Links oder gar nicht

Wenige Tage vor den Präsidentschaftswahlen in Argentinien wachsen die Proteste und die Regierung veschärft ihre Repression.

Gewählt wird erst am Wochenende, doch schon jetzt zeigen sich in Argentinien deutliche Auswirkungen. Die Protestbewegung muss sich gegen eine immer stärkere Repression und Kriminalisierung durch den Staatsapparat wehren. Besetzte Gebäude wie die Fabrik Brukman und der ehemalige Sitz der Banco Mayo, wo sich die Asamblea Lezama Sur und Indymedia Argentina befanden, wurden in den letzten Tagen geräumt. Anfang April wurden Piqueteros aus dem unabhängigen Spektrum in Salta nach einer Unterredung mit dem Kabinettschef der Bundesregierung verhaftet. Auch bei Straßensperren greifen die Sicherheitskräfte wieder härter durch.

Die Präsidentschaftskandidaten ziehen mit und versprechen, künftige Proteste gewaltsam niederzuschlagen und das Privateigentum zu verteidigen. Es soll angeblich durch die Aktionen der Bewegung bedroht sein. Da Analysen von vielen Nichtwählern ausgehen, die vom abgehalfterten politischen System Argentiniens genug haben, kämpfen die Kandidaten jetzt um die Stimmen derjenigen, die wieder »Recht und Ordnung« etablieren wollen. So gab es auch bei gemäßigten Kandidaten in den vergangenen Wochen einen spürbaren Rechtsruck.

Die Wahlen am 27. April sind die ersten nach dem Aufstand vom Dezember 2001. Es gibt mittlerweile wieder täglich Straßenproteste von Arbeitern und Arbeitslosen, Rentnern und Studenten, Menschenrechtsaktivisten und Anwohnern. Immer noch lautet die zentrale Forderung, dass die politische Klasse geschlossen abtreten soll. Denn keiner der Kandidaten steht für einen politischen Neuanfang.

Auch das ist ein Grund dafür, warum die Wahl nicht besonders populär ist. In den Medien geht es um zwei Kriege, den im Irak und den der argentinischen Regierung gegen die Protestbewegung. »Der Alltag in Argentinien«, schreibt Naomi Klein in Clarín, der größten argentinischen Tageszeitung, »gleicht in vielen Aspekten einem Krieg.« Beim Zappen durch die Fernsehkanäle versteht man, was sie meint.

Dort sieht man etwa die MTL, eine linke Piqueteroorganisation, die den Verkehr auf einer großen Straße vor einer Filiale von McDonald’s sperrt. Auf ihren Schildern steht: »Mit jedem Hamburger finanzierst du die Invasion des Irak.« Ein Autofahrer brüllt die Arbeitslosen an: »Geht arbeiten und lasst andere arbeiten!« Oder man sieht eine andere Organisation, die autonome Aníbal Verón, die bis zum Haus des Präsidenten, Eduardo Duhalde, marschiert, um an die Ermordung zweier ihrer Aktivisten vor neun Monaten zu erinnern. Die Mutter eines der Toten beschimpft einen der 200 Polizisten, die das Haus bewachen: »Wenn ich du wäre, zöge ich mir die Uniform aus, Mörder.« Oder man sieht dies: Hunderte von Studenten ziehen durch die Straßen des Zentrums, um gegen die Kürzung des Bildungsetats um 150 Millionen Dollar zu protestieren. Eine besetzte still gelegte Nudelfabrik wird gewaltsam geräumt. Einer der Arbeitslosen, die die Fabrik wieder in Betrieb nehmen wollten, schreit in die Kamera: »Wir kommen wieder«, während die Polizei ihn in ein gepanzertes Fahrzeug zerrt. Unterdessen brüstet sich die Regierung mit einer leichten wirtschaftlichen Erholung, und sie erhöht gleichzeitig den Druck auf die Demonstranten. Verhaftungen sind an der Tagesordnung.

Traditionell teilten sich in Argentinien zwei Parteien die Macht. Bei den Wahlen des Jahres 1999 gingen 90 Prozent der Stimmen an die Radikale Bürgerunion (UCR) und die Peronisten (PJ). In den aktuellen Umfragen kommen fünf Kandidaten auf jeweils 15 Prozent; es wird auf jeden Fall zu einer Stichwahl kommen. Die drei am besten Platzierten, Carlos Menem, Néstor Kirchner und Adolfo Rodríguez Saa, sind Peronisten. Ihre Partei wäre zerbrochen, hätte sie sich auf einen Kandidaten einigen müssen. Denn in der Partei gibt es starken Widerstand gegen das Ansinnen Menems, wieder zu kandidieren. So wird der interne Konflikt bei den allgemeinen Wahlen entschieden. Die beiden anderen relevanten Kandidaten, Elisa Carrió und Ricardo López Murphy, gehörten bis vor kurzem zur UCR, deren eigentlicher Kandidat weit abgeschlagen ist.

Sie alle versuchen, die Wählerschaft mit dem Versprechen eines »neuen Landes« zu ködern. Doch keiner erzeugt damit genügend Enthusiasmus, um eine Mehrheit auf seine Seite zu ziehen. Sollte Menem gewinnen, wäre es seine dritte Präsidentschaft. Er will die Wirtschaft vollständig an den Dollar koppeln, die Außenpolitik mit den USA absprechen, die Auslandsschulden wieder zurückzahlen, die Forderungen des IWF befolgen und die sozialen Proteste niederschlagen lassen. Seine Wahlspots wiederholen immer wieder einen Slogan: »Um zu wachsen, müssen wir das Privateigentum respektieren.«

Adolfo Rodríguez Saa war nach dem Sturz De la Rúas sieben Tage lang Präsident. In seiner kurzen Regierungszeit erklärte er die Einstellung des Schuldendienstes, zahlte aber weiter die Zinsen. Er wurde von einer Massendemonstration aus dem Amt gejagt. Mit einem wirren nationalpopulistischen Programm stellt er sich nun wieder zur Wahl. Saa will die Eisenbahn und die Ölgesellschaften wieder verstaatlichen.

