Der das Verlieren gelernt hat

Am Samstag geht mit dem Kampf gegen Thomas Ulrich die große Karriere des Berufsboxers Graciano Rocchigiani zu Ende. von martin krauss

Am 10. Mai dürfte seine Karriere eigentlich endgültig vorbei sein. Dann steigt Graciano Rocchigiani in Stuttgart in den Ring. Dort boxt er um irgendwas und gegen irgendwen. Das Was ist ein sportlich unwichtiger Titel. Der Wer ist Thomas Ulrich, der mal als Talent im Halbschwergewicht galt, aber so oft verloren hat, wie ein Talent in Deutschland nicht verlieren darf.

Graciano Rocchigiani hat fünfmal in seinem Leben verloren: einmal gegen den Briten Chris Eubank, zweimal gegen Henry Maske, zweimal gegen Dariusz Michalczewski. Mindestens drei dieser fünf Niederlagen sind, sagen wir: umstritten. Zweimal wird Rocchigiani Weltmeister: 1988/89 im Supermittelgewicht des Verbandes IBF und von 1998 bis zu einem Zeitpunkt, den niemand so genau kennt, im Halbschwergewicht des Verbandes WBC.

1963 wird Graciano Rocchigiani in Duisburg-Rheinhausen geboren, elf Monate nach seinem Bruder Ralf. Der Vater ist ein sardischer Eisenbieger, mittlerweile Frührentner, die Mutter ist Deutsche. Die Familie zieht bald nach Berlin um, und in Schöneberg wachsen die Brüder auf. Boxen lernen sie bei den Sportfreunden Neukölln. Unter dem Stichwort »Berufsbildung« findet sich bei Graciano bis heute dies: abgebrochene Realschulausbildung, abgebrochene Lehre als Glas- und Gebäudereiniger.

Schon sehr früh, bereits 1983, werden die Brüder Rocchigani Profis. Mit dem Deutschen Amateurboxverband überwerfen sie sich, denn er vermittelt ihnen keine Arbeitsstellen.

Wilfried Sauerland, Boxunternehmer aus Wuppertal, der bis dahin sein Geld mit der Betreuung afrikanischer Profis verdient, vergrößert gerade seinen Boxstall. Graciano wechselt dorthin, 15 000 Mark Handgeld und ein monatliches Bruttogehalt von 3 000 Mark sind seine ersten Einkünfte. Die Frankfurter Allgemeine schreibt damals, er sei »exakt der Typ, der schon immer die schillernde Profiszene beherrschte, ein Athlet, der auf Biegen und Brechen Emotionen weckt«.

1987 liefern sich die Brüder vor einer Kudamm-Diskothek eine Schägerei: sieben Polizisten schlagen sie k.o., der Spaß kostet 20 000 Mark Geldstrafe.

Vorher fällt Graciano auch schon auf, als er in der Annahme, er sei in der Führerscheinprüfung durchgefalllen, seinen Prüfer auf den Kopf schlägt.

Am 11. März 1988 überträgt der noch junge TV-Sender RTL aus Düsseldorf Rocchigianis WM-Sieg im Supermittelgewicht. Die Börse beträgt 100 000 Mark. Ein paar Mal verteidigt Rocchigiani, von Freunden »Gratze« und von Fans »Rocky« gerufen, seinen Titel, und sorgt im Januar 1989 sogar für ein Politikum. Er boxt in Berlin gegen den schwarzen Südafrikaner Thulane »Sugar Boy« Malinga, und das Fernsehen des Apartheidregimes zahlt unüblich hohe Summen, um den Kampf zu übertragen und so Werbung für das international boykottierte Land zu machen.

1989 kommt dann die Anzeige einer Prostituierten. Zuhälterei, Erpressung und Menschenhandel werden Rocchigiani vorgeworfen, in erster Instanz wird er zu einer 30monatigen Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt. Kommentar seiner Mutter: »Dazu ist der Junge doch viel zu doof.« In zweiter Instanz wird Rocchigiani wegen erwiesener Unschuld freigesprochen.

