Zeit des Erwachens

Auf die 68er-Bewegung reagierte die mexikanische Regierung mit einem schmutzigen Krieg. Doch viele Aktivisten integrierten sich erfolgreich in das politische System. von wolf-dieter vogel, mexiko-stadt

Alles ist Tlatelolco, alles andere ist Beiwerk«, meint der mexikanische Autor Paco Ignacio Taibo II. Spricht man in Mexiko-Stadt über die 68er-Bewegung, dann fällt zunächst der Name jenes Ortes, an dem am 2. Oktober 1968 mehrere hundert Studierende von Militärs erschossen wurden: Tlatelolco, Platz der drei Kulturen.

Wer weiter fragt, stößt auf ein Massaker der regierungsnahen Gruppe Halcones, dem auf einer Demonstration am 10. Juni 1971 zwischen zwölf und 50 Menschen zum Opfer fielen. Schließlich endet man beim Guerra Sucia, dem schmutzigen Krieg der Regierung in den siebziger Jahren. Wie viele mutmaßliche Militante in dieser Zeit in den Kerkern der Armee gefoltert wurden oder für immer verschwanden, weiß heute noch niemand genau.

In der mexikanischen Diskussion stehen diese Verbrechen im Vordergrund, nicht zuletzt weil die Regierung des Präsidenten Vicente Fox zur Aufklärung der Taten eine »Sonderstaatsanwaltschaft für soziale und politische Bewegungen in der Vergangenheit« ins Leben gerufen hat. Doch trotz des Traumas, das in der Linken noch immer seine Wirkung tut, steht die 68er-Bewegung für den Aufbruch in ein neues Zeitalter.

»Es war wie ein großes Erwachen, es war die Zeit der neuen Verbindungen zu Europa und den USA«, erinnert sich der Soziologieprofessor Sergio Zermeño. »Wir sind uns bewusst geworden, dass wir in einer isolierten Blase leben.« Und dann zählt er auf: das italienische und das französische Kino, der Pariser Mai, Bob Dylan, Martin Luther King und Black Power, die chinesische Kulturrevolution, der Prager Frühling, der Vietnamkrieg. Das Jahr 1968, ergänzt Taibo, »hat uns in einem Land der Unterwerfung stur bleiben lassen, es hat uns das ›Nein, scheißegal, was passiert‹ in den Mund gelegt.«

Hundert Tage lang hielten Studenten die Nationale Universität von Mexiko-Stadt (Unam) besetzt. Auch in anderen Universitäten der Hauptstadt gärte es. Es war die Zeit der Matratzenlager, der kollektiven Küchen, der Demonstrationen und des Unam-Streikkomitees CNH. Viele der später entstandenen Organisationen der Linken gingen aus diesem Consejo Nacional de Huelga hervor.

»Das Komitee ähnelte eher einem Obersten Sowjet als einem liberalen Parlament«, sagt der heutige Unam-Professor Zermeño. Um »unser Land« von Ausbeutung, Repression und Elend zu befreien, müsse man »Studenten, Arbeiter, Bauern, Angestellte, eben das ganze Volk« aktivieren, schrieb der CNH in seinem Programm. Von einer einheitlichen Linie konnte freilich keine Rede sein. Innerhalb des CNH entwickelten sich im Wesentlichen zwei Tendenzen: eine, die sich dem Aufbau der kommunistischen Avantgarde verschrieben hatte, und eine zweite, die auf Demokratisierung von unten setzte.

»Demokratie« war zu einem Kampfbegriff geworden. Schließlich führte seit knapp 40 Jahren die Staatspartei PRI ein Regime, das totalitäre Züge trug. Auf der Grundlage skrupelloser Korruption verknüpfte das korporatistische System Unternehmer, Militärs, Gewerkschaften und soziale Organisationen. »Es scheint, als sei es damals weniger subversiv gewesen, für den Sozialismus zu kämpfen als für die Demokratie«, meint der Ex-Aktivist Salvador Martínez della Rocca, den alle Pino nennen. Ein solcher Staat konnte es sich nicht erlauben, »dass sich Strukturen entwickeln, die sich nicht in die Institutionen einbinden lassen«.

