Die Logik des Krieges

Der Feldzug im Irak war vor allem ein Präventivschlag gegen die weltpolitischen Konkurrenten der USA. Denn auch im 21. Jahrhundert bleibt der Nationalstaat ein bedeutender politscher Akteur. von michael heinrich

Schneller als manche zuletzt erwartet hatten, ist das Regime Saddam Husseins zusammengebrochen. Doch dass für die irakische Bevölkerung tatsächlich das von George W. Bush versprochene Zeitalter von »Freiheit und Wohlstand« anbricht, darf bezweifelt werden, und ob der Krieg tatsächlich zu Ende ist, lässt sich noch nicht absehen. US-amerikanische Drohungen gegen den Iran und Syrien werden häufiger. Die Frage, um was es am Golf eigentlich geht, bleibt aktuell.

Nach konkreten Gründen für den Krieg zu fragen, ist keineswegs selbstverständlich. Aus der Perspektive von Michael Hardts und Antonio Negris »Empire« kritisierten Thomas Atzert und Jost Müller (Subtropen, Nr. 24) eine »instrumentalistische« Auffassung vom Krieg, der sich nicht mehr als Mittel der Politik begreifen lasse. Der »Ordnung stiftende Krieg« werde vielmehr zur Legitimation von Politik, im Empire sei Krieg eine »Polizeiaktion«. Die Legitimation der US-Regierung, Kriege zur Beseitigung von »Schurkenstaaten« zu führen, wird im Grunde übernommen.

Analytisch nicht viel besser ist die von Robert Kurz vertretene Variante. Unter Führung der USA existiere ein »ideeller Gesamtimperialismus«, die Konflikte mit den Kriegsgegnern Deutschland, Frankreich und Russland seien unbedeutend, der gemeinsame Feind seien die »Krisengespenster des vereinheitlichten Weltsystems«. Der Kapitalismus ist, wie stets bei Kurz, auf der aussichtslosen Flucht vor seinem Zusammenbruch. Auch ein Sieg im Irak könne »die Gesamtkrise des Weltsystems nur verschärfen«, denn der »Todestrieb des Kapitals« sei unaufhaltsam.

Während sich weder Kurz noch Atzert und Müller auf eine konkrete Analyse einlassen, bieten imperialismustheoretische Erklärungen ein Übermaß an Konkretion. Die US-Politik ziele auf die direkte Verfügung über die irakischen Ölquellen, damit die Ölgesellschaften, die Bushs Wahlkampf finanzierten, ordentlich Profit machen können. Eine andere Variante sieht die Senkung der Ölpreise zur Entlastung der US-Ökonomie als wichtigstes Ziel. Zu allen diesen Punkten lassen sich Gegenrechnungen aufmachen, über die zur Ausbeutung der irakischen Ölquellen erforderlichen Investitionen oder die Kosten von Krieg und Besatzung. Und die einfachen Gewinn- und Verlustrechnungen gehen keineswegs auf.

Wem unmittelbar ökonomische Gründe für den Krieg nicht genügen, erhält den Hinweis, es gehe den USA letztlich um die Weltherrschaft. Allerdings bleibt vage, was unter Weltherrschaft verstanden wird. Bereits jetzt sind die USA der mächtigste Staat, ohne dass sie deshalb jeden Winkel der Erde direkt beherrschen. Der Sieg über Saddam Hussein bringt da keine grundsätzliche Änderung. Gleichzeitig wird dem Krieg aber auch etwas Irrationales unterstellt. Die USA verhielten sich »wie ein im Niedergang um sich schlagender Riese«, meint Joachim Hirsch. Auch für die Mehrheit der Friedensbewegung erscheint die Politik der USA als Ausdruck irrationalen Machtstrebens einer Clique von Besessenen, die Kriegsgegner Deutschland und Frankreich dagegen werden als Hort von Rationalität, Zivilität und Friedfertigkeit betrachtet.

Imperialismustheorien sehen im Staat eine Agentur, die die ökonomischen Interessen führender Kapitalgruppen wahrnimmt. Für die Bush-Administration erscheint dies besonders plausibel, da viele ihrer Mitglieder aus der Öl- und Rüstungsindustrie kommen, die beide am meisten vom Irakkrieg profitieren. Nur ist damit noch längst nicht belegt, dass der Krieg tatsächlich wegen dieser Profite geführt wurde.

Die Bedeutung des bürgerlichen Staates für das Kapital besteht nicht in der Umsetzung einzelkapitalistischer Interessen, sondern in der Sicherung der Bedingungen einer Akkumulation des Gesamtkapitals sowie der Beschaffung von Konsens und Legitimation für die dazu notwendigen Maßnahmen. Eine Regierung verfolgt diese Zwecke nicht, weil ihre Mitglieder vom Kapital bestochen sind, sondern weil ein prosperierender Kapitalismus die ökonomische Basis des bürgerlichen Staates bildet. Nur dann fließen Steuereinnahmen, und Sozialausgaben halten sich in Grenzen, sodass ein Handlungsspielraum der Regierung bleibt.

