Beulen in Athen

Die Unterzeichnung der Beitrittserklärungen kann nicht verbergen, dass die Krise der EU wohl erst noch bevorsteht. von andreas dietl, brüssel, und harry ladis, athen

Den Nahen Osten wollten die USA und ihre Verbündeten mit ihrem Feldzug gegen den Irak neu ordnen. Während der Ausgang dieses Vorhabens noch offen ist, ist die Neuordnung einer anderen, nicht minder wichtigen Region bereits vollzogen.

Auf dem Gipfel der Europäischen Union wurde in der vergangenen Woche in Athen beschlossen, Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Tschechien, die Slowakei, Slowenien, Ungarn und Zypern am 1. Mai 2004 aufzunehmen. Es ist die bislang größte Erweiterung der EU, die künftig aus 25 Mitgliedern bestehen wird.

Doch die EU wird anders aussehen, als es sich das irgendein europäischer Staatsmann noch vor einem halben Jahr gedacht hätte. Die Schuld daran trägt unter anderem der von den USA und Großbritannien geführte Irakkrieg.

Auch den Protesten gegen den Gipfel war diese Veränderung anzumerken. Viele der 15 000 Demonstranten, die sich in Athen versammelten, konzentrierten sich darauf, Tony Blair, José Maria Aznar und Silvio Berlusconi für deren Irakpolitik zu beschimpfen. Dem reformistischen Teil der Demonstranten gilt »Europa« als positiver Gegenentwurf zum US-Imperialismus.

Nicht zuletzt die Maßnahmen zum Schutz von Gipfeltreffen zeigen, dass die EU-Staaten bei der Inneren Sicherheit immer besser zusammenarbeiten. Die so genannte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik aber, im Brüsseler EU-Slang »Gasp« genannt, ist in der Krise. Dabei sollte sie die politische Klammer stiften für eine Union, die nach der Erweiterung heterogener sein wird als je zuvor. Die wirtschaftlichen und strukturellen Unterschiede werden so groß sein, dass die konflikterprobten EU-Politiker erschaudern bei dem Gedanken an künftige Verhandlungen über Strukturhilfen, Wettbewerbsverzerrungen und Agrarquoten.

Die angestrebte gemeinsame Außenpolitik sollte die internen Querelen eingrenzen und daran erinnern, dass man bei allen Differenzen im Detail doch ein gemeinsames Wertesystem teile, für das Begriffe wie Demokratie und Freihandel und Systeme kollektiver Sicherheit stehen. Die Außenpolitik, so lautete die unausgesprochene Prämisse, sollte nicht mehr kruden nationalen Interessen dienen, sondern im Dienste abstrakter Werte stehen. Einen Verzicht auf nationale Interessen bedeutete das keineswegs, hatte man doch im Krieg gegen Jugoslawien die Erfahrung gemacht, dass sich strategische Interessenspolitik besser verkaufen lässt, wenn man ihr ein humanitäres Mäntelchen umhängt.

Es musste erst ein handfester Konflikt wie der um den Irak kommen, um den Europäern klar zu machen, dass das Mäntelchen nicht ausreicht, die internen Differenzen zu überdecken. Es war, das wird jetzt vielen klar, eine süße Lüge, zu behaupten, in der künftigen Europäischen Union würden die wirtschaftlichen Interessengegensätze so weit aufgehoben, dass auch in der Außenpolitik künftig nur noch gemeinsam gehandelt werden könne.

Solange in der EU Großkonzerne und ganze Branchen in der Hauptsache national organisiert sind und auf dem Weltmarkt miteinander konkurrieren, solange sich die Regierungen als Protektoren dieser Konzerne und Branchen aufführen, so lange wird auch die gemeinsame Außenpolitik eine Schimäre bleiben.

Geändert hat sich nur, dass es unter den Bedingungen der Gasp nicht mehr opportun erscheint, von den eigenen Interessen zu reden. Üblich ist es stattdessen, den Konkurrenten des Verstoßes gegen die lauthals proklamierte gemeinsame Werteordnung zu bezichtigen, wahlweise als Aggressor in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg oder als Giftgaslieferanten eines skrupellosen Diktators.

