Zwang zum Understatement

Elektronische Musik in Buenos Aires | Thomas Venker

Vor einigen Jahren bildete sich in Argentinien eine kleine, aber feine Elektronikmusikszene, die sich in Opposition zum südamerikanischen Machorock-Mainstream versteht. In der anhaltenden Staatskrise haben sich die Elektronikkünstler in ihren Produktionsmitteln und im Sound einschränken müssen. Der für sie so wichtige Austausch mit dem Ausland ist praktisch eingeschlafen.

Nach dem Ende der Militärdiktatur (1983) wirkte es lange Zeit so, als könnte Argentinien den Anschluss an die erste Welt wieder schaffen. Heute aber ist der Staat bankrott, das ganze Land befindet sich in einer tiefen wirtschaftlichen und sozialen Krise. Trotzdem hält sich ein funktionierender elektronischer Musikuntergrund und es gibt Musiker, die sich von schwierigen materiellen Umständen nicht entmutigen lassen. Auf der 1999 auf dem Kölner Label Traum veröffentlichten Compilation »Elektronische Musik aus Buenos Aires« stellten die beiden Labelmacher Riley Reinhold und Jacqueline Klein neun argentinische Produzenten vor.

Geheimgesellschaft. In einem im englischen Musikmagazin the Wire veröffentlichten Artikel beschrieb Reinhold die Produktionsverhältnisse in Buenos Aires. »Die Szene besteht aus einer kleinen Gruppe. Keiner von ihnen ist älter als 22. Ihr Aktionsradius beschränkt sich auf wenige Clubs. Ihr Tun steht in einem Zustand permanenten Understatements. Und dies aus gutem Grund, denn möglichst unscheinbar zu bleiben, ist auch eine Art Selbstschutz gegen die von Rockmusik geprägte südamerikanische Machokultur. Aus Mangel an Alternativen müssen sich auch die Elektronikmusiker in dieser Welt bewegen, obwohl sie sie grundsätzlich ablehnen. Ihre wenigen Fans sind Künstlertypen und Bohemiens. Wenn sie sich treffen, geschieht dies in einer intimen Atmosphäre, oftmals im Schutzraum des Privaten. Es ist ein Art Geheimgesellschaft, in der jeder jeden kennt.«

Die Szene um »elektronische Musik in Buenos Aires« besitzt kaum die Kraft, um soziale Veränderungen anzuschieben. Eher ist es so, dass sich in ihr ein Bild der lokalen Gegebenheiten in Buenos Aires spiegelt, und dieses Bild durch die Plattenveröffentlichungen im Ausland für eine korrigierte Wahrnehmung Argentiniens sorgt. Das Bild wird vervollständigt durch Interviews, die die Künstler einigen wenigen interessierten internationalen Medien geben und mit Kontakten zu ausländischen Musikern sowie einer, wenn auch bescheidenen, internationalen (Live-) Präsenz.

Wenn bereits in der Metropole Buenos Aires die Szene marginal ist, so existiert sie auf dem Lande schlichtweg gar nicht, und wird dort auch nicht wahrgenommen, weder als Musik, und schon gar nicht als kulturpolitisches Statement. Aufmerksamkeit wird ihr vor allem im Ausland zuteil.

Die argentinische Spielart von elektronischer Musik ist deutlich geprägt von europäischen Einflüssen. In einem Interview, das der Autor kurz nach Veröffentlichung von »Elektronische Musik aus Buenos Aires« mit Riley Reinhold geführt hat, beschreibt dieser die Musik. »Was ich an ihr mag, ist der Umgang mit Ruhe, ihr spröder Charme und die Adaption moderner und neu aufgegriffener Stilmittel, wie zum Beispiel Dub. Wir fanden in Buenos Aires eine Form von elektronischer Sparsamkeit vor, die man auch aus Köln kennt. In Ländern wie Argentinien reagieren Menschen aber um ein Vielfaches stärker auf diese Musik, weil sie von Kulturimporten verschont geblieben sind.«

Nach Veröffentlichung von »Elektronische Musik aus Buenos Aires« gab das Label auch Remixe einzelner Stücke in Auftrag. Remixe riechen heute mehr nach schnell verdientem Geld als nach künstlerischem Statement. In disem Fall wurde der Kulturexport um einen Aspekt von Kulturaustausch bereichert. Und zwar, weil die Kölner Remixer (u.a. Thomas Brinkmann und Reinhard Voigt) um die besondere Bedeutung ihrer eigenen Arbeiten für die argentinischen Künstler wussten. »Die Argentinier kennen sich mit der Geschichte der elektronischen Musik teilweise besser aus als ich«, erklärt Reinhold. »Der Kölner Sound kommt dort erstaunlich gut an. Und wenn die Kölner die Einflüsse nun wieder zurückführen, ist das nicht nur ein Remix, sondern ein Dialog.«

Das Goethe-Institut veranstaltete in den neunziger Jahren Workshops und Festivals. Diese werden u.a. vom südamerikanischen Elektronikpionier Daniel Melero betreut. Einer der auf »Elektronische Musik aus Buenos Aires« vertretenen Künstler, Gustavo Lamas, der für Traum mit »Celeste« auch als erster ein eigenes Album einspielte, arbeitete am Goethe-Institut zusammen mit Pablo Schanton. Der wiederum koordiniert seit 1991 das Musikfestival »Estetoscopio«, in dessen Rahmen auch etliche Produzenten aus Deutschland nach Argentinien eingeladen wurden, zum Beispiel Mike Ink. Jacqueline Klein und Riley Reinhold haben auch schon in Argentinien gastiert.

