Totgesiegt

Während Bayern München eine langweilige Meisterschaft bejubelt, droht dem Rivalen von einst, Bayer Leverkusen, der Niedergang. von erik eggers

Ein großer Sieg, formulierte Friedrich Nietzsche einst geistig noch klar, »ist eine große Gefahr. Die menschliche Natur erträgt ihn schwerer als eine Niederlage; ja es scheint selbst leichter zu sein, einen solchen Sieg zu erringen, als ihn so zu ertragen, dass daraus keine schwere Niederlage entsteht.«

Als der Philosoph diese Sätze 1873 in seinen »Unzeitgemäßen Betrachtungen« niederschrieb, echauffierte er sich maßlos über den nach seinem Geschmack zu lauten und zu lang anhaltenden Siegesjubel der Deutschen nach dem Triumph im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 und über die Arroganz, die dahinter stand: die fatale Grundannahme nämlich, dass die momentane militärische und kulturelle Überlegenheit ewig andauern würde.

Ob die Verantwortlichen in Leverkusen den Philosophen gelesen haben, damals im Sommer 2002? Nach dieser unfassbaren Saison, in der der Werksklub unter dem Bayer-Kreuz fulminante Siege feierte, sich bis hinein in das Finale der Champions League kombinierte und dort nur knapp den Königlichen aus Madrid unterlag?

Mancher Experte hielt den Leverkusener Angriffsfußball seinerzeit gar für stilbildend, und einige prognostizierten am Ende dieser Saison 01/02 eine neue Zeit im Leistungsfußball: Rauschendes, begeisterndes Kurzpassspiel würde sich von nun an durchsetzen gegen einen unattraktiven, betonharten Defensivfußball, wie ihn damals der FC Liverpool verkörperte.

Doch nun, nur ein Jahr später, steht dieses moderne Epos vor seinem brutalen Ende und ist eigentlich nur noch eine Fabel vom Aufstieg und Fall einer großen Fußballmannschaft. Jetzt präsentiert sich den Zuschauern eine Ruine von Fußballelf, die auf rätselhafte Art und Weise Spiel auf Spiel verliert.

Vier Spieltage vor Saisonschluss steht Bayer Leverkusen auf einem Abstiegsplatz, der bevorstehende Gang in die Zweite Liga wäre ein beispielloser Absturz in der europäischen Fußballgeschichte. Und angesichts des desaströsen Zustandes der Elf mag keiner so recht an eine Rettung in letzter Minute glauben.

Der Plot dieser Fußballfabel begann im Mai 2001, als Klaus Toppmöller seinen glücklosen Vorgänger Berti Vogts ablöste. Es ist lange in Vergessenheit geraten, wie sich die Mannschaft seinerzeit im letzten Ligaspiel gegen den VfL Bochum zur Champions-League-Qualifikation quälte und so die Basis zur späteren Erfolgsstory legte. Damals wurde diese Mannschaft von den eigenen Fans und der gesamten Liga verhöhnt und ausgelacht. Dieses Team war organisch tot, es entsprach vollends dem Klischee des Werksklubs, das sich so genannte Söldner hielt, um auf diese Art und Weise zu preiswerten Werbezeiten zu kommen.

Im ersten Akt schon machte Toppmöller, der sich selbst für einen Fußballromantiker hält, nun Unmögliches möglich. Er reanimierte dieses leblose Gebilde, indem er die Spieler an der Ehre packte, er motivierte phlegmatische Kicker, es den Kritikern endlich zu zeigen. Und sie starteten daraufhin in der Liga mit einem Rekord: 36 Punkte in 14 Spielen ohne Niederlage. Im November 2001 war Bayer Leverkusen, davon gingen beinahe alle Beobachter aus, auf dem Weg zum nationalen Titel. Gleichzeitig überstand das Team ohne Probleme die erste Phase der Champions League.

Auch der zweite Akt des Mirakels war zurückzuführen auf die Kränkung durch das Fußball-Establishment, nun aber auf der europäischen Ebene. Wer sah, wie Toppmöller nach der verheerenden 0:4-Niederlage in Turin reagierte, nach der Juve-Trainer Marcelo Lippi sich überrascht von der Leichtigkeit des Sieges gegen Leverkusen gezeigt hatte, der bekam einen Eindruck davon, wie sehr dies den Stolz des deutschen Coachs verletzte, wie gern er es dem etablierten Italiener zeigen wollte. Der anschließende 3:1-Heimerfolg gegen Juventus jedenfalls darf im Nachhinein als Schlüsselszene in diesem zweiten Akt betrachtet werden. Hier nämlich blitzte erstmals die Spielkultur auf, mit der Leverkusen späterhin ganz Fußballeuropa begeistern sollte: die genialen Pässe von Bastürk und Zé Roberto, mit welchen die gegnerischen Verteidigungswälle umspielt wurden und welche die anschließenden Tore als profan erschienen ließen.