Der im Augenblick in den meisten Umfragen führende Nestor Kirchner wird vom Amtsinhaber Duhalde unterstützt. Kirchner will die Piqueteros und Asambleas durch Verhandlungen ins politische System integrieren. Dennoch gelang es ihm nicht, die Unterstützung der neuen sozialen Bewegungen zu bekommen; als Wunschkandidat des Präsidenten steht er für die Kontinuität der derzeitigen Politik. Kirchner kündigte an, einen Teil der jetzigen Regierungsmannschaft zu übernehmen, etwa den Wirtschaftsminister Roberto Lavagne.

Seit Jahren regiert Kirchner in Santa Cruz, einer Provinz Patagoniens, die mit Erdöl zu Geld gekommen ist, als Gouverneur. Die erwirtschafteten Überschüsse in der Provinzkasse ließ er auf ein Schweizer Konto transferieren, um sie dem Zugriff der Bundesregierung zu entziehen.

Elisa Carrió ist die erste Frau in Argentinien, die den Umfragen zufolge bei den Wahlen auf mehr als zehn Prozent kommt. Mitte des vergangenen Jahres kokettierte sie zuerst mit der Bewegung, erwog sogar, sich am Wahlboykott zu beteiligen. Doch das Motto »Alle sollen verschwinden« betraf auch sie. Seither mischt sie in ihrem Programm Losungen gegen »Korruption« und Feminismus und Anrufungen Gottes und der Jungfrau Maria. Sie präsentiert sich als überzeugte Christin und trägt manchmal einen Rosenkranz um den Hals. Sie gilt immer noch als fortschrittlich, aber sie verlor Sympathien, als sie sich gegen ein Gesetz stellte, das die Abtreibung legalisieren sollte.

Ricardo López Murphy, der in den letzten Wochen in den Umfragen vor allem in der Hauptstadt gewonnen hat, will wie Menem die sozialen Proteste unterdrücken und die Wirtschaftsreformen der vergangenen Jahre vertiefen, der neoliberale Kahlschlag ging ihm nicht weit genug. Er war unter De la Rúa zweieinhalb Jahre lang Verteidigungminister, später für kurze Zeit Wirtschaftsminister. Dieses Amt musste er abgeben, als die Bevölkerung gegen seine Kürzungspläne auf die Straße ging.

Bei den Linken sieht es düster aus. Der Trotzkist Jorge Altamira für die Arbeiterpartei (PO) und Patrica Walsh für die Vereinigte Linke (IU) schafften es nicht, ein Bündnis einzugehen, und treten deshalb getrennt an. Seit Walsh sich als »linke Peronistin« bezeichnete, stieg sie in den Umfragen und liegt bei drei Prozent. Sowohl die PO als auch die IU haben Piqueteros und Asambleas bei ihren Mobilisierungen begleitet. Doch viele in der Bewegung misstrauen ihnen. Während durch die Ereignisse des Dezember 2001 eine neue Form entstand, sich politisch zu organisieren, halten die traditionellen linken Parteien an vertikalen Strukturen, Dogmatismus und Autoritarismus fest.

Innerhalb der neuen Bewegungen wollen deshalb viele gar nicht wählen. Mabel Belluci von der Asamblea Cid Campeador im Viertel Almagro etwa will aus dem Wahlboykott eine politische Aktion machen. Sie sagt: »Wählen bedeutet, Rechte in anonymer Form abzutreten, um legal unterworfen zu werden.« Mabel hat zusammen mit anderen in der Asamblea die Aktionen »ziviler Ungehorsam« und »aktive Nichtwahl« initiiert, andere Organisationen, Asambleas und studentische Gruppen, schlossen sich an. »Wir wollen in der Öffentlichkeit debattieren, dass es viele Formen von Demokratie gibt«, sagt Mabel. Nach ihrer Ansicht sollte die Praxis der direkten Demokratie, der Asambleas und besetzen Fabriken, die politische Kultur verändern.

Der Wandel soll in allen gesellschaftlichen Bereichen vollzogen werden, nicht nur in Gewerkschaften, Universitäten und sozialen Bewegungen. An den linken Parteien, die zur Wahl antreten, übt sie harte Kritik: »Deren Haltung ist schizophren. Bei ihren Mobilisierungen hört man für gewöhnlich, ›alle sollen verschwinden‹, und ich frage mich immer, fühlen sie sich davon nicht angesprochen?«

Rodrigo, der seit einigen Monaten auch in der Asamblea del Cid aktiv ist, vertritt eine andere Position. Er wurde Anfang er achtziger Jahre geboren und gehört zu der Generation, die in Argentinien »die Kinder der Demokratie« genannt wird, geboren zur Zeit des Übergangs von der Militärdiktatur zur Demokratie. Rodrigo sagt: »70 Prozent der Argentinier haben nicht die geringste Idee davon, was Gegenmacht ist, was Asambleas und besetzte Fabriken überhaupt bedeuten. Für sie ist die repräsentative Demokratie weiterhin eine Option, deshalb dürfen wir sie nicht aus dem Blick verlieren.« Rodrigo will auf jeden Fall für einen der linken Kandidaten stimmen.

Übersetzung: Timo Berger