Quebec fieberfrei

Der Wahlsieg der föderalistischen Liberalen in der kanadischen Provinz zeigt, dass es für die Quebecer Wichtigeres gibt als staatliche Unabhängigkeit. von ferdinand muggenthaler, toronto

Bernard Landry machte einen geradezu fröhlichen Eindruck, als seine Niederlage feststand. Der abgewählte Premier schien froh zu sein, nicht mehr »gut regieren« zu müssen. »Die gute Regierung wieder wählen!« Mit dieser Botschaft war die separatistische Partei Quebecs, die Parti Québécois (PQ), in den Wahlkampf gezogen. Ihrer Forderung nach einer Abspaltung von Kanada traute sie so recht keine Anziehungskraft mehr zu.

Dabei hatte Landry noch im September 2002 die Unabhängigkeit in tausend Tagen versprochen. Nach den verlorenen Wahlen am 14. April erklärte er: »Die tausend Tage waren ein bisschen zu kurz. Unsere Landsleute wollten damit nichts zu tun haben, jetzt wird es ein paar tausend Tage länger dauern. Aber was ist das schon, in der Geschichte einer Nation?«

Vorerst hat sich diese »Nation« entschieden, eine Provinz Kanadas zu bleiben. Jean Charest, der kommende Premier, kann sich auf eine komfortable Mehrheit im Parlament stützen. Seine Partei hat 76 der 125 Wahlkreise gewonnen und 46 Prozent der Stimmen. Mit Charest wird zum ersten Mal seit 1976 ein bekennender Föderalist die mehrheitlich französischsprachige Provinz regieren.

Mit dem Wahlergebnis bestätigt sich, was sich schon die letzten Jahre abzeichnete: Der kanadische Dauerkonflikt hat an Sprengkraft verloren. Seit der Eroberung der französischen Kolonie durch die Briten fühlten sich die französischstämmigen Kanadier, zum Teil zu recht, von den englischsprachigen benachteiligt.

Die moderne Bewegung für die Unabhängigkeit Quebecs hatte ihre symbolischen Höhepunkte 1967, als Charles de Gaulle in Montreal rief: »Es lebe das freie Quebec!«, und 1970, als die kanadische Regierung nach der Entführung eines Ministers durch eine linksnationalistische Gruppe den Ausnahmezustand verhängte. Danach setzte ein zäher Kampf zwischen separatistischen Provinzpolitikern und der Bundesregierung um Verfassungsbestimmungen und Sonderrechte für Quebec ein.

1980 und 1995 ließen die Separatisten die Quebecer über die Unabhängigkeit abstimmen. Beide Male verloren sie. Das letzte Mal denkbar knapp mit 49,4 zu 50,6 Prozent. Die Mehrheit der französischsprachigen Bevölkerung stimmte für die Unabhängigkeit. Der damalige Parteichef der PQ schob denn auch den Neueinwanderern und dem Geld die Schuld für seine Niederlage zu.

Geld dürfte ein wichtiger Grund sein, warum selbst viele Befürworter der Unabhängigkeit inzwischen nicht mehr scharf auf ein neues Referendum sind. Die letzten beiden führten zur Abwanderung einer Reihe finanzkräftiger Unternehmen aus Montreal, der größten Stadt Quebecs mit dem größten Anteil an englischsprachigen Einwohnern und Neueinwanderern. Noch einen weiteren ökonomischen Rückschlag ist die Separation nicht wert.

Auch haben sich die Separatisten mit ihren eigenen Erfolgen ihres wichtigsten Arguments, der Gefährdung der französischsprachigen Kultur der Provinz, beraubt. Seit 1969 gilt in ganz Kanada die Zweisprachigkeit. Nur Quebec nimmt sich seit 1977 die Ausnahme der Einsprachigkeit heraus. Die Polizei überwacht, dass selbst englische Buchhandlungen auf Französisch für sich werben.