Am Ende dieser Phase war es ein Rausch, und Toppmöller hatte mit seiner Idee des variantenreichen Kurzpass-Spiels den lange nicht mehr geführten Beweis erbracht, dass der moderne Fußball auch ohne Schablone erfolgreich sein kann, dass er keine käufliche Fabrikware ist, sondern ein Spiel, das Fantasie erfordert und Intuition. In den Partien gegen Liverpool und Manchester kulminierte diese romantische Story, diese betörenden Fußballfeste waren die Klimax. Dass sich Toppmöller in dieser Zeit verhielt wie ein kleines Kind, dass er sich freute auf die von Mythen umrankten Spielstätten Anfield, Old Trafford und Hampden – wer wollte ihm das übel nehmen, träumte doch jeder Fußballfan Toppmöllers Träume.

Der dritte Akt begann, als Leverkusen es trotz aller Sympathie und Begeisterung nicht fertig brachte, auch nur einen Titel einzufahren. Der Beginn des Absturzes ist auch rückblickend nicht leicht zu verorten: War es die Knieverletzung Nowotnys im Rückspiel gegen Manchester? War es jener Moment gegen Bremen, als das Team mit ungebremster Wucht die Meisterschaft vorzeitig klar machen wollte und planlos in den entscheidenden Konter zur 1:2-Niederlage lief? Oder war es erst die klägliche 0:1-Niederlage in Nürnberg?

Auch der Fall einer großen Fußballelf verlief also schnell und doch irgendwie schleichend. Fakt war: Am Ende der letzten Saison gewann Leverkusen von den verbleibenden acht Spielen nur noch eines. Dieses letzte Heimspiel gegen Hertha BSC, es war schon ohne Bedeutung.

Als Toppmöller im August 2002 zum deutschen »Trainer des Jahres« gewählt wurde und nun zu den besten drei in Europa gezählt wurde, befand sich sein Team also schon auf dieser Talfahrt, die kein Ende zu nehmen scheint. Der erste Höhepunkt war die 2:6-Hinrichtung bei Olympiakós Piräus, dort offenbarte sich das erste Mal das Grundproblem der neuen Saison: dass sich dieses Team immer noch als zweitbestes in Europa betrachtete, und vor allem: dass nun alle Gegner, auch die deutschen, die Schönspielerei dieses zweitbesten Teams zu zerstören trachteten.

Toppmöller scheiterte daran, diese Arroganz und Überheblichkeit aus den Köpfen seiner Spieler zu vertreiben; noch am Ende der Rückrunde prophezeite Kapitän Jens Nowotny eine sensationelle Frühjahrsform und rechnete mit der erneuten Vizemeisterschaft. Auch er hatte nicht erkannt, dass das Team mit Michael Ballack und Zé Roberto die beiden zentralen Figuren des Offensivfußballs verloren hatte, die von den Neuzugängen Simak, Franca oder Bierofka nie ersetzt werden konnten. Spätestens nach den Verletzungen von Nowotny und Weltmeister Lucio war das einst homogene Gebilde vollends zu einem Team aus Mitläufern mutiert.

Auch die zuletzt hektischen, fast panischen Aktivitäten des Managements um den volkstümlichen Rheinländer Reiner Calmund, der den Verein seit 1986 führt, änderten nichts an diesem Grundproblem. Weder der nach der viel zu späten Toppmöller-Entlassung verpflichtete, stets hölzern wirkende Interimstrainer Thomas Hörster brachte die entscheidende Wende noch der überraschend bis 2007 verpflichtete Sportdirektor Jürgen Kohler, dessen gute Laune nach einem Anfangssieg gegen Hertha BSC bald verflog.

Kürzlich drohte gar der Fußballrentner und ungekrönte Stammtischkönig Udo Lattek mit vermeintlich guten Ratschlägen für Kohler & Co. Aber so tief sind sie dann doch noch nicht gesunken in Leverkusen. Noch also gibt es Hoffnung, aber die stirbt ja bekanntlich zuletzt im Fußball.