Der Sinn von Schaufenstern

Das argentinische Colectivo Situaciones schaut zurück auf die Tage des Aufstands. von wolf-dieter vogel

Ein neues Drehbuch, ein anderes Spektakel. Die Zuschauer haben in einer »massenhaften Invasion« die Bühne gestürmt und die Schauspieler auf die Plätze verwiesen. So interpretieren die Mitglieder des Colectivo Situaciones die Rebellion vom 19. und 20. Dezember 2001, die das politische System Argentiniens zum Zusammenbruch brachte. Die Situation sei einfach entstanden«, schreiben sie. Die »Multitude« habe »ohne feste Führung, ohne Versprechen und ohne Programme« einen der »wichtigsten Aufstände der zeitgenössischen argentinischen Geschichte vollzogen«. Das Colectivo Situaciones, ein Zusammenschluss von Aktiven mit zumeist akademischem Hintergrund, verweigert sich unter Berufung auf auf Guy Debord und Toni Negri den eiligen Bemühungen linker Gruppen, die vielen Facetten dieser Revolte in traditionelle dialektische Analyseschemata zu pressen. Die Affirmation des Proletariats, die Avantgarde als Trägerin der geschichtlichen Vernunft, die Überwindung der Ausbeutung durch den Sozialismus, das alles seien Fragmente einer »anachronistischen Ideologie«, die nicht zuletzt angesichts der jüngsten Erfahrungen nichts mehr taugten.

»Für uns ist es nicht mehr möglich, die historischen Ereignisse von dieser Philosophie aus zu denken«, resümiert das Colectivo Situaciones. Gerade der unterschiedliche Hintergrund der Beteiligten, der in einer Art »Fusion« zum Ausdruck gekommen sei, und die Ablehnung jedes »absichtsvollen Diskurses« habe den eigentlichen Charakter des Aufstandes deutlich gemacht. »Jede und jeder wird einen Sinn für das eigene Drama, die eigene Tragödie, die eigene Komödie finden müssen.«

Tatsächlich lässt sich das Spektakel dieser Dezembertage und der folgenden Monate nicht in eindimensionalen Mustern erfassen. Noch kurz vor dem Aufstand wollten mittelständische Argentinier nichts von den Kämpfen der Arbeitslosen in den Piquetero-Gruppen wissen. In den Tagen und Nächten der Rebellion trafen sie sich dann ganz selbstverständlich auf der Straße, als die verprellten Sparer mit ihren Kochtopfdemonstrationen gegen die Sperrung ihrer Konten protestierten. Heute verteidigen Mitglieder der oft mittelständisch geprägten Stadtteilversammlungen besetzte Fabriken, die von den Arbeitern und Arbeiterinnen in Selbstverwaltung betrieben werden, nachdem die Unternehmensleitungen das Weite gesucht haben.

Über diese Aspekte der Revolte geben auch weitere Autoren und Autorinnen Auskunft, die im Sammelband »Que se vayan todos« über »Krise und Widerstand in Argentinien« schreiben. Etwa Horácio Gonzalez. Der argentinische Soziologe widmet sich der Nacht vom 19. auf den 20. Dezember in Buenos Aires, die für viele bis heute ein Kuriosum geblieben ist. Wie zu einem magischen Punkt habe es ihn Schritt für Schritt zur Plaza de Mayo, dem zentralen Platz der Hauptstadt gezogen, schreibt Gonzalez. Erst vor die Haustür, dann zur nächsten Ecke, und dann mit »jedem Straßenmeter« eine Bewusstseinsebene weiter. »Jemand sagte mir, er habe in seiner Wohnung den Fernseher angelassen, weil er nur einen Augenblick auf die Straße gehen und in Kürze zurückkehren wollte. Als er Stunden später zurückkam, lief sein Fernseher noch und wartete ungeduldig auf seinen Besitzer. Auch mir passierte dasselbe.«

In der Zwischenzeit entwickelte sich ein Aufstand, der das politische und soziale Leben Argentiniens auf den Kopf stellte. Der Präsident Fernando de la Rúa trat am folgenden Tag von seinem Amt zurück, drei weitere folgten ihm innerhalb von zwei Wochen. Mindestens 40 Menschen starben bei Auseinandersetzungen, die sich auf das ganze Land ausdehnten. Im Zentrum der argentinischen Hauptstadt blieb ein Trümmerfeld von zerstörten Autos, geplünderten Läden und eingeschlagenen Schaufensterscheiben zurück.

Vielleicht aber, so räsoniert das Colectivo Situaciones, sei Buenos Aires auch nur »rekonstruiert« worden«, vielleicht gehe es darum, »durch neue Menschenströme, neue Formen die Stadt zu bewohnen und den Sinn der Schaufenster und der Banken zu verstehen«. Im Gegensatz zu den Revolten der siebziger Jahre habe es sich nicht um aufständische Massen gehandelt, die mit dem sozialistischen Versprechen eines besseren Lebens die Zukunft erobert hätten. Diese Bewegung »zieht ihren Sinn nicht aus der Zukunft, sondern aus der Gegenwart«.