Die Affäre zeigt aber auch, dass Rocchigiani aus der Bahn geraten ist. Ende der Achtziger machen ihm Drogenprobleme zu schaffen, und seinen Weltmeistertitel gibt er wegen Gewichtsproblemen kampflos ab.

»Boxen ist mir scheißegal«, verkündet er. »Was braucht der Mensch außer Glotze gucken, n’ bisschen bumsen, n’ bisschen Anerkennung?«

Sein Management tobt. »Kuchenfresserei, Biersaufen, Bacarditrinken«, wirft man ihm vor und Wilfried Sauerland sagt: »Er trinkt, er raucht – und nicht nur Zigaretten.«

1991 lernt Rocchigiani in einer Kneipe seine spätere Frau Christine kennen, die dort als Bedienung arbeitet. »Ohne sie hätte ich den Anschluss nicht mehr geschafft«, sagt er später. Und auch heute noch, obwohl die Scheidung läuft, hält er an Christine als Managerin fest.

Spätestens 1993 ist die private und boxerische Krise überwunden. Die ganz große Zeit des Graciano Rocchigiani beginnt, auch wenn er selbst nur selten im Mittelpunkt steht.

RTL baut lieber den ostdeutschen Olympiasieger Henry Maske zum als »Gentleman« vermarkteten Star auf. Zunächst firmiert Rocchigiani noch als Hauptkämpfer bei Sauerlands Veranstaltungen, aber er bemerkt die Bedrohung durch den smarten Oberleutnant der Nationalen Volksarmee schon früh. »Maskes Probleme interessieren mich nicht«, keift er 1990 nach einem Sieg in Berlin, »ich habe selber genug.«

Die Verhandlungen über einen Kampf zwischen Maske und Rocchigiani scheitern meist, auch überwirft sich Rocky mit Sauerland und heuert bei dessen Konkurrenten Klaus-Peter Kohl an, der gerade mit Dariusz Michalczewski einen anderen Weltklasse-Halbschwergewichtler aufbaut.

Rocchigiani aber erhält seine Chancen: im Februar 1994 einen WM-Kampf, wieder im von ihm ungeliebten Supermittelgewicht, gegen Chris Eubank, den er mehr als umstritten verliert. Und im Dezember 1994 einen Europameisterschaftskampf gegen den Franzosen Frederic Seillier, der unentschieden endet.

Im Mai 1995 kommt es in Dortmund endlich zum Kampf gegen Maske. »Wenn ick Leute auf der Straße reden höre«, sagt Rocchigiani, »heißt es entweder: ›Hau dem Wessi auf die Schnauze‹ oder ›Hau dem Ossi auf die Schnauze‹.« Maske will souverän antworten: »Diese Problematik sehe ich nicht so«. Aber Rocchigiani kontert: »Det Volk sieht det so, det is nun mal so.«

13 Millionen RTL-Zuschauer sehen, wie Rocchigiani Maske am Rande des K.o. hat, wie Maske nur noch torkelt, wie Maske in der zwölften Runde sogar zu Boden geht, und wie Maske letztlich doch zum Punktsieger erklärt wird.

Rocchigiani schimpft über Betrug, seinen Gegner verachtet er: »Anpassung, det Fach hat der Typ doch studiert.«

RTL veranstaltet noch einen Rückkampf – »Eine Frage der Ehre II«, gesehen von 17,6 Millionen Zuschauern –, aber den verliert der Berliner, der sich in der Rolle des working class hero präsentiert, eindeutig.

