Die Familienhölle heilen

Trotz erzkonservativer Aussagen verkaufen sich die Lehren des Psychoanalytikers Bert Hellinger bestens. Neuerdings will der Guru ganze Nationen therapieren. von colin goldner

Seit mehr als zehn Jahren gilt er als absoluter »Superstar« der Therapieszene: Anton »Bert« Hellinger, mittlerweile 77jähriger ehemaliger Missionar eines völlig unbedeutenden, dafür umso katholischeren Heilsverkünderordens, der in den fünfziger und sechziger Jahren von der fränkischen Provinz aus den Zulu Südafrikas das Wort des Herrn beibog. Ende der sechziger Jahre verließ Hellinger seinen Orden, seinen Ordensnamen Suitbert nahm er als »Bert« in sein neues bürgerliches Leben mit. Hinfort wirkte er als Psychoanalytiker, die Befähigung und Befugnis dazu erteilte er sich weitgehend selbst.

Szenebekannt wurde Hellinger allerdings erst Anfang der neunziger Jahre, als er begann, in großem Stile seine so genannten »Familienaufstellungen« durchzuführen, esoterisch durchwaberte Laienspielinszenierungen, die mit seriöser Familientherapie, wie sie von Virginia Satir oder Mara Selvini Palazzoli begründet wurde, so viel zu tun haben wie das Erstellen eines astrologischen Horoskops mit Astronomie. Nämlich gar nichts.

Hellingers Weltbild, dem seine vorgeblich systemische »Therapiearbeit« entspringt, ist ebenso einfältig wie reaktionär. In jedem Sozialgefüge – Volksgruppe, Sippe, Familie – gebe es eine natürliche »Ordnung«, in die jedes Mitglied sich widerspruchslos einzufügen habe. Grundsätzlich habe der Mann Vorrang vor der Frau, das Erstgeborene Vorrang vor dem Zweitgeborenen. Werde gegen diese »Ordnung« verstoßen, so werde innerhalb des Systems ein Mitglied krank. Die Krankheit befalle indes nicht notwendigerweise die Person, die sich ordnungswidrig verhalten habe, sondern einen beliebigen Symptomträger. Selbst spätere Generationen könnten betroffen werden. Man könne sozusagen »bis ins siebte Glied« für die Schicksalsverweigerung eines Ahnen »bezahlen« müssen. Wenn die Familien- bzw. Sippenverstrickungen aufgelöst würden, könne der Betroffene gesunden. Derlei Entstrickung erfolgt nach Hellinger über die Aufstellung sämtlicher Beteiligten – auch und gerade der längst Verstorbenen – durch sogenannte Stellvertreter. Aus der Teilnehmergruppe werden einzelne Personen ausgewählt und gebeten, ein Familienmitglied des Ratsuchenden darzustellen. Sobald ihnen ihre jeweilige Rolle zugewiesen sei, träten sie, so Hellinger, in Kontakt zu einem »wissenden Feld«, das ihnen authentischen Zugang zu den Gedanken und Gefühlen der von ihnen repräsentierten Personen gewährt. Durch räumliche Umgruppierung der Stellvertreter im Verhältnis zueinander und das Nachsprechen ritueller Ordnungssätze – »Du bist groß und ich bin klein« – werde die rechte Ordnung wiederhergestellt, was zur Heilung des jeweiligen Symptomträgers führe.

Es ist keineswegs das Publikum von Esoterikjahrmärkten und PSI-Tagen, das Hellinger zu Füßen liegt – Veranstaltungen mit 1 000 und mehr TeilnehmerInnen sind keine Seltenheit –, vielmehr finden sich unter seinen Anhängern erstaunlich viele, die es qua Hochschulbildung durchaus besser wissen könnten. Leute, über die man zunächst ungläubig den Kopf schüttelt angesichts der völligen Kritiklosigkeit, mit der sie selbst den hanebüchensten Unsinn Hellingers praktizieren, ganz zu schweigen von den ultrareaktionären Ansichten, die er vertritt. Es ist ganz so, als hätten sie nie von Studenten-, Frauen- und Friedensbewegung gehört, als seien sie nie von Kritischer Theorie und Ideologiekritik angeflogen worden.

Was, so fragt man sich mit einiger Bestürzung, begründet bei diesen heute zwischen 55- und 60jährigen akademisch gebildeten Menschen, viele Sozial- und Geisteswissenschaftler darunter, die das Gros der engeren Anhängerschaft Hellingers ausmachen, diese kollektive und komplette Amnesie gegenüber den eigenen kritischen Lernprozessen? So dass sie in der Lage sind, Ideen und Praktiken in die Welt zu tragen, die einem aufgeklärten, humanistischen, emanzipatorischen Bewusstsein schlechterdings unzumutbar erscheinen müssen? Die selbst durchschnittlicher Intelligenz schlicht Beleidigung sind?