Man kann die Sache freilich auch einfacher herleiten, eben so, wie es in fast jedem Artikel über die argentinische Krise nachzulesen ist: Die Privatisierung staatlicher Unternehmen, die liberale Öffnung der heimischen Wirtschaft sowie die Korruption des Ex-Präsidenten Carlos Menem haben Argentinien aus »europäischen Verhältnissen« auf den Platz eines lateinamerikanischen Dritte-Welt-Landes zurückverwiesen. Die zunehmende Arbeitslosigkeit und die Zahlungsunfähigkeit der Banken, von der vor allem die Mittelschichten betroffen waren, führten zu klassenübergreifenden Bündnissen. Das am 15. Dezember 2001 verfügte Corralito, die Sperrung von Sparkonten, brachte die Wirtschaft komplett zum Erliegen, und die Wut der verarmenden Massen zum Ausbruch.

Das alles ist so richtig wie bekannt und wird in dem Buch als Hintergrundinformation nebenbei vermittelt. Wirklich spannend und auch zentral für Linke in Argentinien dagegen ist die Frage, wie das auf den Nullpunkt gesunkene Vertrauen großer Bevölkerungsteile auf jede staatliche Autorität im Alltag konstruktiv umgesetzt werden kann. Die Forderung »Que se vayan todos!« – Alle sollen abhauen – bringt diese Stimmung immer wieder auf den Punkt, und da zählt das Colectivo mit seiner Ablehnung jeglichen Systems der Repräsentation zu den konsequentesten Vertretern.

Manche seiner Sätze lesen sich wie eine Verklärung bewegungsorientierter Phrasen. So beispielsweise, wenn der Moment der Auflehnung alles ist und das eingeplante Scheitern zur historischen Erfahrung hochgejubelt wird. Geradezu befremdlich wirkt der positive Bezug auf die zeitweise massenhaft genutzten Tauschbörsen. Über dieses System des direkten Tausches von Waren und Dienstleistungen, so die Kollektivisten, könnte man zu einer »neuen Ökonomie« kommen. Dass sich damit ihre antikapitalistische Kritik auf die Zirkulationssphäre reduziert und der schaffende Prolet gegen spekulatives Kapital in Anschlag gebracht wird, beschäftigt die Autoren nicht.

Dennoch sind einige ihrer Thesen diskussionswürdig. In Argentinien wurde massenhaft mit Modellen der Gegenmacht jenseits der Repräsentation experimentiert.

Die nach den Dezembertagen vielerorts entstandenen Stadtteilversammlungen haben den städtischen Raum verändert, aus Kneipen, Plätzen und Straßenecken wurden Orte der Workshops, Konferenzen und Festivals. Auch die Piqueteros, die mittlerweile auf eine siebenjährige Geschichte zurückblicken können, entwickelten Strukturen, die sich teilweise bis heute klassischen Formen der Repräsentation verweigern. Ebenso sind die mehr als hundert besetzten Betriebe Teile dieses Erfahrungsschatzes, auch wenn sie häufig mit grenzenloser Selbstausbeutung verbunden sind.

Doch wie immer ist der schärfste Gegner jeder radikalen Gesellschaftskritik die Linke selbst. Wer wie das Colectivo Situaciones in Anlehnung an die mexikanischen Zapatisten Emanzipation nicht mit der Erlangung machtpolitischer Positionen gleichsetzt, hat auch in Zeiten der Revolte schlechte Karten. Ob unter den Piqueteros, auf den Stadtteilversammlungen oder auf Demonstrationen, überall versuchen unzählige trotzkistische Gruppen und kommunistische Parteien, die Bewegung für den »revolutionären Kampf« zu vereinnahmen. Allein die Piqueteros sind heute in mehrere Fraktionen gespalten, und selbst eine Kampagne zum Boykott der Präsidentschaftswahlen vom vergangenen Wochenende sorgte für neue Fronten.

Solche Entwicklungen haben natürlich viele Gründe, die nicht durch eine im Aufstand entstehende »kollektive Intelligenz« überwunden werden, wie sie die Situationisten ausmachen. Doch in einem muss man ihnen zweifellos Recht geben. Die Parteigänger vom alten Schlag haben bis heute nicht begriffen, dass soziale Emanzipation durch revolutionären Machtwechsel nicht zu haben ist. Wenn sie den Spruch »que se vayan todos« benutzen, so die Piquetero-Gruppe MTD in einem Beitrag des Buches, »so schließen wir hier auch die linken Parteien ein. Diese tun aber so, als ob sie damit nicht gemeint wären. Sie sind aber Teil des Alten und dazu in der Lage, dieses kollektive Experiment zu zerstören.«

Colectivo Situaciones: Que se vayan todos! Krise und Widerstand in Argentinien. Hrsg. von Ulrich Brand. Assoziation A, Berlin, Hamburg, Göttingen 2003, 180 S., 14 Euro