Die Sicherung der Bedingungen der Kapitalverwertung erfolgt auch nach außen, als Verfolgung des »nationalen Interesses« in Konkurrenz mit anderen Staaten. In dem Maße, wie nicht nur der Welthandel zunimmt, sondern auch internationale Kapitalverflechtungen und die Internationalisierung der Finanzmärkte, ändern sich die Bedingungen staatlichen Handelns. In den letzten 30 Jahren haben hier einschneidende Transformationen stattgefunden. Kooperation und Konflikt spielen sich jetzt auf einer Vielzahl von Ebenen ab, sodass Staaten, die auf einer Ebene kooperieren, auf einer anderen in scharfem Gegensatz stehen können. Allerdings kann keine Rede davon sein, dass Nationalstaaten keine Rolle mehr spielen. Doch gilt heute, genauso wie früher, dass nur wenige Staaten weltpolitisch von Bedeutung sind.

In der Konkurrenz der Staaten geht es nicht in erster Linie um die unmittelbare Aneignung von Reichtümern, sondern darum, die Bedingungen und Regeln dieser Aneignung zu bestimmen, wie sie sich in der Art des Handelsregimes und des Kapitalverkehrs, des Zugangs zu Ressourcen und in den Regelungen des Eigentumsschutzes, der Funktionsweise des internationalen Währungssystems etc. ausdrücken. Zur Durchsetzung dieser Regeln und um überhaupt in eine Position zu kommen, die es erlaubt, Regeln zu setzen, sind häufig Aktionen nötig, die sich unmittelbar überhaupt nicht »rechnen«.

Gegenwärtig ist die kapitalistische Produktionsweise extrem energieintensiv, und der wichtigste Energieträge ist Öl. Dass die Regierung Bush an dieser Situation nichts ändern will, machte sie mit ihrem Ausstieg aus dem Kyoto-Prozess und dem Cheney-Report deutlich, der Öl als Energieträger favorisiert. Damit war auch klar, dass die USA in den nächsten Jahrzehnten erheblich mehr Öl importieren müssen als bislang. Die bedeutendsten erschlossenen Ölvorkommen befinden sich im Nahen Osten. Von den drei großen Ölstaaten der Region, Iran, Irak und Saudi-Arabien, war nur noch Saudi-Arabien mit den USA verbündet, und die Beziehungen zur saudischen Monarchie verschlechterten sich nicht erst seit dem 11. September 2001. Dass die USA in dieser Region eine Neuordnung anstreben sollten, war schon seit Jahren ein Thema der politischen Klasse. Insofern ging es im Irakkrieg auch um Öl. Die Frage ist aber, in welchem Kontext es um Öl ging.

Mit dem Ende der bipolaren Welt des Kalten Krieges blieben nicht nur die USA als einzige Supermacht übrig, es wurden auch die Widersprüche einer multipolaren Welt freigesetzt. Die Verfolgung des »nationalen Interesses« vor allem der europäischen Staaten war nicht mehr länger durch das Korsett des Kalten Krieges eingeschnürt. Zwar kann heute kein anderer Staat an die ökonomische, politische und vor allem militärische Macht der USA auch nur heranreichen. Doch hat sich aus den unterschiedlichen Versuchen, die instabile Situation der neunziger Jahre zu bewältigen, eine Konstellation möglicher Konkurrenten herausgebildet, die die überlegene Position der USA längerfristig in Frage stellen könnte.

Russland und China haben die postsozialistischen Wirren einigermaßen bewältigt, beide entwickeln Formen eines staatlich gelenkten Kapitalismus, der vor allem in China zu einem enormen Wirtschaftswachstum geführt hat. Da dieser Entwicklungsprozess äußerst energieintensiv ist, haben beide Mächte in den letzten Jahren ein verstärktes Interesse an den Energievorräten Zentralasiens und des Nahen Ostens gezeigt.

Einschneidende Änderungen gab es auch in der EU. Dabei ist weniger die geographische Erweiterung bedeutsam als die mit dem gemeinsamen Binnenmarkt und der Einführung des Euro verstärkte ökonomische Integration. Zwar spielt der Euro im Welthandel und als Reservewährung der Zentralbanken gegenüber dem Dollar bislang nur eine untergeordnete Rolle, aber zum ersten Mal seit 1945 existiert eine Währung, die als Konkurrent des Dollar um die Rolle des Weltgeldes überhaupt in Frage kommt. Da es vor allem Erwartungen sind, welche die Entscheidungen kapitalistischer Akteure bestimmen, stellt der Euro eine weit stärkere Bedrohung für den Dollar dar, als sich aus aktuellen Statistiken ablesen lässt.

Der gegenwärtige US-Kapitalismus kann auf den Dollar als Weltgeld nicht verzichten. Leistungsbilanz- und Haushaltsdefizit bescheren den USA einen ungeheuren Kreditbedarf. Dass die zur Finanzierung notwendigen Kapitalimporte von mehreren Milliarden Dollar täglich fließen, verdankt sich zu einem guten Teil der Rolle des Dollar als Weltgeld: Die USA können sich in ihrer eigenen Währung verschulden, was ihnen die Rückzahlung erleichtert und auch die Sicherheit der Gläubiger erhöht.