Kaum Zugang zur Technik. Gustavo Lamas ist mit seinen internationalen Veröffentlichungen einer der wenigen argentinischen Elektronik-Künstler, die sich im Ausland einen Namen machen konnten. Zu schaffen macht ihnen vor allem der mangelnde Zugang zur Technik. War es vor zwei Jahren schon schwierig, Vinyl in Argentinien zu erträglichen Preisen zu bekommen, so ist es heute ein Ding der Unmöglichkeit. Kaum einer kann sich mehr im Ausland produzierte Musik leisten, von 12-Inch-Vinyl-Maxis gar nicht zu sprechen. So entsteht ein Dilemma. Lokale Künstler veröffentlichen im Ausland auf einem Format, das bei ihnen zu Hause unerschwinglich ist. In Argentinien findet momentan jegliche Musikverbreitung von Underground fast ausschließlich über CDs statt. Musikimport funktioniert über das Internet – eine Entwicklung, die bekannt vorkommen dürfte. Mit dem Unterschied, dass in Argentinien aus nackter Not vom Worldwideweb heruntergeladen wird. Eine fatale Entwicklung, findet Gustavo Lamas. »Die wirtschaftliche Situation macht es unmöglich, neue Musik zu erleben. Das Internet mit seinen MP3-Archiven ist die einzige Informationsquelle für uns.« Die Menschen lassen sich ihre Parties aber nicht von den Umständen verbieten. Lamas spricht davon, dass die Krise die Musiker zusammenschweißte. »Wir sind nun abgetrennt von Entwicklungen in der restlichen Welt, können uns keine Instrumente mehr leisten, können nicht einmal davon träumen, von unserer Musik zu leben. Also unterstützen wir uns gegenseitig.« Das bedeutet für die lokalen Labels wie Fragil Disco (Leo Garcia, Leandro Fresco, Gustavo Lamas), Sonoridades Amapola (Estupendo, Carola Bony) oder Fenix (Trineo, Plan V) CDs in Kleinstauflagen zu veröffentlichen, und für die Künstler, dass sie in kleinen Clubs wie Morocco, Proa oder Comodor auftreten. Der Kontakt zu ausländischen Künstlern ist jedoch weitgehend abgerissen. Nur solche Mainstreammusiker touren noch durch Argentinien, die auch große Stadien füllen. »Die Red Hot Chili Peppers haben hier praktisch umsonst gespielt, um den Leuten ein Zeichen zu geben«, erzählt Gustavo Lamas »Auch wenn das Ticket statt früher 60 Dollar inzwischen nur noch 20 Dollar kostet, ist es für uns immer noch unerschwinglich. Das können sich nur Wohlhabende leisten, und davon gibt es nicht mehr viele.«

Für den elektronischen Underground ist die Situation noch schwieriger geworden, weil er stärker auf den Austausch angewiesen ist als der Mainstream. Das Goethe-Institut zum Beispiel holt nur noch vereinzelt Künstler nach Argentinien, andere Musiker kommen auf Eigeninitiative, wie zuletzt die Kölner Closer Music.

Gustavo Lamas ist zwar Musiker, verfolgt die politische Lage aber sehr interessiert. Die angespannte Situation in Argentinien hatte Auswirkungen auf die Art, wie er Musik macht. Sein Sound weist jetzt mehr traditionelle und lokale Bezüge auf als früher. Die Titel sind nun ausschließlich in Spanisch. »Klar hängt ein politischer Kontext an meiner Musik. Das mag wie ein Widerspruch klingen, da elektronische Musik meist mit Hedonismus in Zusammenhang gebracht wird. Für uns in Argentinien ist elektronische Musik an sich schon systemkritisch, ein kultureller Gegenentwurf zum Mainstream, in dessen Markt wir nicht integriert sind.«

Die Unruhen vom Dezember 2001, bei denen Argentinien innerhalb weniger Tage fünf Regierungen erlebte und es auf den Straßen Tote gab, waren auch für Lamas ein einschneidendes Erlebnis: »Man konnte nicht anders, als sich auf die politische Entwicklung zu konzentrieren. Ich war damals hauptsächlich in den Straßen meines Viertels unterwegs. Die Stimmung war angespannt, aber auch euphorisch. Und dies brachte mich letztlich wieder zurück zur Musik: Ich habe den Sound auf den Straßen aufgenommen, die Samples, die ich davon verwende, haben eine sehr wichtige klangliche Konnotation für mich.«

Es mag schon paradox erscheinen, wenn Gustavo Lamas unter anderem auf einem deutschen Label namens Traum veröffentlicht, wo er doch im Bezug auf sein Heimatland illusionslos ist. »Der Traum, Bestandteil des Neoliberalismus der Ersten Welt zu sein, ist passé. Die Kluft zwischen Argentinien und der ersten Welt ist größer denn je.«

Thomas Venker arbeitet als Redakteur beim Musikmagazin Intro in Köln. Er macht die Labels Scheinselbstständig und Onitor. Auf Onitor ist zuletzt eine Maxisingle von Gustavo Lamas erschienen.