Als nächstes steht die Auseinandersetzung mit Dariusz Michalczewski an. Im August 1996 boxen sie im Millerntorstadion in Hamburg. Es wird ein Skandalkampf: In der siebten Runde schlägt Rocchigiani, der zu diesem Zeitpunkt bei allen Kampfrichtern deutlich führt, nach einem Breakkommando einen linken Haken. Michalczewski torkelt, hält sich an den Ringseilen fest und fällt auf den Boden. Der Ringrichter bricht ab, das Punktgericht verkündet nach einer viertelstündigen Auswertung der TV-Bilder ein »technisches Unentschieden«, was es in den Regeln gar nicht gibt. Etliche Tage später wird Rocchigiani disqualifiziert, Michalczewski bleibt Weltmeister des Verbandes WBO. Rocchigiani spricht wieder von Betrug.

Zu einem Rückkampf kommt es erst im April 2000 in Hannover, auch er wird ein Medienereignis. Auszug aus der Pressekonferenz:

»Michalczewski: Ich muss sagen, dass Graciano froh sein muss, dass ich noch Weltmeister bin. Sonst hätte er noch früher ohne diesen Kampf in Rente gehen müssen.

Rocchigiani: Ich hätte dich schon einmal in Rente geschickt, bloß da hat man mir ja einen Strich durch die Rechnung gemacht. Du kannst froh sein, dass ich überhaupt gegen dich box’.

Michalczewski: Ich meine, sonst hättest du wahrscheinlich zum Arbeitsamt gehen müssen.

Rocchigiani: Ach, weeste, es gibt … du, Dariusz …

Michalczewski: Aber Graciano, du, das ist wahr …

Rocchigiani: Es gibt dumme Deutsche und es gibt schlaue Deutsche. Und es gibt schlaue Polen, aber Du bist ein dummer Pole! Was du für einen Mist quatschst hier …«

Im Kampf gibt Rocchigiani auf. »Ich bin satt«, lautet seine Begründung.

Schon da hat er abgeschlossen mit dem Boxen. Denn sein größter Triumph, zwei Jahre zuvor, stellt sich schon schnell als seine größte Demütigung heraus. Im März 1998 siegt er in Berlin über den Amerikaner Michael Nunn und wird WBC-Weltmeister im Halbschwergewicht. Der Verband ernennt aber einfach den in den USA bekannteren Boxer Roy Jones Jr. zum Champion und macht aus Rocchigiani einen »Interims-Weltmeister«.

Der Berliner klagt gegen die WBC, bekommt sogar Recht und 31 Millionen Dollar zugesprochen. Aber die Tipps seines Anwaltes, sich auf einen Vergleich zu einigen, ignoriert er. Rocky will die volle Summe. Die WBC meldet Konkurs an, und nun droht Rocchigiani, dass er gar nichts mehr bekommt.

Den Prozess gegen die WBC muss Rocchigiani vom Knast aus führen, denn so ganz gefestigt ist er in den späten Neunzigern nie: 1997 wird er zu acht Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, weil er bei einer Verkehrskontrolle einen Polizisten angefahren hat. 1998 gibt es vier Monate, wieder auf Bewährung, wegen Fahrens ohne Führerschein und mit überhöhter Geschwindigkeit. Und danach noch mal vier Monate, noch einmal auf Bewährung, weil er in Wien einem Hausmeister die Nase gebrochen hat, denn: »Der hatte meinen Husky beleidigt.« Im November 2000 am Timmendorfer Strand steuert er volltrunken ein Auto in den Straßengraben und kassiert 25 000 Mark Strafe. Doch als er im Dezember 2001 völlig besoffen in einem fremden Auto gefunden wird und sich gleich mit neun Polizisten prügelt, da ist die Zeit seiner Bewährung endgültig abgelaufen: ein Jahr Haft wegen Körperverletzung und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte. Nachdem er zwei Drittel abgesessen hat, kommt er raus. Das Verlieren hat er in diesem Leben wirklich gelernt.

Am Samstag boxt Graciano Rocchigiani zum ersten Mal seit 25 Monaten wieder. Er ist 39 Jahre alt.