Auch der Internationale Hellingerianer-Kongress, der letzte Woche in Würzburg über die Bühne ging, gab keine zufrieden stellende Antwort. Fast einhundert akademisch teils hochrangige ReferentInnen mühten sich nach Kräften, den ewig gestrigen Geist Hellingers zu verbreiten, den dieser aus jeder Masche seines ewiggleichen Wollüberziehers hervormüffelt. Kritische Stimmen sucht man vergeblich, auch wenn das Kongressthema großspurig angekündigt hatte: »Leidenschaft und Verantwortung: Im Herzen von Konflikten«. Auf einer eigens eingerichteten Fragestunde »Was ich schon immer einmal wissen und sagen wollte« wurden vorbereitete Stichworte fürs Podium geliefert, die von Hellinger oder einem seiner Getreuen ebenso langatmig wie humorlos beantwortet wurden. »Ernsthaftigkeit« war denn auch der meistgebrauchte Begriff des gesamten Treffens. Sei etwas nicht »ernsthaft« genug, nehme es »Kraft weg«. Wovon? Egal. Tunlichst suchten Referenten wie Teilnehmer entsprechend »ernsthaft« dreinzuschauen. Niemand lachte. Nur Hellinger selbst griente blasiert vom Podium und von den Deckeln seiner zahllosen Bücher.

Der hellblaue Strickpullover, den Bruder Suitbert trägt, soll offenkundig – bei Eugen Drewermann funktioniert es ähnlich – die eigene Bedürfnislosigkeit demonstrieren. Wie weit es mit der Bescheidenheit Hellingers tatsächlich her ist, steht freilich auf einem anderen Blatt. Bei einer Gebühr von 450 Euro pro Teilnehmer allein für den Würzburger Kongress dürfte das ein oder andere Scherflein schon bei ihm hängen bleiben.

Längst indes sind es nicht mehr nur »Familienmitglieder« und »Ahnen«, die Hellinger auf der Bühne versammelt. Mittlerweile heilt er ganze Völker, Nationen und Staaten. Ein Teilnehmer aus dem Publikum steht für Israel, ein anderer für Palästina, einer für den Irak, einer für die USA. Gerne stellt er »Nazi-Deutschland« auf, dazu »die Juden im Dritten Reich«. Auch BRD und DDR. Und all die aufgestellten Stellvertreter, so Hellinger, denken und fühlen, angeschlossen an das universelle »wissende Feld«, exakt wie die von ihnen repräsentierte Nation oder Gruppe. Und alle, alle fallen sich am Ende seiner Inszenierungen tränenüberströmt in die Arme. Was, so Hellinger, unmittelbaren und nachweislichen Einfluss habe auf die repräsentierten Individuen und Systeme. US-Präsident George W. Bush versöhnt sich bei Hellinger mit Usama bin Laden, selbstredend auch mit Saddam Hussein. Denn »plötzlich werden sie sich inne, dass sie alle in der Hand von Kräften sind, die über sie hinausreichen, die Opfer und die Täter. Beide erkennen: Sie stehen im Dienst von etwas Größerem, dem sie völlig ausgeliefert sind, jenseits ihrer Absichten oder ihrer Ängste oder ihrer Hoffnungen und Pläne.« Auch Allah, Jahwe und den Gott der Christen hat Hellinger schon aufgestellt und miteinander versöhnt.

Kein Wunder im Übrigen, dass auch die Anthroposophen auf dem Würzburger Kongress vertreten waren. Längst hat man unter den Anhängern Rudolf Steiners die große Liebe zu Bert Hellinger entdeckt, dessen reaktionäres Ideengebäude aufs Frappierendste jenem gleicht, das Steiner der Welt hinterlassen hat. Selbst die verquaste Sprache, deren Hellinger sich gerne bedient, ist der Steiners höchst ähnlich. Glaubte man an Reinkarnation, wie die Anthroposophen es tun, könnte man fast meinen, Steiner, gestorben im März 1925, sei in Hellinger, zur Welt gekommen im selben Jahr just neun Monate später, leibhaftig wiedererstanden. Nur Steiners schwarzseidene Halsschleifen fehlen bei Hellinger.

Colin Goldner ist Herausgeber des kürzlich erschienenen Buchs: Der Wille zum Schicksal. Die Heilslehre des Bert Hellinger. Carl-Ueberreuter-Verlag, Wien 2003, 300 S., 22,95 Euro