»Mit einem Vorschlaghammer dem Leser eins in die Fresse«

James Ellroys »Underworld USA« | Joachim Körber

»Es sieht ganz so aus, als würde man umso beliebter, je mehr man in diesem Job versaut«, soll John F. Kennedy, Pop-Star und 35. Präsident der USA, nach der aus seiner Sicht »versauten« Geheimdienstaktion in der kubanischen Bahía de los Cochinos gesagt haben. Zwei Jahre später schossen ihn Attentäter im texanischen Dallas aus dem Amt, und es hält sich das Gerücht, dass auch hier CIA, FBI und Konsorten die Finger im Spiel hatten. Der Schriftsteller James Ellroy durchschreitet in seinem Romanzyklus »Underworld USA« die Abgründe des Mythos von Aufbruch und »New Frontier«, der sich bis heute mit der Ära Kennedys verbindet.

»Geschichte, Mr. Hammett, ist das, was man nicht sieht.«Richard Flanagan, Goulds Buch der Fische

»Eines Tages wird die Menschheit zurückblicken und sagen, dass ich das 20. Jahrhundert eingeläutet habe«, legen die Drehbuchautoren Terry Hayes und Rafael Yglesias dem Serienmörder Jack the Ripper in Albert und Allen Hughes’ Verfilmung von Alan Moores Comic From Hell als prophetischen Ausblick in den Mund. Vergegenwärtigt man sich, wie Schriftsteller und Filmemacher versucht haben, das zwanzigste Jahrhundert künstlerisch zu verarbeiten, fällt auf, dass, bei aller Vielfalt der Interpretationen und Ausdrucksformen, in den meisten Fällen Gewalt das Leitmotiv ist. Der britische Autor J.G. Ballard, der wie kein zweiter Schriftsteller die Ikonographie dieser Epoche ausleuchtet und dessen Werk nach wie vor größte Relevanz für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg besitzt, sieht den Königs- oder Präsidentenmord als zentrale Metapher – besonders die Ermordung Kennedys behandelt er immer wieder fast obsessiv in klassischen Kurzgeschichten, aber auch in den avantgardistischen Versuchen seiner condensed novels aus den späten sechziger Jahren. Tatsächlich hat das zwanzigste Jahrhundert Gewalt in einem bis dahin nie gekannten Ausmaß erlebt – einerseits als kollektive, »staatlich sanktionierte« Gewalt des Krieges und der Vernichtung, andererseits aber auch als unkontrollierte Gewalt des gerade nach dem Zweiten Weltkrieg zur Pop-Ikone aufgestiegenen Serienkillers oder Massenmörders. Insofern ist es vielleicht angemessen, dass der berüchtigtste Serienmörder aller Zeiten sich als der Geburtshelfer dieses, wie Eric Hobsbawm es nannte, »Jahrhunderts der Extreme« bezeichnet.

Extreme Positionen

Möglicherweise aber wird man dereinst James Ellroy als den wahren Chronisten des zwanzigsten Jahrhunderts betrachten. Der 1948 geborene Ellroy, der zu Autorenlesungen stets seinen Pitbull mitbringt und sein Publikum mit Sprüchen wie »Na ihr Wichser, braucht ihr es mal wieder?« begrüßt, liebt große Gesten und inszeniert sich selbst wonnevoll als Inbegriff des hässlichen weißen »Underdogs«. In einem Interview mit dem Fernsehsender Arte äußert er sich zur eigenen Person: »Mein Ziel ist, mit einem Vorschlaghammer dem Leser eins in die Fresse zu hauen. Wäre ich ein Diktator, wäre ich Hitler; wäre ich eine Symphonie, wäre ich Beethovens Neunte; wäre ich ein Religionsführer, wäre ich Gott.« Solche nicht eben bescheidenen Äußerungen haben Ellroy zum Lieblingshassobjekt liberaler Feuilletonisten gemacht, beweisen jedoch nur eines: Als Schriftsteller hat Ellroy begriffen, dass man sich im von den Medien beherrschten »Jahrhundert der Extreme« nur dann Gehör verschaffen kann, wenn man extreme Positionen bezieht.