Damit erklärt sich Pino das harte Vorgehen gegen die Studenten. Am 18. September räumten 10 000 Soldaten die besetzte Unam. Zwei Wochen später folgte das Massaker von Tlatelolco. Hunderttausende waren auf die Straße gegangen, um gegen die Räumung und für die Freilassung politischer Gefangener zu demonstrieren. Plötzlich eröffnete das Batallón Olimpia, eine Spezialeinheit der Regierung, aus einem Haus heraus das Feuer. Militärs schossen zurück und ermordeten mehrere Hundert demonstrierende Studenten. Man wollte die Bewegung klein kriegen, schließlich sollten wenige Tage später in Mexiko-Stadt die Olympischen Spiele beginnen. Und das Sportereignis war für den Präsidenten Díaz Ortaz seine internationale Präsentation schlechthin.

»Nach dem Massaker vom 2. Oktober und spätestens nach den weiteren Todesfällen am 10. Juni 1971 sagten sich viele, dass der legale Kampf in Mexiko beendet sei«, erinnert sich Pino. Zahlreiche Aktivisten verließen damals die Stadt und organisierten marxistisch-leninistische Guerillaeinheiten. Es entstanden unter anderen der Movimiento de Acción Revolucionaría (MAR), die Liga 23 de Septiembre und nicht zuletzt die Fuerzas de Liberación Nacional (FLN), aus der 15 Jahre später das Zapatistische Befreiungsheer (EZLN) hervorging.

Auch zahlreiche maoistische und der katholischen Befreiungstheologie nahe stehende Gruppen zog es aufs Land, um unten, an der bäuerlichen Basis zu arbeiten. Wieder andere konzentrierten sich auf den Aufbau unabhängiger Gewerkschaften oder kämpften für die Legalisierung einer Kommunistischen Partei. Bei vielen, so der Soziologe Zermeño, »dominierte das Element der radikalen Konfrontation«.

Doch das sollte sich im Laufe der siebziger Jahre ändern. Zwar ging der damalige Präsident Luis Echeverría im Rahmen des Guerra Sucía mit aller Härte gegen die Guerilla vor. Auf der anderen Seite lockte die Regierung mit integrativen Angeboten. Für Zermeño ist es geradezu beindruckend, wie es die PRI immer wieder geschafft hat, Teile der Bewegung aufzusaugen. So etwa die Maoisten. Der spätere PRI-Präsident Carlos Salinas de Gortari hatte maoistischen Kadern, die er aus Studienzeiten in Europa kannte, finanzielle Unterstützung für ihre Projekte angeboten. Für die Revolutionäre bot sich dadurch die Möglichkeit, den Bauern konkrete Erfolge vorweisen zu können.

Der Deal funktionierte. Als Salinas 1988 durch offensichtlichen Wahlbetrug das Präsidentenamt übernahm, liefen zahlreiche ländliche Hilfsprogramme der Regierung über Strukturen, die zuvor die Maoisten aufgebaut hatten. Einige der alten Kämpfer besetzen heute wichtige Posten in der PRI. »Ausgerechnet diese Leute«, kommentiert Zermeño, »die großen Wert auf horizontale Organisierung gelegt haben, sind nun an der Spitze der Pyramide gelandet«.

Fast genauso weit haben es zahlreiche Funktionäre trotzkistischer und kommunistischer Organisationen gebracht. Ende der siebziger Jahre begann eine Phase der Legalisierung dieser Organisationen, die schließlich in der Gründung der linksdemokratischen PRD mündete. Seit zwei Legislaturperioden stellt die Partei die Regierung von Mexiko-Stadt. Teilweise in Abgrenzung zur PRD, teilweise in ihrer Nähe haben sich auch die unabhängigen Gewerkschaften und Bauernorganisationen angesiedelt. Sie ließen in den letzten Monaten vor allem durch ihre großen Mobilisierungen gegen den Nordamerikanischen Freihandelsvertrag (Nafta) und die Privatisierung der Energieindustrie von sich hören.

Was die anderen alten 68er machen? Einer sitzt im südmexikanischen Regenwald und ist Subkommandant einer Organisation, die sich gelegentlich als einzige »postmoderne Guerilla« der Welt beschimpfen lassen muss. Ein anderer, Jorge Castañeda, war bis vor kurzem Außenminister der Regierung des konservativ-liberalen PAN. Der aggressivste, den der mexikanische Staat je erlebt hat.