Heilsame Tat

Claude Lanzmanns »Sobibor«

Yehuda Lerner ist ein Überlebender, der sich sein Überleben mit der Axt erkämpft hat. Seine Geschichte erzählt er 1979 Claude Lanzmann, im Rahmen von dessen »Shoa«-Projekt. Lanzmann hält das Material für ein eigenständiges Filmvorhaben zwanzig Jahre zurück. Jetzt ist es so weit: Lerner erzählt seinen Weg von Warschau bis in das ukrainische Vernichtungslager Sobibor und von seiner Teilnahme an dem Aufstand, der den Betrieb in der Todesfabrik zum Erliegen gebracht hat.

20 Jahre nach dem Gespräch fährt Lanzmann die Orte noch einmal ab. Caroline Champetier macht Landschaftsaufnahmen, die selbst dann menschenleer erscheinen, wenn sie von Menschen bevölkert sind.

Lanzmann beherrscht den klaren Versuchsaufbau: In kurzen Ausschnitten ist Lerners Gesicht bildfüllend zu sehen, im Wechsel mit komtemplativen Bildern von osteuropäischen Herbstlandschaften. Darüber läuft eine dreistimmige Unterhaltung – neben Lerners Bericht auf Hebräisch sind Lanzmanns präzise Fragen auf Französisch zu hören, die von der Dolmetscherin Francine Kaufmann übersetzt werden. Jede Station von Lerners Erzählung bekommt ihr eigenes Tableau. Immer ist im Heute zu sehen, wovon gerade im Zusammenhang mit dem Gestern gesprochen wird: Sammelstellen, die zu Gedenkstätten geworden sind, Schienenstränge, Großstadtbahnhöfe. Taucht in der Erzählung eine Lkw-Fahrt auf, so vollzieht eine ruckelnde Kamera sie nach.

Erst als Lerner über den Aufstand zu berichten beginnt, bleibt der Film konsequent bei ihm; ein schauriges Gebanntsein verbietet jede Abschweifung. Wenige Augenblicke bevor es um den Akt des Tötens geht, zoomt die Kamera so weit auf, dass die Gestik von Lerners Händen ihren Beitrag zur Chronik der Ereignisse beisteuern kann.

Lanzmann fragt Lerner, ob er im Moment der Schilderung des Axthiebs blass geworden sei. Man weiß nicht, was er meint, Lerners Gesichtsfarbe hat sich nicht verändert. Man ahnt, dass er etwas anderes fragen wollte: »Was empfinden Sie jetzt, wenn Sie diese Geschichte erzählen?« Lanzmanns Eingreifen ist etwas unglücklich. Nicht nur setzt er damit die Nahaufnahmen Lerners kurz dem Verdacht aus, sie könnten aus emotionsdetektivischen Gründen eingerichtet worden sein, zum Tränenaufspüren. Es lässt auch die Autorenintention ihr hässliches Haupt erheben. Lanzmann schubst Lerner zur Selbstreflexion, um einen Allgemeinplatz zu retten: dass Töten ein mönströser Akt ist; er will nicht, dass über dessen Beschreibung sein Held sich in ein Ungeheuer verwandelt. Das scheint Lanzmann so viel Sorge zu bereiten, dass er die Schönheit seiner eigenen Thesen durch einen humanistischen Reflex anzweifelt. Sein Einführungstext nennt den Aufstand noch »die Wiederaneignung von Kraft und Gewalt durch die Juden«.

Es lässt sich keine vollkommenere Bestätigung der Aussage vorstellen als Lerners ruhiger Gesichtsausdruck, der hoffen lässt, es könne so etwas geben wie Leid. Als Spur nur noch, als Erinnerung, nicht aber als fortgesetzter Schmerz. Der Schmerz hätte seine Macht über die Gegenwart verloren, weil eine Heilung stattgefunden hätte – eine Heilung der Tat.

stefan pethke

»Sobibor, 14. Oktober, 16 Uhr« (F 2001). R: Claude Lanzmann. Kinostart: 3. April