James Ellroy begann seine schriftstellerische Laufbahn 1981 mit dem vergleichsweise konventionellen Kriminalroman Brown’s Requiem. Ellroys Figuren leben, so Klaus-Peter Walter im Kritischen Lexikon der fremdsprachigen Gegenwartsliteratur, in »einer säkularen Hölle, deren Bewohner sich nur durch den Grad ihrer kriminellen Neigungen unterscheiden.« Schon in Brown’s Requiem betrachtet der Autor diese säkulare Hölle durch die Linse einer Kamera, deren Zoom in den folgenden Romanen immer weiter zurückfährt und den scharfen Fokus individueller Umtriebe aufgibt zugunsten von zunehmend komplexeren Sittengemälden der, so Klaus-Peter Walter weiter, »von Werte- und Konsensverlust, Sinnkrisen und irrationalen Ausbrüchen verunsicherten westlichen Gesellschaften, die einen Mörder wie Jack the Ripper in den Rang eines theurgischen, das heißt sinnstiftenden Heros zu erheben bereit sind.«

Der Kennedy-Clan und andere Ungeheuer

Nach einer Tetralogie über die Geschichte des Verbrechens in Los Angeles in den vierziger und fünfziger Jahren – der prominenteste Titel daraus ist der auch verfilmte Roman L.A. Confidential (1990) – beginnt Ellroy sein bislang ambitioniertestes Werk, den auf mehrere Bände angelegten Zyklus »Underworld USA«, dessen Bände American Tabloid (dt: Ein amerikanischer Thriller) (1995) und The Cold Six Thousand (dt: Ein amerikanischer Albtraum) (2001) vorliegen. Mit American Tabloid hat der Kamerazoom von Ellroys Monumentalwerk endgültig die gesamten Vereinigten Staaten erfasst. »Underworld USA« ist nicht weniger als der Versuch, die Geschichte Amerikas im zwanzigsten Jahrhundert aus einer anderen Perspektive als der darzustellen, die sich in den offiziellen Geschichtsbüchern wiederfindet. Und die »säkulare Hölle« der frühen Romane, die sich weitgehend auf die Stadt Los Angeles und deren durch und durch korruptes Polizeidezernat beschränkte, ist allgegenwärtig.

Dokufiktion. Der Autor wendet hier erstmals eine literarische Methode an, die er »Versimilitude« nennt, das heißt, er verschmilzt historische Fakten und eine fiktive Handlung mit (gleichermaßen echten wie erfundenen) Dokumenten zu einer Art von pseudohistorischem Roman, in dem die politischen Staaten- und Weltenlenker unter den Augen der Öffentlichkeit ihre Selbstinszenierungen ausleben, während hinter den Kulissen ganze Heerscharen von Kriminellen damit beschäftigt sind, deren Visionen zu weltgeschichtlicher Entwicklung zu formen. So entsteht das pynchoneske Szenario des Abbilds einer Gesellschaft von Politikern, Würdenträgern und Gesetzeshütern, unter deren Oberfläche, von der Öffentlichkeit unbemerkt, eine zweite, geheimbündlerische Anti-Gesellschaft der Kleinkriminellen, Zuhälter und Erpresser wirkt, wobei gerade die Polizisten häufig beiden angehören und mehr mit der Vertuschung eigener krimineller Aktivitäten beschäftigt sind als mit der Aufklärung der Verbrechen anderer.

Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer, und der unbedingte Wille zur politischen Einflussnahme gebiert Gewalt, das ist die einfache Formel, auf die man James Ellroys Philosophie bringen kann. Dargestellt wird das in American Tabloid und The Cold Six Thousand am Beispiel des Kennedy-Clans: American Tabloid beginnt 1958, als John F. Kennedy als Senator von Massachusetts nach der Präsidentschaft strebt, und endet 1963 in Dallas, wenige Minuten vor dem Attentat auf den Präsidenten. The Cold Six Thousand wiederum greift die Handlung genau da auf, wo sie im vorherigen Band des Zyklus endet, vor dem Attentat auf Kennedy, und spinnt die amerikanische Geschichte weiter bis ins Jahr 1968.

