wie in Florenz oder wie dem Weltsozialforum in Porto Alegre eine positive Dynamik ausgehen?

Ich habe meine Zweifel über die Zukunft dieser Entwicklung. Es besteht Gefahr, in eine Situation zu geraten, die zur Lähmung der Bewegungen führt. Das Forum von Porto Alegre entstand im Wesentlichen aus der Verbindung zweier Orientierungen: Die eine fällt mehr oder weniger mit der Vorstellung des Netzwerks attac zusammen, die internationalen Finanztransaktionen zu besteuern, die andere geht auf die Erfahrungen mit neuen Formen kommunaler Selbstorganisation und Partizipation zurück, vor allem in Brasilien. Porto Alegre vereinigt so Vorstellungen von »Basisdemokratie«, von Kommunalität, mit der Idee der »Kontrolle von oben« über die Finanztransaktionen, also eines möglichen Zugriffs auf große internationale Organisationen. Allerdings, wenn man darüber nachdenkt, wer eine solche Besteuerung, die so genannte Tobin-Steuer, durchsetzen soll, kommt man zwangsläufig auf den Internationalen Währungsfonds.

Betrachtet man das Weltsozialforum von Porto Alegre, dann bleibt zudem recht unklar, woraus dieses Treffen seine Legitimation bezieht. Es entstand durch den Kontakt zwischen attac, oder genauer: dem lateinamerikanischen Flügel von attac, der Zeitschrift Le Monde Diplomatique und einigen NGO. Im Verlauf des Entstehungsprozesses des Forums kamen zwei weitere wichtige Komponenten hinzu, nämlich linke Parteien sowie die so genannte Antiglobalisierungsbewegung im eigentlichen Sinne, vor allem aus Südamerika und Europa. Damit stellt sich die Frage der Repräsentanz, denn letztlich haben wir es hier mit einer vierpoligen Struktur zu tun. In dieser Struktur scheinen mir nun Parteien allzu viel Bedeutung bekommen zu haben. Daraus resultiert, so lässt sich feststellen, eine gewisse Orientierungslosigkeit.

In einem kürzlich publizierten Artikel haben Sie die »Generalisierung des Streiks« als Möglichkeit untersucht, dieser Orientierungslosigkeit der sozialen Bewegungen entgegenzuwirken.

Man kann das nicht losgelöst von der Praxis diskutieren. Metropolenstreik bedeutet, in der Stadt jegliche Aktivität zu unterbrechen. Der generalisierte Streik der Menge ist metropolitan; während sich der Generalstreik der Arbeiter auf den Zusammenhang der Fabrik bezog. Sobald die Produktion einen unmittelbar gesellschaftlichen Charakter annimmt und der Ort der Produktion kein spezifischer mehr ist, sondern sich verallgemeinert, bedeutet Streik die Aussetzung der produktiven Tätigkeit im metropolitanen Leben insgesamt.

Ich denke bei Metropolenstreik an die Streiks in Paris im Winter 1995/96. Dort wurde der Verkehr und insbesondere das Funktionieren des öffentlichen Nahverkehrs nicht einfach blockiert, sondern es entwickelte sich etwas anderes, es entstanden alternative Bewegungsformen. Es entwickelten sich, auch über Kommunikationsmittel wie das Telefon, Formen gesellschaftlicher Kooperation, die den Alltag gemeinsam organisierten, die Betreuung der Kinder zum Beispiel, da die Schulen bestreikt wurden.

Das Problem ist nicht so sehr, zum Metropolenstreik »aufzurufen«, als ihn vielmehr gemeinsam zu entwickeln: Die angemessene Parole für die Menge wäre daher nicht »Streik«, sondern »Exodus«. Der Streik enthält das Moment des Einschnitts, und dieser Einschnitt eröffnet die Möglichkeit der Entwicklung des gesellschaftlichen Kommunen, einer anderen Gesellschaftlichkeit.

Gekürzter Vorabdruck aus: Antonio Negri, Rückkehr. Alphabet eines bewegten Lebens. Erscheint im Mai 2003 beim Campus Verlag, Frankfurt a.M./New York.