Die Weltgeldrolle des Dollar wird aber nicht allein über die ökonomische Stärke der USA gesichert, sondern auch durch ihre politische und militärische Hegemonie. Die Kosten dieser Hegemonie lassen sich kaum anders als über ein riesiges staatliches Defizit finanzieren. Die Finanzierung der Hegemonialposition ist auf den Dollar als Weltgeld angewiesen und diese Weltgeldrolle wird durch die Hegemonialposition gesichert. Beides kann nicht einfach aufgegeben werden, die auf extensivem Ressourcenverbrauch begründete Produktionsweise und das über die Verschuldung erreichte Konsumniveau könnten dann nicht mehr aufrecht erhalten werden.

Zur Durchsetzung ihrer Hegemonie haben die USA zwei grundsätzliche Optionen: »multilateral«, durch Kooperation, Berücksichtigung konkurrierender Interessen und Vereinbarungen, die auch den Hegemon binden, oder »unilateral« unter weitgehender Ignorierung anderer Interessen. Die erste Option ist mit geringeren Konflikten und Risiken verbunden als die zweite, allerdings kann auch weniger durchgesetzt werden.

Bush senior folgte bei seinem Irakkrieg 1991 der ersten Option. Mit Bush junior hat sich die zweite Option durchgesetzt. Dieser Unilateralismus ist keineswegs so irrational, wie viele Europäer glauben. Im Moment ist das Machtgefälle zwischen den USA und dem Rest der Welt so groß, dass der Unilateralismus eine reale Chance bietet, die Spielregeln neu zu bestimmen und dadurch zu verhindern, dass mögliche Konkurrenten zu einer wirklichen Bedrohung werden können.

Dass die USA mit ihrer neuen Sicherheitsdoktrin ihre Bereitschaft zum Präventivkrieg erklären, folgt einer durchaus rationalen Logik der Macht. Will der Hegemon auch in Zukunft Hegemon bleiben, kann er nicht warten, bis Konkurrenten seine Position tatsächlich angreifen können. Insofern ist der Irakkrieg einerseits, wie der Krieg in Afghanistan, ein Krieg zur Neuordnung der Region. Andererseits handelt es sich um einen Präventivkrieg gegen die möglichen Konkurrenten China, Russland und die von Deutschland und Frankreich dominierten Teile der EU. Ihnen wird ein eigenständiger Einfluss auf die Neuordnung der politisch und sozial höchst instabilen zentralasiatisch-nahöstlichen Region verwehrt.

Nicht Humanität und Friedensliebe oder die im Irak investierten Milliarden waren das Motiv der Antikriegskoalition, sondern der drohende Verlust von Einfluss. Dieselbe Logik der Macht, die den US-Unilateralismus hervorbrachte, begründet auch die von der Friedensbewegung so geschätzte »multilaterale« Orientierung Deutschlands und Frankreichs. Unter dem Dach des Multilateralismus lassen sich bei den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen die eigenen »nationalen Interessen« am besten verfolgen.

Die unilaterale Politik der USA lässt ihren Konkurrenten nur zwei Möglichkeiten: sich unterzuordnen, in der Hoffnung, dass dieses Wohlverhalten irgendwann belohnt wird, oder die eigene Position zu stärken. Großbritannien folgt der ersten Option, und da es der wichtigste Verbündete der USA ist, sogar mit Aussicht auf Erfolg. Die kleineren europäischen Staaten, die sich auf die Seite der USA stellten, hoffen auf das Bündnis mit den USA als Gegengewicht zur deutsch-französischen Dominanz in der EU.

Der zweiten Option folgen Deutschland und Frankreich. Die geforderte gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik und eine weltweit interventionsfähige Armee sollen die eigene Position stärken. Letzteres ist angesichts des militärischen Rückstands zu den USA ein langfristiges und teures Projekt, von dem noch nicht abzusehen ist, in welchem Umfang es realisiert wird.

Nicht zuletzt durch die breite Friedensbewegung und die Antikriegsposition vieler europäischer Staaten ist allerdings die Keimform eines EU-Nationalismus entstanden, der das friedliche und zivile Europa den rücksichtslosen, das Völkerrecht missachtenden USA gegenüberstellt. Dann liegt aber auch der Gedanke nicht mehr fern, dass das friedliche Europa, um seine »zivilen« Ziele zu erreichen, eine starke Armee benötigt. Insofern kann die Friedensbewegung zur Helferin einer weltweit agierenden europäischen Militärmacht werden.

Auf den ersten Blick sieht es zwar so aus, als ob die Anti-Kriegs-Koalition die Machtprobe mit den USA verloren hätte. In der nächsten Zukunft dürfte sich die Kooperation wieder verstärken. Doch ändert dies nichts an den grundlegenden Interessengegensätzen zwischen dem Hegemon und den aufstrebenden Mächten. Diese Gegensätze und die aus ihnen resultierenden Konflikte lassen sich weder als Polizeiaktionen des »Empire« noch als Niedergangsphänomene des »ideellen Gesamtimperialismus« fassen, sie sind vielmehr die politische Bewegungsform eines multipolaren Konkurrenzkapitalismus.