Eine Welt aus den Fugen

James Ellroys Welt ist gnadenlos zweidimensional. Bei allem enormen Umfang der Romane lässt die Dichte und Komplexität der Handlungsverläufe nur eines Buches – aus denen minder begabte Schriftsteller vermutlich ein ganzes Lebenswerk stricken würden – kaum Raum für eine psychologische Ausleuchtung der Protagonisten. Ellroys Figuren, die in einer fast unüberschaubaren Zahl Revue passieren, sind wenig mehr als Namensschilder, die der Autor über die gewaltigen strategischen Landkarten seiner Romanhandlungen verschiebt, die nur scheinbar fast unüberschaubar labyrinthisch verschlungen, in Wahrheit jedoch stringent durchdacht sind.

Als roter Faden zieht sich durch The Cold Six Thousand dabei in erster Linie der Kampf des FBI und seines Chefs J. Edgar Hoover gegen die Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King und ihre prominenten Befürworter. Hoover lässt kein Mittel aus, die Bewegung zu desavouieren: Prominente Anhänger Kings – darunter die Schauspieler Rock Hudson und Danny Kaye – werden bespitzelt und ihre liberalen Äußerungen wie ihre gleichgeschlechtlichen Kontakte minutiös vermerkt, um sie im homophoben, von Kommunistenhass geprägten politischen Klima der fünfziger und sechziger Jahre öffentlich in Misskredit zu bringen.

Hoover selbst bringt einen Film in Umlauf, der Martin Luther King beim Sex mit einer weißen Frau zeigt und den Wayne Tedrow senior gern in Anwesenheit seiner Ku-Klux-Klan-Freunde Wayne Tedrow junior vorführt, um seinen Sohn zu demütigen, der sich mit Martin Luther Kings Idealen identifiziert, was ihn freilich nicht daran hindert, King im Auftrag Hoovers für das FBI zu bespitzeln und Informationen zu sammeln, die ihn ans Messer liefern sollen.

Bei aller Zweidimensionalität gelingt es Ellroy mit solchen kurzen Episoden dann aber doch wieder, das ganze Ausmaß der seelischen Verkrüppelung seiner Helden plastisch zu machen und eine aus den Fugen geratene Welt durchgeknallter männlich-weißer Machtspiele zu schildern, in der wortkarge Männer tun, was sie glauben tun zu müssen. Positive Identifikationsfiguren gönnt der Autor seinen Lesern nicht, die Vertreter beider Seiten unterscheiden sich, wenn überhaupt, bestenfalls im Ausmaß ihrer Korruption. Selbst der von der amerikanischen Öffentlichkeit bis heute bewunderte John F. Kennedy wird zu einem sexbesessenen, entscheidungsunfähigen Jammerlappen. Eine Einschätzung freilich, mit der Ellroy nicht allein ist, man vergleiche dazu etwa Dan Simmons’ Hemingway-Thriller Fiesta in Havanna.

Der Romancier als Chronist. Mit seinem Zyklus »Underworld USA« unternimmt James Ellroy nicht weniger als den Versuch, amerikanische Geschichte neu zu imaginieren. Wobei The Cold Six Thousand erstmals die USA verlässt: Teile des Buches spielen in Vietnam, wo die CIA Heroin anbauen lässt, das vom Militär in die USA gebracht und (als Maßnahme eines Krieges, der in den Augen seiner Protagonisten jedes Mittel rechtfertigt) an die schwarze Bevölkerung verteilt wird. Ellroys Kamera zoomt auf den gesamten Planeten und findet im Makrokosmos Welt letztendlich immer nur dieselbe Korruption und Verrohung wie im Mikrokosmos Los Angeles.

James Ellroy wurde für seine Romane mit zahlreichen Preisen geehrt, sein Einfluss besonders auf das Genre des Kriminalromans ist immens. Seine wahre Bedeutung als Chronist des zwanzigsten Jahrhunderts aber ist noch nicht einmal ansatzweise erkannt worden. Ellroy mag mit seinem stakkatohaften Stil und seinen brutalen Formulierungen nicht der literarischste der amerikanischen Gegenwartsautoren sein, einer der bedeutendsten aber ist er in jedem Fall.

James Ellroy, Ein amerikanischer Thriller (American Tabloid), Hamburg 1996;

Ein amerikanischer Albtraum (The Cold Six Thousand), München 2002. Deutsch von Stephen Tree.

Joachim Körber ist Autor und Verleger phantastischer Literatur.