Während im englischsprachigen Kanada viele bildungsbürgerliche Familien ihre Kinder auf französische Schulen schicken, dürfen in Quebec Kinder nur dann auf eine englische Schule, wenn bereits ein Elternteil in Quebec in einer solchen unterrichtet wurde. Und während Einwanderer im Rest des Landes Englisch- oder Französischkenntnisse nachweisen müssen, braucht man in Quebec nur Französisch. Der Anteil der englischsprachigen Bevölkerung in Quebec sinkt ohnehin schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts.

Im gerade vergangenen Wahlkampf war Separation kaum ein Thema und trotzdem die entscheidende Frage der Wahl. Umfragen zeigten, dass noch etwa 40 Prozent der Einwohner eine Abspaltung von Kanada befürworten. Die 80 Prozent französischsprachigen Quebecer sind in der Frage uneins. Dies wissend, nahmen auch die regierenden Separatisten der PQ das Wort »Souveränität« im Wahlkampf möglichst nicht in den Mund. Stattdessen betonten sie ihre Erfolge in der Wirtschaftspolitik, die staatlich garantierten Kindergartenplätze und versprachen eine aus nur vier Tagen bestehende Arbeitswoche für Eltern. Tatsächlich war, glaubt man den Umfragen, die Mehrheit von der »guten« Regierungspolitik überzeugt.

Der Umschwung kam, als der Kandidat Jean Charest in einer Fernsehdebatte den Amtsinhaber auf sein Ziel der Unabhängigkeit ansprach. Landry wich aus und wollte ein weiteres Referendum zur Unabhängigkeit nicht ausschließen. Noch ein Referendum? Das wollten sich Zweidrittel der Wähler auf keinen Fall antun.

Charests Wahlsieg bedeutet nicht, dass Quebec nicht weiter auf seine Sonderstellung pochen wird. Er versprach, die Interessen Quebecs kraftvoll zu vertreten und gemeinsam mit anderen Provinzen für mehr Geld und Autonomie der Provinzen gegenüber der Bundesregierung zu kämpfen, aber ohne die Drohung der Loslösung.

Außerdem verfügt Charest, anders als die separatistischen Provinzpremiers vor ihm, über gute Kontakte in ganz Kanada. Bevor er Parteichef der Liberalen in Quebec wurde, war er Vorsitzender der Konservativen auf Bundesebene. Zu Regierungsweihen konnte es der ehrgeizige Politiker auf Bundesebene wegen der gespaltenen kanadischen Rechten nicht bringen, also versuchte er es in Quebec. Dazu wechselte er kurzerhand zum Quebecer Ableger der Konkurrenz, da es in der Provinz keine nennenswerte Präsenz der Konservativen gibt.

Wäre der Separatismus nicht, Charest hätte auch zur PQ wechseln können. Die politischen Unterschiede sind gering. Die PQ ist traditionell zwar etwas sozialdemokratischer und baut auf eine keynesianische Wirtschaftspolitik, aber in den letzten Jahren war auch sie zu Sparmaßnahmen gezwungen, um das Staatsdefizit zu bekämpfen. Umgekehrt versprach zwar Charest Steuersenkungen, sein Hauptthema aber war der Ausbau des staatlichen Gesundheitssystems.

Die Bundesregierung frohlockte nach dem Wahlsieg ihres Parteikollegen Charest. Besonders erleichtert war Jean Chrétien, selbst ein Quebecer. Der Parteichef der Liberalen schlug sich fast 40 Jahre lang, zuerst als Minister und in den letzten zehn Jahren als Premier, mit dem Separatismus herum. Zum ersten Mal ist diese Bedrohung in die Ferne gerückt. Das sei das Sahnehäubchen auf seiner politischen Karriere, so der scheidende kanadische Premier.

Sein Minister für die Beziehungen zu den Provinzen, Stéphane Dion, auch er kommt aus Quebec, war etwas vorsichtiger: »Nationalismus ist weltweit eine sehr starke Emotion, und man weiß nie, wann dieses Fieber wieder kommt.«