Klassische kapitalistische Interessenkonflikte stellen das Projekt der europäischen Einigung schon jetzt in Frage. Was soll aber sein, wenn diese Spannungen noch durch die Kluft von Arm und Reich aufgeladen werden? Schon jetzt kann man erleben, dass Italien seine Zustimmung zu einem EU-Steuerpaket von der Streichung einer Konventionalstrafe wegen des Überschreitens der Milchquote abhängig macht.

Das ist deswegen möglich, weil in der EU nach wie vor das Einstimmigkeitsprinzip gilt. Theoretisch könnte das sieben Promille der EU-Einwohnerschaft repräsentierende Luxemburg die gesamte Beschlussfassung der Union blockieren, um Vorteile für sich selbst zu erreichen.

Bislang ließen sich solche Konflikte meist auflösen, weil das gemeinsame Interesse am Funktionieren der EU-Institutionen überwog. Dass das unter den Bedingungen der erweiterten EU nicht mehr so selbstverständlich der Fall sein würde, war in Brüssel schon vor dem Eklat um die verschiedenen Erklärungen zum Irakkonflikt jedem klar. Auf die verbale Ohrfeige des französischen Präsidenten Jacques Chirac gegen jene Beitrittsländer, die sich an die Seite der USA und Großbritanniens gestellt hatten (»eine ausgezeichnete Gelegenheit versäumt, den Mund zu halten«), kam prompt die Replik des tschechischen Außenministers Cyril Svoboda: »Wir treten nicht der EU bei, um dazusitzen und Maulaffen feil zu halten.« Was ihn angehe, so brauche er überhaupt keine gemeinsame Außenpolitik.

Eine der wichtigsten und zugleich schwierigsten Aufgaben des Europäischen Konvents, der im Juni seinen Verfassungsentwurf vorlegen soll, lautet, in dieser Situation Entscheidungsstrukturen zu schaffen, die auch mit 25 Mitgliedsstaaten noch funktionstüchtig bleiben. Und das kann nur heißen, das Prinzip der Einstimmigkeit aufzuheben.

Daneben sollen zentrale Institutionen gestärkt werden, die nur der EU insgesamt verpflichtet sind. Die wichtigsten Vorhaben dabei sind die Schaffung eines Präsidenten und eines Außenministers.

Doch vor allem das Amt des Präsidenten stößt bei den kleineren Staaten auf vehementen Widerstand. Dabei wird die Sorge, bei der Ämterzuteilung leer auszugehen, nur vorgeschoben. Immerhin gilt der luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker als aussichtsreicher Kandidat für das Amt.

Mehr Sorge bereitet den »sieben Zwergen«, dass die Stärkung der zentralen EU-Institutionen zusammenkommt mit einer Änderung der Entscheidungsverfahren, bei der die Kleinstaaten nur verlieren können. Dass das so sein soll, bekräftigte der Konventspräsident, Valéry Giscard d’Estaing, ausgerechnet während der Unterzeichnung der Beitrittsverträge in Athen: »Man muss die Zahl der Mitgliedsstaaten berücksichtigen, aber auch die Bevölkerung; schließlich leben wir in einer Demokratie.«

Bei ihrem Treffen Anfang April hatten sich die kleineren EU-Staaten, sehr zum Missfallen Giscards, auf gemeinsamen Widerstand gegen die Präsidentenpläne festgelegt. Die meisten der Beitrittsstaaten unterstützen sie darin, sodass zur Zeit nur acht der 25 künftigen Mitglieder für die Ernennung eines Präsidenten sind.

Allem Anschein nach werden die Probleme der EU also nicht weniger werden. Bleibt nach dem Ender der Irakkrise nur, die alten Rezepte anzuwenden und die gemeinsame Außenpolitik zur Wiederherstellung des Gemeinschaftsgefühls zu benutzen. Anfang Mai planen die Außenminister Großbritanniens, Spaniens, Frankreichs und Deutschlands – der derzeit im Uno-Sicherheitsrat vertretenen EU-Staaten –, eine gemeinsame Erklärung zur Situation im Nachkriegsirak, in der eine »zentrale Rolle der EU« gefordert werden soll. Dann könnte es angesichts der gemeinsamen, von der Uno abgesegneten Patrouille in Bagdad in Vergessenheit geraten, dass die einen hier vor ein paar Monaten einen Krieg führten, den die anderen als völkerrechtswidrige Aggression geißelten.